Im Test:
Der tödliche Bluff
Ich ziehe die ungeladene Pistole, richte sie auf einen der Typen. Alle bleiben kurz stehen, heben sofort beschwichtigend die Hände. Scharfe Waffen sind in der Welt nach der Katastrophe eine Seltenheit. Städte versinken in Staub, Gewalt und Dreck. Regeln? Polizei? Gibt’s nicht. Willkür? Banden? Gibt’s reichlich. Man spielt einen Familienvater, der seine Frau und Tochter sucht. Spätestens, wenn man den ersten Kannibalen begegnet, erinnern Verrohung und Entmenschlichung an „Die Straße“ von Cormac McCarthy - was man von der letztlich schwachen Story allerdings nicht sagen kann.
Es gibt allerdings eine kleine bewegende Szene, in der man gefragt wird, ob man „auch böse“ sei. Die Frage der Menschlichkeit wird also thematisiert, was gut ist. Aber sie wird nicht als moralisches Problem in das Spiel integriert oder erzählerisch weiter geführt, was unheimlich schade ist. Hier tötet man als Vater auf der Suche nach seiner Familie letztlich ohne Skrupel, ohne Wahl oder Konsequenz. Selbst wenn sich Täter
I Am Alive sollte bereits vor drei Jahren erscheinen, vom französischen Studio Darkworks (Cold Fear, Alone in the Dark: The New Nightmare) entwickelt werden und den Überlebenskampf in Chicago inszenieren. Aber dann kam alles anders: Ubisoft hat das Studio, die Stadt sowie die Systeme gewechselt. Jetzt erscheint I Am Live nicht zum Vollpreis, sondern für knapp 15 Euro ausschließlich digital. in Opfer verwandeln und auf den Knien um Gnade betteln, kann man ihnen ohne Konsequenz die Machete ins Herz rammen – mit einem Mädchen huckepack. Warum schreit das Mädchen nicht? Warum hat das keine Folgen? Ist man doch böse? Wie wird das ähnlich konzipierte The Last of Us erzählerisch damit umgehen?
Im Angesicht des Bösen
Man kann zwar auch auf hysterische Eremiten oder nervöse Einzelgänger treffen, wo es ausreicht, langsam aus deren Blickfeld zu verschwinden oder ihr Gebiet nicht zu betreten. So kann man allerdings nur selten ohne Blutvergießen weiterkommen – trotzdem sind das sehr kreativ inszenierte Situationen des Rückzugs, die man kaum in anderen Spielen findet. Hier zeigen sich die Stärken eines Designs, dass auch Psychologie und Gruppendynamik in Konflikten berücksichtigt. Aber den „Bösen“, vor allem den Typen im Rudel mit Nagelkeulen oder langen Messern, kann man nicht so einfach entkommen – sie
Zurück zur Szene mit den drei Typen: Der Kerl in meinem Visier wirkt schon sichtlich nervös – sehr gut! Aber jetzt geht das Psychospiel erst los. Die beiden anderen beginnen zu quatschen, wollen ein paar Sekunden meine Aufmerksamkeit stören. Lasse ich die Waffe nur einen Moment sinken, kommen sie schnell auf mich zu! Zunächst kann ich alle per Befehl auf Distanz halten, indem ich die Waffe abwechselnd auf sie richte und „Zurück!“ rufe – das beruhigt, aber die Spannung ist greifbar. Ihr Anführer fängt an, mich aggressiver anzumachen, bezweifelt nicht nur meine Entschlossenheit, sondern auch die geladene Waffe. Als er mit gezückter Klinge auf mich zu stürmt wird mir klar, dass ich falsch gepokert habe.
Die Frage der Taktik
Wer weiß, vielleicht wäre dann auch eine Kugel in meinem Lauf gelandet und ich hätte den nächsten direkt über den Haufen ballern können! Dann wäre der letzte von ihnen so verängstigt gewesen, dass er flehend auf die Knie gefallen wäre – bereit für den Knockout. Moment, kurz zurückspulen: Einfach so wie von Zauberhand eine geladene Pistole, ohne dass man sein Opfer erst durchsuchen müsste? Jup. Obwohl der Überlebenskampf in der fiktiven amerikanischen Metropole sehr authentisch inszeniert wird, sind das die unrealistischen Widersprüche, die arcadigen Zugeständnisse, die genauso wie die Heilpakte oder Replays wie Fremdkörper wirken.
Arcadige Zugeständnisse
Richtig gehört, keinen nützlichen Gegenstand, keine neuen Missionen, keine Erfahrung oder Moralgewinne, sondern einfach nur die Möglichkeit, nach dem nächsten Tod nochmal zu starten und in der finalen Highscore weiter oben zu stehen. Diese Arcade-Elemente rauben dem Spiel etwas von seiner dramaturgischen Authentizität. Hier war so viel möglich, aber letztlich hat man das Ganze zum kleinen Abenteuer kastriert! Schon bei der Wahl der Schwierigkeit beeinflusst man nicht etwa die Gefahr in der Spielwelt, sondern lediglich die Ausschüttung der Retrys. Das weiß man dann zu schätzen, wenn einen das Abenteuer ab der Mitte in immer mehr tödliche Situationen bringt – dazu gehört auch das waghalsige Klettern.
