Braid07.08.2008, Jens Bischoff
Braid

Im Test:

Auf dem Independent Games Festival 2006 gewann Braid (ab 9,49€ bei kaufen) den Innovationspreis für Spieledesign. Seit gestern können 360-Besitzer den Titel über die Xbox Live Arcade beziehen, eine PC-Version soll ebenfalls noch in diesem Jahr erscheinen. Wir haben Protagonist Tim während seines genauso originellen wie charmanten Knobelmarathons auf den Spuren Super Marios begleitet und waren begeistert!

Prinzessin retten einmal anders

Ihr dirigiert - von sanften Violinenklängen begleitet - einen Schatten durch die Nacht, in ein Haus mit gerade Mal einem beleuchteten Zimmer. Als ihr es betretet, findet ihr euch in einem wolkenähnlichen Raum wieder, in dem mehrere Bücher auf Podesten liegen, die ihr beim Passieren lest und so von einer Prinzessin erfahrt, die von einem Monster entführt wurde, weil ihr einen Fehler gemacht habt. Erinnerungen an Super Mario werden wach, aber gleich wieder schlafen gelegt als ihr über Vertrauensbruch, Trennung, Schuld und Verzeihung lest.

Auf den ersten Blick scheint Braid ein traditionelles 2D-Jump'n'Run à la Super Mario zu sein...
Teils poetisch, teils philosophisch wird hier eine Hintergrundgeschichte begonnen, die so wohl kaum jemand in einem Jump'n'Run erwartet hätte. Die Texte erinnern an die Traumerzählungen aus Lost Odyssey , die schon dort mehr Emotionen und Tiefe boten als jede Videosequenz. Was wohl als nächstes kommt?

Eine weitere Tür. Die Musik wird fröhlicher, die Sonne scheint, ihr lauft über saftige Wiesen und lernt auf Knopfdruck zu springen, zu klettern und knuffigen Kreaturen auf den Kopf zu hüpfen - Miyamotos Klempner ist wieder im Hinterkopf. Dieses mal bleibt er sogar. Ihr erklimmt Plattformen und Leitern, springt über Abgründe, eliminiert Gegner durch Sprungattacken, öffnet Türen mit gefundenen Schlüsseln und sammelt auffällige Puzzleteile ein - klassische 2D-Plattformaction à la Super Mario eben. Die Hüpfeinlagen werden von Raum zu Raum anspruchsvoller, die Gegner hartnäckiger, die Puzzleteile schwerer zu erreichen.

Ihr begegnet sogar aus dem Boden wachsenden und nach euch schnappenden Pflanzen und holt am Ende eines Levels in einem Schloss die Fahne ein wie Nintendos schnauzbärtiger Italiener, worauf ein Yoshi-ähnlicher Dino zum Vorschein kommt. Von der gesuchten Prinzessin fehlt allerdings jede Spur. Und so zieht ihr weiter über die nach und nach beleuchteten Räume des Hauses, die euch über weitere Wolkenbibliotheken zu immer neuen Schauplätzen führen. Nebenbei fügt ihr die unterwegs gesammelten Puzzleteile zusammen, die anschließend als Bilder aufgehängt werden und auch in bestimmten Spielabschnitten

...doch facettenreiche Zeitmanipulationen sorgen bald für ein einzigartiges Knobelvergnügen.
zu finden sind. Diese könnt ihr über die entsprechenden Wolkenzimmer auch später jederzeit wieder aufsuchen. Allerdings sind die zusammen gepuzzelten Bilder weit mehr als reine Schauobjekte: In einem Level könnt ihr auf den Puzzleteilen sichtbare Anhöhen sogar als Plattformen benutzen, um an sonst nicht zugängliche Orte zu gelangen, wenn ihr sie entsprechend positioniert.

