Too Human29.08.2008, Benjamin Schmädig
Too Human

Im Test:

Tolkien hatte Massenschlachten inszeniert, als das Kino noch in den Kinderschuhen steckte. Denn wer sich in den Zeilen eines packenden Romans verliert, kennt das Gefühl: Ein gut geschriebenes Buch braucht nur wenige Zeilen, und im Handumdrehen blühen unscheinbare Buchstaben zu einer fantasiereichen Welt auf. Während unsere Sinne bloßen Text aufnehmen, entstehen wie von selbst steinerne Burgen, gewaltige Kriege und faszinierende Charaktere. Ja, Too Human (ab 27,28€ bei kaufen) könnte wie ein gutes Buch sein...

Die gute Reife

Ein gutes Buch? Genauso gut könnte man das Bild vom guten Wein bemühen und mit einem großen Fragezeichen versehen. Immerhin hatten die Eternal Darkness -Entwickler ihr jüngstes Werk ganze zehn Jahre in der Mache. In der Zwischenzeit heimsten sie nicht nur mit jenem Survival-Horror etliche Lorbeeren ein, sondern untermauerten ihren guten Ruf außerdem mit einem Metal Gear Solid-Remake für Nintendos GameCube. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Kanadier das Gerüst für Too Human schon vor diesen großen Hits gezimmert hatten: Bis auf die ungewöhnliche Steuerung wirkt das mit 360-Klarlack polierte Action-Rollenspiel zwar ambitioniert - aber

Zehn Jahre Entwicklungszeit: Waren es diese Szenen wert?letztlich auch sehr bieder. Nein, einem guten Wein kann Too Human nicht das Wasser reichen. Einen Fünf-Euro-Trunk ist es allerdings wert...

Der falsche Tonfall

Und um den zu rechtfertigen: Zurück zum Buch und seiner großen Geschichte von Göttern, Intrigen, Verrätern und einem apokalyptischen Krieg namens Ragnarök . Wer in der nordischen Mythologie bewandert ist, kennt die Handlung bereits in groben Zügen, denn Silicon Knights hält sich erstaunlich dicht an die Vorlage. Erstaunlich? Unbedingt: immerhin entführt euch das Spiel trotz Kobolden, Trollen und teils malerischer Kulisse nicht in ein Fantasyreich, sondern in eine  finstere Zukunft. In dieser sind die genannten Götter keine himmlischen Überwesen, sondern kybernetisch verbesserte Menschen, die in ihrer himmelhohen Festung über das Schicksal der Menschheit walten. Einer Menschheit, die offenbar dem Untergang geweiht ist - und zwar nicht nur deshalb, weil die Anfänge von Ragnarök, dem großen Krieg, offenbar längst begonnen haben....

Im Grunde verknüpft Too Human die beiden erzählerischen Hintergründe fast perfekt. Die Verbindung zur Götterwelt verleiht der sonst eher bodenständigen Kybernetik z.B. eine mythische überhöhte Dimension. Im besten Fall könnte man dem Werk der Autoren sogar einen intellektuellen Anstrich zusprechen: Wo sich Menschen mit den entsprechenden Mitteln zu Göttern erheben, weil sie ihre Körper stärker und widerstandsfähiger machen, liegt Gesellschaftskritik in der Luft. Doch die Hoffnung auf echte erzählerische Tiefe löst sich schnell auf - und Schuld daran tragen nicht einmal die Autoren selbst. Sie tragen zwar eine Mitschuld, weil sie um grundlegende Zusammenhänge ein Geheimnis machen, anstatt erst ihr Szenario vorzustellen und anschließend das dazu gehörige Drama anzuschieben. Vor allem liegt es aber an der plumpen, mitunter erschreckend laienhaften Inszenierung der Filme, dass die Geschichte platt, die Figuren gewöhnlich und der Plot vorhersehbar wirkt. Auf Musik - also das stärkste filmische

Bilder geben den tatsächlichen Eindrück kaum wider: Einige Kulissen sind geradezu überwältigend.
Mittel, um Emotionen anzusprechen - wird in Zwischensequenzen z.B. meist ebenso verzichtet wie auf gut abgemischten Ton. In Sachen Kamerarbeit beschränkt sich Too Human ebenfalls aufs Nötigste, so dass ein Umfahren der Akteure das Höchste der Gefühle scheint.