Der Tod in der Höhe
Man muss allerdings optimale, aber meist offensichtliche Routen finden, kann weite, aber Kraft kostende Klettersprünge oder auf langen Touren auch Haken einsetzen. Letztere sorgen für einen blinkenden Ruhepunkt, an dem die eigene Ausdauer komplett regeneriert; ohne sie wäre das nur über Getränke oder Snacks möglich. Schön ist, dass man irgendwann einen Kletterhaken bekommt, der nochmal etwas Schwung in die Vertikale bringt, denn man kann Fixpunkte anvisieren und so noch besser die Ruinen erkunden. Dabei gibt es einige spektakuläre und halsbrecherische Passagen, wenn man etwa die Schräge eines Wolkenkratzers hinunter gleitet, geschickt bremsen oder
Begrenzte Welt, kreative Psychoduelle
Auch die Konfliktsituationen werden gefährlicher. Zwar durchschaut man mit der Zeit die feindlichen Verhaltensmuster, auf die man reagieren muss: Hat jemand in der Gruppe eine Pistole, darf man seine ungeladene auf keinen Fall zücken – sie schießen sofort und man ist tot. Hat man eine Kugel, sollte man immer den bewaffneten Anführer erschießen, damit man danach die anderen unter Kontrolle hat. Gibt es in der Nähe ein Feuer oder einen Abgrund, sollte man die mit der ungeladenen Waffe Fixierten genau dorthin lotsen, um sie hinein zu stoßen. Denn nicht immer geben sie auf.
Irgendwann begegnet man aber nicht nur drei, sondern vier oder gar fünf Feinden, manche so schwer gepanzert, dass ein normaler Schuss nicht ausreicht; man muss ungeschützte Stellen treffen. Und was macht man, wenn drei Typen im rechten Bereich eines Raums auf einen lauern und ihr Anführer den einzigen Fluchtweg links bewacht? Irgendeinen hat man plötzlich immer im Rücken! Man muss das In-Schach-Halten mit der eigenen Waffe geschickt einsetzen, um die Gruppe wie ein Hirte so abzudrängen, dass man alles im Blick hat – eine spannende Szene! Genauso wie jene, in denen man von einer Bande überrascht wird, die sich totgestellt hat. Erleichtert wird einem der Weg zum Ziel
Die fiktive Stadt Haventon ist keine offene Welt, zeigt einem klare Grenzen und lineare Wege auf, bietet aber kleine Abzweigungen. Auf dem Weg durch die weitgehend ausgestorbenen Gassen kann man sich an einer dynamisch aktualisierten Karte orientieren, die im Stile von Silent Hill auch Sackgassen markiert. Überhaupt erinnert das einsame Stromern durch die lebensfeindliche Düsternis an den Horrorklassiker – spätestens auf dem riesigen Schiffswrack geht man schon mal mit Herzklopfen durch die schmalen Korridore, wenn man irgendwo Schreie hört. Es gibt zwar keine Rätsel, aber ab und zu muss man Objekte installieren und in Gang bringen, Schlösser oder Handschellen aufschießen oder Funksender finden.
Fazit
Ein Mann sucht seine Familie. Um ihn herum Trümmer, Tod und eine Trostlosigkeit, die an „Die Straße“ von Cormac McCarthy erinnert. Das kann man von der schwachen Story zwar nicht sagen, aber dieses kleine Survival-Abenteuer entfaltet ebenfalls eine trostlose Endzeitstimmung. Und es fasziniert spielerisch, weil es Begegnungen mit Fremden und potenziellen Feinden erfrischend offen gestaltet: Wo gewöhnliche 08/15-Action nur den Angriff kennt, gibt es hier mehrere Stufen der Interaktion. Diese Psychoduelle sorgen für situative Spannung und kreative Impulse, weil sie Angst, Aggression und Gruppendynamik vor dem Konflikt berücksichtigen. Irgendwann erkennt man zwar die Muster und es ist unheimlich ärgerlich, dass Ubisoft nicht mehr Mut hatte, dieses ehemals groß angekündigte Abenteuer auch wirklich groß zu machen, indem man die Frage der Moral und des Gewissens konsequenter integriert, indem man auf interessante Dialoge statt auf faule Arcade-Kompromisse setzt. All das raubt der Spielwelt immer wieder etwas Atmosphäre, sorgt für mehr kompetitive Oberfläche statt emotionale Tiefe. Aber selbst mit diesen ärgerlichen Designentscheidungen bleibt unterm Strich gute Unterhaltung, die für knapp fünf Stunden spannender ist als so manche Großproduktion. Und wer sich auf The Last of Us von Naughty Dog freut, könnte mit diesem Überlebenskampf vielleicht einen kleinen Vorgeschmack bekommen.
Wertung
360
Bluffen, bedrohen, einschüchtern: Ein Survival-Abenteuer mit kreativer psychologischer Spannung vor Konflikten.
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