Die Zeit hat viele Gesichter

Verpatzte Sprünge sind aber zum Glück kein Beinbruch. Spätestens nach dem ersten tödlichen Sturz oder Feindkontakt entdeckt ihr die Möglichkeit die Zeit einfach zurückzudrehen. Bis kurz vor das Unglück oder auch bis ganz zurück zum Anfang des aktuellen Levels. Was zunächst wie eine Frust hemmende Spielhilfe aussieht, ist jedoch viel mehr als das: In späteren Spielabschnitten merkt ihr nämlich, dass nicht alle Objekte und Aktionen in ihre Ausgangssituation zurückgespult werden können und euch verschiedene Vor- und Rückspulgeschwindigkeiten zur Verfügung stehen, um zeitlich beeinflussbare und resistente Geschehnisse miteinander zu harmonieren.

Dadurch ergeben sich zahlreiche, mitunter recht knifflige Rätsel, die es zu lösen gilt, wenn man alle Puzzleteile sein Eigen nennen und so Zugang zum letzten der insgesamt sechs Spielabschnitte erlangen möchte. Das erfordert aber nicht nur Köpfchen, sondern auch Geschick: Gerade bei knappen Zeitfenstern sowie hohen Spulgeschwindigkeiten und Gegnerzahlen kommt schnell auch mal Hektik auf, während manche Sprungpassagen fast schon zu penibles Timing erfordern.

Selbst legendäre Momente der Videospielgeschichte verzaubern mit völlig neuem Spielgefühl.
In manchen Abschnitten müsst ihr sogar Bossfights bestehen, indem ihr Zeitmanipulation und Umgebung klug einsetzt. Hilfestellungen gibt es dabei keine, alle Rätsel und Aktionsmöglichkeiten müssen quasi selbst entdeckt und gelöst werden. Das kann teilweise auch frustrieren, macht das Bewältigen aber um so befriedigender, wenn man endlich den Dreh raus oder die Situation durchschaut hat.

Später habt ihr zudem die Möglichkeit, die Zeit an bestimmten Stellen eines Levels langsamer verstreichen zu lassen, um z. B. die Schussfrequenz einer Kanone oder das Schließen einer Türe zu hemmen. In einem teils an Donkey Kong angelehnten Abschnitt bleibt die Zeit sogar stehen, verstreicht aber, wenn ihr euch nach rechts bewegt und wird zurück gedreht, sobald ihr nach links geht - das schafft  ein einzigartiges Spielgefühl! Darüber hinaus könnt ihr in bestimmten Abschnitten auch einen Doppelgänger erzeugen, der zeitlich unabhängig von euch vorausgegangene Aktionen nachahmt. Befindet sich z. B. ein Schlüssel in einer Grube, die nicht mehr verlassen werden kann, springt ihr hinein, ergreift den Schlüssel und spult die Zeit zurück. Danach hüpft ihr über die Grube, während euer Schatten hinunter springt, den Schlüssel holt und dann wieder mit euch verschmilzt. Die verschiedenen Möglichkeiten der Zeitmanipulation sind jedenfalls sehr interessant und im Zusammenspiel auch sehr abwechslungsreich. Ungeduldige Spieler können die Level zwar recht schnell durchlaufen, ohne das Sammeln aller Puzzleteile entgeht euch aber nicht nur der eigentliche Sinn des Spiels, sondern auch die Auflösung der ungewöhnlichen Begleitstory. Also Zähne zusammenbeißen und weiter tüfteln!

     