Wachsfigurenkabinett

Warum auch mehr tun, wenn die Charaktere ohnehin vergleichsweise steif und ausdruckslos agieren - was stellenweise richtig absurd wirkt. Z.B. dann, wenn der Protagonist seiner Wut deutlich hörbar freien Lauf lässt, als er endlich die Wahrheit über seinen Gedächntnisverlust kennt - Mimik und Gestik seinen Zorn aber nicht wiedergeben. Dabei sehen einige Gesichtszüge gerade bei jenem Baldur sehr überzeugend aus. Schon seine Haut sowie der fast kahl geschorene Hinterkopf scheinen in Nahaufnahme zum Angreifen echt. Andere Gesichter, besonders Freyas eigentlich bildschönes Antlitz, wirken so künstlich und unbeweglich wie Wachsfiguren. Ein gutes Beispiel für schlechte Inszenierung ist die Szene, in der Baldur und Thor - noch im Spiel - stumm einen Aufzug empor fahren. Oben angekommen holt die Kamera plötzlich Thor ins Bild, der ohne Baldur anzusehen oder auch nur ein Wort zu sagen seinen Hammer gen Decke schleudert. Weder das Werfen noch der Zusammenfall des antiken Mauerwerks werden akustisch untermalt. Man fragt sich, was das soll,  die Sequenz verpufft wirkungslos und bleibt wie die meisten Szenen bestenfalls als "Wie man Zwischensequenzen heute definitiv nicht mehr umsetzt!" im Gedächtnis. Die unauffällige Inszenierung deutet das Epos nur an - man braucht zu viel Fantasie, um sich hineinzudenken.                     

Doch wer Akustik und Musik schon anspricht, darf den Soundtrack nicht vergessen. Warum eine Untermalung, die vom Regisseur so sträflich vernachlässigt wird, überhaupt der Rede wert ist? Weil sie zu den kraftvollsten, wehmütigsten und schönsten ihrer Art gehört! Tatsächlich sind die vom FILMharmonic Orchestra and Choir Prague eingespielten Melodien der einzige makelloser Höhepunkt in Too Human. Dass Komponist Steve Henifin trotz Eternal Darkness und Twin Snakes ein recht unbekannter Name ist, dürfte sich jedenfalls bald ändern.

Den biederen Filmen zum Trotz: Es sind die kämpferischen Trommeln, welche das Verhauen der immer gleichen Gegnermassen mit dem Beginn eines großen Krieges verbinden. Es ist das traurige Thema beim Auftritt der Walküren, welches die viel zu lange Wiederbelebungs-Sequenz erträglich macht. Und es sind allein die Stimmen des Prager Chors, welche die

Heimdall gehört zu den überzeugenden Charakteren...
weitläufigen, furchtbar leeren Areale mit Leben füllen. Denn auch spielerisch entpuppt sich Silicon Knights' Langschläfer als ein Kandidat für die "gut gedacht, teils schlecht gemacht"-Auszeichnung.

Elfenhafte Roboter

Gut gedacht, weil die ungewöhnliche Steuerung nach einer langen Gewöhnungsphase flott von der Hand geht und einige coole Finessen erlaubt. Schlecht gemacht, weil die so entfachte martialische Brillanz von technischen Kleinigkeiten ausgebremst wird und sich in unglaublich einfallslosen Schauplätzen verläuft. Schuld daran sind nicht die Kulissen selbst - im Gegenteil! Die teilweise riesigen Innen- und Außenareale füllen problemlos den epischen Rahmen, in dem sich die ideenlose Inszenierung noch verliert. Aus Stein geschlagene Mauern und eiserne Konstruktionen erstrecken sich scheinbar kilometerweit in die Höhe, in einigen Hallen erreichen nicht einmal gigantische Statuen die Decke. Man kann der Kulisse ihre sterile Kälte vorwerfen - das schiere Ausmaß der fast greifbaren Schauplätze ist allerdings beeindruckend!

