Planescape: Torment29.05.2012, Jörg Luibl
Planescape: Torment

Special: Mit Morte unterwegs

Ein Mann wacht in einer Leichenhalle auf. So richtig gut sieht er nicht mehr aus - der graue Teint, die vielen Narben und der irre Blick erinnern eher an einen Ghul. Der Typ mit dem schwarzen Haar ist komplett verwirrt und weiß scheinbar nicht, wie und warum er dort gelandet ist. Wo ist man überhaupt? Wer ist man eigentlich? Ein Entführungsopfer, ein Zombie, ein Geist, vielleicht unsterblich, gar ein Gott oder träumt man gerade?

Der kollegiale Schädel

Fragen über Fragen, aber keine Bange: Es gab auch Antworten über Antworten in einem der mitteilsamsten und faszinierendsten Rollenspiele aller Zeiten. In Planescape durfte man gleich zu Beginn als wandelnder Verwirrter mit einem auf cool machenden Schädel reden - und das nicht zu knapp. Der schwebende Knochenkopf hieß „Morte“ und war ebenfalls in dieser seltsamen Welt gefangen. Aber seine Hinweise waren gerade zu Beginn überaus hilfreich in einem nicht leicht zu durchschauenden Abenteuer, das sich irgendwie anders anfühlte als gewöhnliche D&D-Kampagnen: Wo war der Keller mit der Rattenplage? Wo waren Zwerge, Gnolle und Kurzschwert+1?

Torment erschien am 12. Dezember 1999 in USA, am 3. Januar 2000 hierzulande. Zunächst war übrigens Guido Henkel (Das Schwarze Auge-Trilogie) federführend beteiligt, aber verließ das Team aufgrund interner Streitigkeiten mit Interplay.
Immerhin nahm der endlos plappernde Schädel sein Schicksal mit Humor, versprühte die Leichenhalle für ihn z.B. „den architektonischen Charme einer schwangeren Spinne.“ Die erste Quest entzifferte Morte dann auf dem Rücken des Namenlosen, der mit mehrzeiligen Tätowierungen übersät war: Finde Pharod! Wen? Es gab damals weder einen goldenen Pfad noch eine Karte mit blinkendem Ziel.

Das war der Auftakt für ein wortwitziges, sympathisch rätselhaftes und streckenweise tiefgründiges Epos, das selbst gestählte Tolstoi-Leser vor eine harte Lektüreprobe stellte: Die Anzahl der Textzeilen sprengte die Million und erforderte viel Geduld – es soll Gerüchten zufolge noch heute mumifizierte Rollenspieler geben, deren Scrollfinger willenlos durch die Verdammnis zuckt. Vor allem, wenn man mit dieser anspruchsvollsten Fantasywelt des D&D-Universums nicht vertraut war, konnte die verrückte Reise durch die Ebenen ein obskures Buch mit sieben Siegeln bleiben. Wer es öffnete, sich hinein ziehen ließ, dabei aufmerksam und aktiv erkundete, erlebte jedoch eines der unterhaltsamsten virtuellen Abenteuer. Zunächst konnten die Entwickler der Black Isle Studios, darunter auch der Deutsche Guido Henkel (Ooze, Das Schwarze Auge), ihrer Kreativität freien Lauf lassen, aber als Publisher Interplay an die Börse ging, wurde nicht nur an einigen Stellen des Spieldesigns und der Story herein geredet, was letztlich zum Bruch mit dem Deutschen führte.

Fünf bizarre Gefährten

Die Pen&Paper-Wurzeln:

Planescape Torment beruht auf dem Pen&Paper-Szenario „Planescape“, das 1994 für die Fantasywelt von Dungeons & Dragons entwickelt wurde. Es nutzte das AD&D-Regelwerk in zweiter Edition und sollte einen kosmologischen Hintergrund liefern, der nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch alle Spielwelten wie die Vergessenen Reiche, Ravenloft oder Dark Sun miteinander verbinden konnte – wie eine Art zentraler Bahnhof, auf dem Abenteurer reisen und Götter mit Dämonen oder Menschen zanken konnten. Mittlerweile wird die Welt allerdings nicht mehr von Wizards of the Coast unterstützt. Trotzdem ist das Drehbuch hinsichtlich seiner Tiefe bis heute unerreicht. Dabei gab es nur sieben mögliche Gefährten für die Fünfergruppe und neun Nebencharaktere. Doch die hatten nicht nur verdammt viel zu erzählen, sondern leiteten mit ihren wertvollen Hinweisen an den Spieler auch den Beginn der Partyinteraktion ein, die in Baldur's Gate 2 (2000) und Star Wars: Knights of the Old Republic (2003) ihren Höhepunkt erreichte. Hinzu kamen sehr gut ausgearbeitete Biographien, die alles andere als dem üblichen Konsens der D&D-Charakterwahl entsprachen: Echsenartige Gestaltwandler, durchgeknallte Mechanoide und fanatische Killer, planetare Wesen und eine Lady des Schmerzes erschienen auf der isometrischen Bühne. Dort wurde vom Intellektuellenpuff bis zur schwangeren Mauer auch hinsichtlich der Orte ein Theater der Absonderlichkeiten inszeniert.

