The Gunstringer22.09.2011, Mathias Oertel
The Gunstringer

Im Test:

Kinect ist knapp ein Jahr auf dem Markt. Doch die Auswahl an Spielen ist überschaubar. Die Auswahl an guter Unterhaltung darunter ist noch überschaubarer - und ewig kann man sich auch nicht mit Dance Central über Wasser halten. Vielleicht können die Kreativköpfe von Twisted Pixel (The Maw, Splosion-Man, Comic Jumper) mit ihrem ungewöhnlichen Western-Abenteuer The Gunstringer (ab 29,99€ bei kaufen) den Ruf der Bewegungssteuerung aufpolieren?

Puppenspieler

Ein Taxi hält vor einem Theater, in dem "The Gunstringer" gezeigt wird. Eine Zuschauerin steigt aus, geht durch das Foyer in den Zuschauerraum und schließlich auf ihren Platz zu. Die Kamera gewährt mir noch einen letzten Blick auf den sich langsam füllenden Saal, bevor sie in den Backstage-Bereich wandert. Hier herrscht reges Treiben: Requisiteure sind damit beschäftigt, alles für die Show vorzubereiten und der Hauptdarsteller, eine Marionette in Form eines überzeichneten Skeletts, wird auf der Bühne in ein Grab gelegt und mit Erde überschüttet. Das Licht verdunkelt sich. Der Spot wird auf das Grab gerichtet. Die Show kann losgehen. Ich bin bereit, als Puppenspieler die Zuschauer zu begeistern.

Die texanische Puppenkiste

Dass Twisted Pixel immer wieder für eine Überraschung gut ist, haben die Texaner seit ihrem Debüt The Maw wiederholt unter Beweis gestellt. Und auch hier kennt die Kreativität kaum Grenzen: Im mechanischen Kern nicht viel mehr als ein Rail-Shooter à la Panzer Dragoon, Rez oder Child of Eden, holt das Team nicht nur viel aus der Thematik heraus, sondern versteht vor allem mit einem feinen Sinn für Humor und einem sicheren Gespür für Artdesign zu überzeugen.

In der Rolle des Puppenspielers hält man in der linken Hand quasi das virtuelle Marionetten-Steuerkreuz des schießwütigen Pinochio-Vetters auf seinem Rachefeldzug gegen seine alte Gang (Kill Bill lässt grüßen). Mit der rechten nimmt man bis zu sechs Gegner ins Visier und lässt dann mit einer schnellen Bewegung nach oben die Projektile fliegen. Wer will, kann wie in Kinderzeiten mit den Fingern eine Pistole imitieren - das macht hinsichtlich der Erkennung zwar keinen Unterschied, lässt aber das Kind im Manne wieder erwachen und fühlt sich gleichermaßen albern wie passend an.

Trotz der einfachen Grundvoraussetzung und trotz der für Rail-Shooter typischen Eigenheit, dass die Vorwärtsbewegung quasi automatisch stattfindet, ist vor allem in späteren Abschnitten eine gute Koordination gefordert: Während man rechts die Ziele ins Visier nimmt, muss man links Hindernissen ausweichen oder Sprungpassagen bestehen. Da die Lebensenergie sehr großzügig vorhanden ist, kommt man zwar nur selten in Bedrängnis (das Abenteuer ist insgesamt zu leicht für meinen Geschmack), verliert aber wertvolle Punkte und im schlimmsten Fall einen Multiplikator. Das schlägt sich nicht nur in der Bewertungs-Medaille beim Level-Abschluss, sondern auch in barer Münze wieder. Dafür wiederum kann man im üppig ausgestatteten Shop nicht nur haufenweise

Panzer Dragoon à la Kinect.
Panzer Dragoon à la Kinect.
Gimmicks wie Artwork, Musik etc. freischalten, sondern auch Modifikatoren für das Spiel erwerben. Dazu gehören z.B. alternative Kommentare, ein Hardcore-Schwierigkeitsgrad usw. - der Wiederspielwert wird dadurch ebenso gefördert wie durch die Online-Ranglisten, in denen man sich nach oben ballern möchte.