Umso bedauerlicher ist es, dass der manuelle Kameradreh (umständlich zu handhaben über linken Bumper plus rechten Stick) nur ein kleines Stück in alle Richtungen schwenkt. Einen Eindruck vom Gesamtbild darf man sich so nie verschaffen, von echter Übersicht ganz zu schweigen. Viel bedauerlicher ist die Tatsache, dass die Technik mit der eindrucksvollen Kulisse nicht Schritt halten kann. Spätestens, wenn sich ein Dutzend Gegner im Fokus einer Nahaufnahme befinden, kommt Baldur ins Stolpern. Oder er bleibt in der Luft hängen, weil unter ihm ein Untoter steht - lasst es einen der Roboter-Alben, mechanoiden Kobolde sowie androiden Trolle sein, weil sich die Mischung aus Science-Fiction und Fantasy auch in den Monstern widerspiegelt. Auf jeden Fall ist es ärgerlich, wenn der

... Freya nicht.
Kampf wegen technischer Probleme holprig wird und deshalb das Timing für Baldurs schnell aneinander gereihte Attacken nicht mehr stimmt.

Gut kombiniert

Schließlich sind es diese Kombos, mit denen Odins Sohn im Nahkampf den größten Schaden anrichtet. Und den hat er gegen die übergroße Gegnerschar bitter nötig. Böse ausgedrückt bietet das Spiel nämlich nur deshalb gelegentlich eine Herausforderung, weil die Entwickler eine riesige Herde Widersacher gen Baldur hetzen. Dafür verliert Baldur nichts, wenn er nach seinem Ableben und einer auf Dauer viel zu langen Sterbeszene zu einem der teilweise weit entfernten Rücksetzpunkte geschickt wird. Selbst große Bossgegner sind keine Herausforderung, weil er sie durch bloßes Umkreisen-und-Dauerfeuern besiegen kann. Auch ein auf Nahkampf spezialisierter Held ist auf diesem Weg erfolgreicher. Aber zurück zu den Massenschlachten gegen das gemeine Fußvolk, dem ihr am besten mit einer Kombination aus Fern- und Nahkampfangriffen auf den Pelz rückt - hauptsächlich deshalb, weil euch die Fausthiebe der zwei Mann hohen Troll-Roboter aus den Latschen hauen. Deshalb ist es ratsam, deren Rüstungsteile (Kopf, Arme, Beine) nach und nach weich zu schießen, um im Anschluss das darunter liegende Körperteil zu verschrotten. Erst wenn der komplette Mini-Koloss über kein brauchbares Metall mehr verfügt, fällt er zusammen. Natürlich könntet ihr ihn auch zur Hälfte erledigen, dann in seinen Rücken sprinten, eine Taste zu drücken und ihm so auf den Kopf springen. Dort angekommen reicht euch immerhin ein einziger Schlag und der Zwischengegner zerbirst in seine Einzelteile.      

Ist Baldur aber von vielen kleinen Feinden umzingelt (für einen Gott wie ihn gehört das zum Alltag), lasst ihr den Abzug (die rechte Schultertaste) besser in Ruhe und schiebt stattdessen den rechten Analogstick hin und her - immer in Richtung des nächsten Feindes. So lange euer Timing nicht vom Grafikstottern unterbrochen wird, rutscht der Held im Eiltempo von einem Gegner zum nächsten, um ihnen nicht nur mächtige Hiebe zu verpassen, sondern vor allem seine Komboleiste aufzuladen. Er kann die Gegner auch in die Luft werfen, ihnen hinterher springen, um sie in relativer Sicherheit anzugreifen, sie vom Boden aus mit Pistole oder Gewehr weiter in der Luft halten, ihnen noch einmal hinterher

Wenn Baldur stirbt, wird er von einer Walküre vom Schlachtfeld getragen.
springen... Baldur ist nicht der grazilste Held - er gehört aber zu den geschicktesten und brachialsten! Anders als während der Filme gelingt es dem Sound im Spiel zum Glück, solche martialischen Szenen wirkungsvoll zu untermauern.