Fazit

Braid ist ein ganz besonderes Spiel, das nur so vor Kreativität strotzt. Auf den ersten Blick mag es wie ein Super Mario -Klon mit praktischer Rückspulfunktion für verpatzte Sprünge wirken. Aber das Manipulieren der Zeit ist hier kein Nerven schonendes Gimmick, sondern das spielerische Rückgrat. Hier geht es nicht darum, Dinge ungeschehen, sondern überhaupt erst möglich zu machen. Ihr dreht die Uhr nicht nur vor und zurück, ihr harmonisiert verschiedene Zeitebenen, schafft euch zeitlich versetzte Doppelgänger oder platziert dynamische Zeitlupenfenster, um an begehrte Puzzleteile zu gelangen, die zusammengesetzt werden müssen, um den Weg ins große Finale zu öffnen. Auf dem Weg dorthin werden euch zahlreiche Kopfnüsse serviert: Ihr werdet fluchen, staunen, schmunzeln und immer wieder überrascht sein. Schade nur, dass der Jump'n'Run-lastige Knobelmarathon trotz des für Arcade-Titel eher stolzen Preises von 1.200 Microsoft-Punkten nicht sehr umfangreich ist, keinerlei Hilfestellungen bietet und gelegentlich etwas hektisch und unübersichtlich daher kommt. Aber die Zeit ist auf eurer Seite, einen Game Over-Screen gibt es nicht und jede Aufgabe ist mit Logik und etwas Geschick bzw. Geduld zu meistern. Braid ist sicher kein Spiel für zwischendurch, aber eines, das Fortsetzungswahn, Casual Game-Schwemme & Co die Stirn bietet und Erfolg dabei hat. Nicht perfekt, aber ein bezauberndes Kleinod mit Charme und Seele, das man ungeniert in einer Reihe mit Titeln wie Portal , Okami oder Rez nennen kann. Bitte mehr davon!

Wenn ihr zu den faulen Säcken gehört, die einfach direkt auf die Fazitseite springen, dann habt ihr es ausnahmweise mal richtig gemacht: Braid ist nämlich dann am besten, wenn man nicht weiß, was einen da eigentlich erwartet. Es fällt schwer über jenes Spiel zu sprechen, ohne dabei Portal zu erwähnen - obwohl das Werk von Jonathan Blow schon lange vor der Veröffentlichung des Valve-Ego-Puzzlers in der Mache war. Bei beiden handelt es sich um Spiele, die viele vorher nicht auf dem Radar gehabt haben dürften. Beide traktieren die Denkmurmel auf ihre eigentümliche Weise: Portal im Raum, Braid in der Zeit. Und beide weigern sich, die Spielzeit künstlich zu dehnen, wo andere Spiele mit hohem Schwierigkeitsgrad oder ständigen Wiederholungen aufwarten. Und das ist gut so! Mit seinem Konzept und seiner seltsam melancholischen Atmosphäre hat Braid selbst einen eher notorischen Puzzlespielabstinenzler wie mich in seinen Bann gezogen. Manche der Rätsel sind extrem komplex, und dennoch so erschütternd logisch, dass der sich dann einstellende AHA!-Effekt wahrhaft belohnend wirkt. Braid ist meiner Meinung nach, ohne Wenn und Aber, jeden einzelnen Cent wert. Wer sich und der Spieleszene etwas Gutes tun möchte, sollte sofort zugreifen - oder halt auf die PC-Version warten.

Fazit zur PC-Version, 16. April 2009:

Die mittlerweile erschienene PC-Version ist im Wesentlichen identisch mit der Xbox 360-Fassung. Bei manchen Nutzern scheinen Grafikfehler aufzutreten, die bei uns jedoch nicht feststellbar waren - Blow hat auch schon einen Patch veröffentlicht und werkelt an weiteren Updates. Die Steuerung per Tastatur funktioniert recht gut, ein eingestöpselter Xbox 360-Controller wird auch direkt vom Spiel erkannt, welches dann seine anfänglichen Hilfestellungen dementsprechend abändert. Etwas ärgerlich für Besitzer anderer Gamepads: Die werden nur über Umwege wie gewisse Xbox 360-Controller- oder Keyboard-Emulatoren unterstützt . Ein Plus gegenüber der Originalfassung ist hingegen der integrierte Editor, der die Lebenszeit Braids durch von der Community entwickelte Inhalte verlängern dürfte bzw. bastelfreudige Spielernaturen selbst gut beschäftigen dürfte.

Pro

viele kreative Ideen
ungewöhnliche Story
charmante Präsentation
facettenreiche Zeitmanipulation
fordernde Hüpf- & Denkaufgaben
Level-Editor (PC)

Kontra

überschaubarer Umfang
teils etwas hektisch & unübersichtlich

Wertung

360

Erfrischend kreatives und charmant inszeniertes Jump&Run mit knackigen Zeiträtseln.

PC

Erfrischend kreatives und charmant inszeniertes Jump&Run mit knackigen Zeiträtseln.

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