Abwechslung ist Trumpf

Was mich am Gunstringer überraschte, war jedoch nicht allein die unter dem Strich gute Steuerung, bei der man das Kinect-typische Lag irgendwann vergisst und sich auch nicht von den sporadischen und nur selten Spiel beeinflussenden Aussetzern die Butter vom Brot nehmen lässt.

Auch das Artdesign, das mit seinem Comic-Look und seinen Versatzstücken aus der Spielzeugtruhe irgendwo zwischen Toy Story, Stacked und LittleBig Planet liegt, trägt zur gelungenen "Theater"-Atmosphäre bei, ohne sich jetzt in den Vordergrund spielen zu wollen und ist dementsprechend nicht die Haupt-Überraschung. Zwar ist das wiehernde Steckenpferd, auf dem man manchmal durch die lineare Prärie auf der Bühne brettert, immer wieder für einen sympathischen Lacher ebenso gut geeignet wie die vielen anderen Requisiten und Darsteller, die in der einen oder anderen Form in einem Jungenzimmer zu finden sein könnten.

Doch das eigentlich Überraschende ist die Vielfalt der Missionen, mit der Twisted Pixel den klassischen Rail-Shooter aufbricht: Jump & Run-Elemente à la Donkey Kong wechseln sich ab mit Prügeleinlagen. Man findet sich in Deckungssituationen wieder, bei denen man sein Timing beweisen muss, wenn man das herauslehnende Geballer unbeschadet überstehen will, nur um sich dann in einer Dauerfeuer-Sequenz zu sehen, bei der man ohne Nachladestress

Laufen & Schießen: Hinter dem Rachefeldzug verbirgt sich ein Railshooter.
Laufen & Schießen: Hinter dem Rachefeldzug verbirgt sich ein Railshooter.
aus allen Rohren (sprich: beiden Händen) die wild auf einen zustürmenden Gegnerwellen fast wie seinerzeit bei Galaga aus dem Verkehr zieht. Man bekommt kurzfristig eine mächtige Schrotflinte oder einen nicht minder mächtigen Flammenwerfer und schneidet eine Schneise der Zerstörung oder segelt kurz darauf in einer "Freefall"-Sequenz dem Boden entgegen, während man den Hindernissen wie steilen Klippen auszuweichen versucht oder nach vorne aus dem Bildschirm läuft, während man von Baumstämmen, Schlangenherden oder Felsbrocken verfolgt wird. Und das alles mit nahtlosen Übergängen und einem todsicheren Gespür für Timing: Bei keiner Sequenz hat man das Gefühl, das ein Element überstrapaziert wird. Sicherlich spielt die Tatsache, dass die Abschnitte weder übermäßig lang noch fordernd sind, diesem Gefühl in die Karten - ein Durchlauf beansprucht in etwa vier Stunden. Dennoch finde ich es beachtlich, mit welcher Leichtigkeit Twisted Pixel die Grenzen des Rail-Shooters auslotet. Einzig bei den Bosskämpfen enttäuscht das Design auf lange Sicht: Zwar greifen die Endgegner mit unterschiedlichen Mechaniken an, doch abseits des Prologs laufen die zweidimensionalen Auseinandersetzungen stets nach gleichem Schema ab. Schade, dass man hier nicht mit ebenso viel Fantasie designt hat wie beim Rest des Schützenfestes.

Gegensätzlicher Humor

Ein weiteres unheimlich sympathisches Element ist der Humor, den Gunstringer gleich auf mehreren Ebenen verströmt. Die offensichtliche liegt natürlich im aus dem Spielzeugladen entliehenen Figurendesign sowie gelegentlichem Slapstick im Stil der 40er/50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Übergeordnet und wesentlich effektiver ist jedoch der Erzähler, der ähnlich wie im Summer of Arcade-Highlight Bastion als steter Begleiter seine Sicht der Dinge zum Besten gibt. Im Stile eines eiskalten Rächers kommentiert er, was den Gunstringer bewegt, was er fühlt und wieso es jetzt gut ist, dass seine sechs Kugeln alle ins Ziel treffen. Und das alles so überzeugend, dass die Kommentare des Schauspielers R.Bruce Elliott allesamt auch bei einschlägigen Western von Django bis Erbarmungslos wie die Faust aufs Auge passen würden. Hier jedoch stehen sie als krasser Gegensatz zu den Kapriolen auf dem Bildschirm und werden dadurch kunstvoll überhöht, ohne ins Lächerliche gezogen zu werden. Eine weitere Gratwanderung, die Twisted Pixel bravourös meistert – wie auch die Einbindung von Liveszenen, die das Publikum bestehend aus (Laien-)Darstellern zeigt, wie es herrlich