Hat Baldur seine Komboleiste auf diese oder ähnliche Art schließlich aufgeladen, steigt schließlich der Kombozähler um einen Punkt. Der Zähler ist wiederum seine "Währung" für besonders mächtige Angriffe. Diese Schläge befreien Baldurs komplettes Umfeld von Widersachern, ohne dass sie unbedingt das Zeitliche segnen. Mit geschickten Kombos und diesen so genannten Zerstörern ist es also nicht getan. Und so könnt ihr den Kombozähler auch nutzen, um bestimmte Fähigkeiten einige Sekunden lang aufzuwerten, u.a. die Geschwindigkeit eurer Angriffe oder die Kraft der Hiebe. Falls ihr euch online an der Seite eines Kumpels durch den SciFi-Mythos schlagt, profitieren sogar beide Spieler von dem kurzen Aufwerten. Abgesehen davon halten sich die Mehrspieler-Möglichkeiten leider in Grenzen - dazu später mehr. Baldurs stärkste Fähigkeit ist schließlich eine selbstständig zuschlagende Waffe, die für kurze Zeit riesigen Schaden anrichtet, aber entsprechend selten eingesetzt werden kann. Nicht zu verachten auch eine Spinne, die der Krieger wie einen Rucksack mit sich trägt: Setzt er sie ab, fungiert sie je nach der von euch gewählten Charakterklasse als Geschützturm, als heimtückische Mine, als Ziel suchender Sprengkörper usw. Auch diese Waffe kann Baldur nicht nach Gutdünken auf Roboter und Untote loslassen, sondern nur in geregelten Abständen.

Zäher Heldenstart

Herrlich: Wo Geschichte, lieblos aneinander gereihte und stets gleich aussehende Levelschläuche sowie langweilige Bossgegner nie das große Epos greifbar machen, fängt das eigentliche Spiel den rauen Ton des kriegerischen Mythos' sehr explizit ein. Baldurs zahlreiche Fähigkeiten in Verbindung mit seinem agilen Kampfstil waren vielleicht keine zehn Entwicklungsjahre wert, sie gehören aber zu den eindrucksvollsten aller Action-Rollenspiel-Helden. Auffällige Kleinigkeiten wie das merkwürdige In-der-Luft-Hängen und eine Zielerfassung, die nicht immer den nächsten Feind erwischt oder an bereits erledigten Gegnern "kleben" bleibt, kommen dem zum Glück nicht in den Weg. Lediglich aus der fehlenden aktiven Heilung sowie den ebenfalls abwesenden Gegenmitteln bei Vergiftungen entsteht hin und wieder Hilflosigkeit, nach einem darauf folgenden Ableben sogar Frust. Über die kampfschwachen Mitstreiter, die nach wenigen Sekunden sterben, um im nächsten Raum von ihren 

Herrlich brachial: Die Kämpfe entschädigen für die Schwächen in der Inszenierung.
Nachfolgern abgelöst zu werden sollte man außerdem den Mantel des Schweigens decken. Selbst der mächtige Thor ist kaum mehr als eine die Feinde ablenkende Statue. Immerhin entstehen eindrucksvolle Bilder, wenn im Hintergrund mehrere Walküren die Gefallenen Soldaten ins Himmelsreich tragen, während im Vordergrund noch der Kampf tobt.

Den einfallslos gestreckten Spielverlauf hätte man einer Ideenschmiede wie Silicon Knights allerdings nicht zugetraut. Da verstehen es die Kanadier in den ersten Stunden noch, ihr natürlich simples Kloppmist-Konzept mit Geheimtüren, versteckten Bonuskämpfen und einer zumindest nachvollziehbaren Erklärung für die Herkunft der endlosen Feindesscharen aufzulockern. Spätestens ab der Hälfte reicht ihnen aber plötzlich das bloße In-den-Raum-Beamen der Gegner, und "Geheimtüren", die einfach geöffnet werden müssen, weil sie eben da sind, wirken bestenfalls aufgesetzt - im schlimmsten Fall sogar wie eine Veralberung eurer Sammelleidenschaft. Und übrigens: Eine einführende Erklärung der neuartigen Steuerung hätte nicht geschadet! Bis Baldur das tut, was der Kopf des Spielers will, können jedenfalls gut und gerne zwei Stunden vergehen.

Ego-Trip für Sammler

Das gilt auch für das stilistisch bestenfalls pragmatische und dank Ladepausen unangenehm zähe Menü, in dem ihr euch an den Früchten des erwähnten Sammelwahns freut. Immerhin zieht Too Human einen großen Teil seiner Faszination aus dem ständigen Suchen und Finden von neuen Schwertern, besseren Gewehren, schickeren Helmen, sicheren Brustpanzern usw. Dabei müsst ihr die Ausrüstung selbstverständlich nicht unbedingt suchen, sondern dürft bei Waffen- und Kybernetikhändlern im Götter-Hauptquartier shoppen gehen. Besonders mächtige Gegenstände muss Baldur allerdings selbst herstellen - was ihn einen beachtlichen Anteil seines Vermögens kostet. Wer weiter ins Detail gehen will, darf Waffen und Rüstung zudem mit Runen versehen, welche die unterschiedlichsten Fähigkeitswerte positiv beeinflussen. Nicht zuletzt könnt ihr sogar die Farbe der Montur euren Vorlieben anpassen und spart etliche Handgriffe, weil die wahlweise automatische Sortierung ein schwaches Stück ablegt, sobald Baldur über einen besseren Gegenstand stolpert - vorbildlich. Nein, Too Human begeht kein Neuland. Es befriedigt aber mit Leichtigkeit den Individualisierungstrieb gestandener Action-Rollenspieler.         

Der Preis für den Ego-Trip: Ausgelebten Erkundungstrieb strafen die Entwickler mit tödlicher Langeweile. Denn Erkundung findet fast ausschließlich im Cyberspace statt. In den gewöhnlichen Abschnitten sind kleine Ecken, in denen sich eine Hand voll Gegenstände versteckt, noch das höchste der Gefühle. Im Cyberspace findet Baldur hingegen etliche starke Waffen, Rüstungsteile und Runen - wobei der Begriff Cyberspace mit Vorsicht zu genießen ist. Denn so interessant die erzählerische Einbettung des künstlichen Abbilds einer Erde, wie sie vor dem Aufkommen einer allgegenwärtigen Eisschicht war, auch sein mag, so belanglos ist ihre Umsetzung als lebloses Gebirge, in dem Baldur nur in einer Hand voll Filmszenen auf Einwohner trifft: Das mysteriöse Volk der weissagenden Nornen bewohnt diese Welt, in der sich das bevor stehende Unheil ebenso ausbreitet 

Der Cyberspace: Optisch stellenweise wunderschön - spielerisch meist belanglos.
wie in Baldurs Wirklichkeit...