Mitunter nutzt der untote Rächer auch auf schlagfertige Argumente...
Mitunter setzt der untote Rächer auch auf schlagfertige Argumente...
übertrieben auf einige der gezeigten Szenen reagiert. Und da man sich sowieso für nichts zu schade ist, gibt es auch spontane akustische Einspieler angefangen vom typischen Sitcom-Lachen bis hin zum überbordenden Jubel nach einem Bosskampf. Und zum Ende hin gehen die Gäule komplett mit dem Team durch – ein derart beklopptes Finish (mit einem Gastauftritt  von Troma Studio-Gründer Lloyd Kaufman) habe ich schon lange nicht mehr erlebt.

Übrigens scheint der Präsident der Trashfilm-Kultschmiede sowie Erfinder des Toxic Avengers einen besonderen Draht zu Twisted Pixel aufgebaut zu haben: Es wird ein kostenloser (und insgesamt 2 GB schwerer) Bonus-Download namens "The Wavy Tube Man Chronicles" angeboten, in dem man die Schussmechanik aus Gunstringer nimmt und in eine stimmige Hommage an Mad Dog McCree einbindet. Man ist Zuschauer/Hauptdarsteller eines von Troma produzierten Filmes mit echten Schauspielern (und Lloyd Kaufman) und muss im richtigen Moment die bösen Buben ausschalten, die dann (wieder einmal) herrlich überzogen das Zeitliche segnen - herrlich! Der Vollständigeit halber sei erwähnt, dass dem Spiel auch noch ein Download-Code für den Arcade-Titel Fruit Ninja Kinect beiliegt. Das wirkt sich zwar in keiner Form auf die Wertung aus, macht das Paket für Kinect-Spieler aber nochmals attraktiver.

Fazit

Machen wir uns nichts vor: Auch The Gunstringer wird Gegner des Bewegungssensors nicht bekehren. Doch wie Child of Eden zeigt das witzige Westernepos um eine rachsüchtige Marionette, dass Kinect besser ist als sein Ruf. Twisted Pixel hat die Steuerung bis auf wenige Ausnahmen so gut im Griff, dass auch das Kinect-typische Lag irgendwann nicht mehr auffällt. Und was dem Puppencowboy an spielerischem Tiefgang vielleicht fehlen mag -obwohl man sich wundert, wie viel Abwechslung man hier aus dem "einfachen" Railshooter herausholt- macht der Gunstringer durch ein unheimlich charmantes Artdesign im Spielzeuglook sowie ein zielsicheres Gespür für Komik wett. Einzig die auf Dauer zu sehr auf Schema F setzenden Bosskämpfe sowie die insgesamt etwas zu kurz geratene Spielzeit von etwa vier Stunden kappen ein paar Spaßschnüre aus dem Marionetten-Kreuz. Dennoch: So gut wurde ich schon lange nicht mehr von einem Spiel für Microsofts Bewegungs-Sensor unterhalten.

Pro

guter Einsatz der Steuerung...
zielsicherer Humor
freischaltbare Modifikatoren und Extras erhöhen Wiederspielwert
abwechslungsreiche Railshooter-Variante
sympathisches Spielzeug-Artdesign
klasse Erzähler

Kontra

... die aber auch gelegentliche Aussetzer zeigt
Bosskämpfe ähneln sich sehr
mitunter zu niedriges Anforderungsprofil
kurz

Wertung

360

Spaßiger Kinect-Railshooter, der mit Artdesign, Vielfalt sowie zielsicher gesetztem Humor punktet. Schade, dass die Bosskämpfe das Potenzial nicht ausnutzen.

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