Leere Bühnenbilder

Und wieder vergessen die Kanadier, ihr stellenweise brillantes Bühnenbild inhaltlich auszufüllen. Da brechen gleißende Sonnenstrahlen durch ein im Wind wiegendes Meer blutroter Baumkronen, da wird Baldurs Sicht vom satten Grün eines dichten Waldes verdeckt, in den sich kaum ein Lichtstrahl verirrt - und  nichts geschieht! Eine geschlagene halbe Stunde könnt ihr euch im Cyberspace buchstäblich verirren, sobald ihr gegen Ende des Spiels die Schlüssel zu allen Türen erhalten habt - doch ihr trefft weder Freund noch Feind noch bekommt ihr sonst irgendetwas zu tun. Tatsächlich müsst ihr den virtuellen Raum nicht einmal ausführlich erkunden. Hin und wieder lassen sich verschlossene Türen in der Realität zwar nur öffnen, wenn Baldur den Cyberspace betritt, um dort ein paralleles Tor aufzustoßen. Doch zum Einen verkommen diese ohnehin halbgaren "Rätsel" nach dem ersten Level zum reinen Gehe-in-den-Cyberspace-und-drücke-einen-Knopf und zum Anderen dient der virtuelle Raum vor allem als Sammelstelle für neue Gegenstände.

Wer seine Vorstellung bemüht, entdeckt in der anfänglich harmonischen Welt immerhin die Anfänge von Ragnarök: Ein Cyberspace, in dem sich gigantische Wurzeln quer über den Himmel erstrecken, in dem Bruchstücke des Bodens herausgerissen in der Luft schweben und auseinander fallen und in dem glutrote Felsen scheinbar den Anfang des Krieges vorhersagen, ist eine bildgewaltige Kulisse, in der ihr eurer Fantasie freien Lauf lassen dürft. Gleichzeitig wirkt er aber wie die Momentaufnahme eines großen Einfalls, der nie zu Ende gedacht wurde.

Im Handumdrehen ein Gott

Wer Action sucht und auf die langen Laufwege der virtuellen Erkundung keine Lust hat, findet zum Glück eine kurzweilige Alternative: den kooperativen Mehrspieler-Kloppmist. Hier geht es einzig und allein darum, sich zum Verbessern von Baldurs Fähigkeiten und dem Sammeln weiterer Ausrüstung ins Abenteuer zu stürzen - Too Human erlaubt leider nicht das Fortführen der Handlung für zumindest einen der Spieler, wie es in anderen Titeln längst möglich ist. Ihr beginnt stets nur eine Partie in einem vom Gastgeber gewählten Abschnitt und gelangt anschließend zurück ins Hauptquartier, von wo aus ihr übrigens jederzeit die Kampagne fortsetzen oder einen bereits abgeschlossenen Level noch einmal absolvieren dürft. Abgesehen davon klingt das von Silicon Knights im Vorfeld angepriesene Zusammenspiel der beiden kooperativen Partner nach mehr als es letztendlich geworden ist. Schließlich ist das zuvor beschriebene, kurze Aufwerten einer bestimmten Fähigkeit schon alles, was Too Human in Sachen Mehrspieler-Umfang

Der Fähigkeiten-Dreizack: Jede Charakterklasse bietet drei unterschiedliche Entwicklungswege.
auszeichnet. Natürlich kracht es zufrieden stellend, wenn man sich zu zweit unter die Horden der Robotergegner mischt - das ist allerdings das Mindeste, was ein auf Action getrimmtes Abenteuer leisten muss. Besonders praktisch ist die nur online verfügbare Spielweise natürlich für den schwächeren der zwei Spieler. Denn weil sich die Gegner stets auf der Stufe des stärksten Teilnehmers befinden und nach ihrem Ableben entsprechend viele Erfahrungspunkte wert sind, wird aus einem Level 4-Krieger schnell ein Level 12-Gott.

Im Gegensatz zu anderen Action-Rollenspielen fällt eine echte Identifizierung mit dem gewählten Charakter allerdings schwer. Denn obwohl ihr eurem Baldur eine von fünf Charakterklassen zuweist (Nahkämpfer, Fernkämpfer, Heiler, Verteidiger oder von jedem etwas), habt ihr z.B. anders als in Mass Effect keinen Einfluss auf sein Äußeres. Auch die für jede Klasse mögliche Entwicklung der Fähigkeiten verläuft auf einer der festen Bahnen eines Dreizacks. Im Gegenzug dürft ihr eure auf die Fähigkeiten verteilten Erfahrungspunkte gegen ein erträgliches Entgelt jederzeit zurücknehmen und neu verteilen, und ihr wählt zu Beginn, ob sich euer Alter Ego kybernetisch verändern oder den menschlichen Weg gehen soll. Erzählerisch hat dies leider keine Auswirkungen, spielerisch ändern sich immerhin wenige grundlegende Fähigkeiten im Kampf. Spätestens hier wird deutlich: Silicon Knights will mit einem leicht zugänglichen Mittelweg sowohl Actionfans als auch Rollenspieler zufrieden stellen. Vielleicht ist es ja gerade dieser Kompromiss, wegen dem Too Human irgendwo zwischen Epos und Groschenroman pendelt.  

Fazit

Wenn den Entwicklern am Ende des Spiels die Ideen ausgehen, wirkt Silicon Knights müde - und ihr Spiel wie der krampfhaft angestrebte Schlussstrich unter einem zehn Jahre alten Mammutprojekt. So beeindruckend die mythologische Science-Fiction-Welt auch aussieht und so überzeugend einige ihrer Akteure in Nahaufnahme wirken, so sehr gehen die Charaktere in der belanglosen Regiearbeit unter und so sehr ist die Technik mit den Schauplätzen überfordert. Den Cyberspace trifft ein ähnliches Schicksal: Lässt man sich gedanklich auf ihn ein, kann er unglaublich faszinierend sein. Will man ihn spielerisch nutzen, wird er zum lästigen Zeitfresser. Und auch kooperative Mehrspieler-Action ist eine hervorragende Idee - die andere Spiele aber konsequenter umsetzen, weil sie sie zum Einen auch offline und zum Anderen auch in die Kampagne einbetten. Letzten Endes schaffen es allein die wunderschöne Musik und das brachiale Kampfsystem mit seiner einzigartigen Steuerung, dass Baldur trotz vieler unfertiger Details immer weiter in die Intrigen der kybernetischen Götter vordringt. Auch den motivierenden Sammeltrieb schieben die Entwickler mit vielen normalen, einigen starken und sehr mächtigen seltenen Gegenstände an. Unterm Strich haben die Kanadier eins tatsächlich geschafft: Too Human ist wie ein gutes Buch. Es regt die Fantasie an, damit sich im Kopf des Publikums ein großes Epos abspielen möge. Schade nur, dass ein Spiel mehr tun muss, als Stichpunkte für die grauen Zellen zu geben. Silicon Knights hätte im wahrsten Sinne des Wortes mehr zeigen müssen, um jenes Epos zu inszenieren, von dem vor zehn Jahren womöglich die Rede war.

Pro

grandiose Orchester-/Chor-Musik
motivierende Jagd nach Waffen und Rüstung
Erfahrungspunkte jederzeit neu verteilen
brachiale Gefechte
ständiger Wechsel zwischen Nah- und Fernkampf
grandiose, weitläufige Kulissen
schicke Monster
spannendes, wenn auch „geklautes“ Epos
automatisches Ablegen schwächerer Gegenstände
spaßiges Koop-Spiel über Xbox Live

Kontra

lieblos zusammengeschusterte "Film"szenen
etwas unzuverlässige automatische Zielerfassung
Baldur bleibt mitunter über Gegnern in Luft hängen
besonders in Massenschlachten fehlt oft die Übersicht
lange Eingewöhnungszeit
Stottern bringt Timing für Kombo-Angriffe durcheinander
nerviges "Ableben und Wiederauferstehung"
keine aktive Heilung 
einige Nerven kostende Tode
praktisch unbrauchbare Mitstreiter
zähes Navigieren durchs Menü
furchtbar geradlinige Levels
kein Koop-Spiel während der Kampagne
viel zu lange Laufwege
spielerisch praktisch sinnloser Cyberspace

Wertung

360

Erzählerisch gut gemeinter, aber leider nicht gut gemachter Science-Fiction-Mythos

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