Gerade die Vielfalt an Kreaturen und Schicksalen, Schauplätzen und Motivationen machte Planescape erzählerisch so interessant. Es kam auf den Ebenen zu skurrilen Situationen und Gesprächen, es ging nicht nur plump um Gut und Böse, sondern um facettenreiche Moralvorstellungen  jenseits eingefahrener Weltbilder – zumal sich der Held ganz im Gegensatz zu bisherigen Spielen je nach Verhalten in einem ständigen philosophischen und beruflichen Wandel befand: Ob neutral, gut oder böse, ob Zauberer, Schurke oder Krieger. Der Dialog war hier wesentlich interessanter als die effektive Karriere oder der Kampf und für kommunikative Lösungen sammelte man auch mehr Erfahrung. Aber damit war es auch Fantasy für Fortgeschrittene: Selbst unter Pen&Paper-Fans galt Planescape als interessanter, aber schwer zugänglicher Exot. Und Black Isle übertrug den Anspruch  auf das Computerspiel.

Intelligente Kommunikation

Obwohl die Charaktererschaffung klassisch wirkte, musste man umdenken und vor allem Intelligenz, Charisma und Weisheit verbessern, um Erfolg zu haben.
Natürlich gab es auch klassische Elemente: Der Held hatte Charakterwerte, die er steigern konnte, stürzte sich in Gefechte gegen Monster, sammelte Gegenstände und Zauber, bekam Aufgaben und konnte sich zudem diversen Fraktionen anschließen - nur die Rüstung verstärkte er über Tätowierungen. Aber obwohl das Spiel auf den ersten Blick so aussah wie das 1998 veröffentlichte Baldur’s Gate, dieselbe Engine nutzte und ebenfalls im D&D-Universum spielte, war es komplett anders gestrickt. Kampf, Aufstieg, Beute? Alles nebensächlich! Deshalb muss sich Planescape vorwerfen lassen, dass es zu viele unnötige Altlasten mit sich herum schleppte, die zunächst nach klassischer Fantasy rochen – wer nichtsahnend losspielte und seinen Charakter danach formte, hatte es schwer oder gab vielleicht vorzeitig auf.

Zwar konnte Morte von Beginn an zubeißen und die anderen Gefährten ebenso zuschlagen wie zaubern, aber viel wichtiger waren die Antworten in den Gesprächen, die wiederum je nach Wahl und Fähigkeiten mehrere kommunikative Wege öffneten und die vielschichtige Handlung voran trieben. Bei der Charaktererschaffung konnte man zwar Punkte auf Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Weisheit, Charisma und Intelligenz verteilen, aber relevant waren letztlich nur die letzten drei. Das Denken, Urteilen und der gesunde Menschenverstand waren also viel wichtiger als der Schwertarm, Feuerbälle oder Melfs Säurepfeile, die später durch die Icewind Dales zischten. Hinzu kam, dass man über die Intelligenz mehr Möglichkeiten in den Dialogen sowie bessere Zauber zur Verfügung hatte.

Ein Rollenspiel-Saurier

Es gab zwar auch Kämpfe und über 100 Zauber, aber die clevere Kommunikation über verschachtelte Dialoge stand im Mittelpunkt.
Heutzutage wirkt das Rollenspiel der Black Isle Studios wie ein urzeitlicher Saurier, der mit seinem erzählerischen Anspruch nicht in die schnelllebige Klick&Blöd-Welt mit all ihren Leveltretmühlen und Tutorialkrücken passen will - ähnlich gelagerte Konzepte gibt es nur noch über Kickstarter. Aber schon um das Jahr 2000 herum hatte es das anspruchsvolle Abenteuer der Black Isle Studios schwer, zumal Interplay angesichts des wirtschaftlichen Risikos plötzlich mit ins Spieldesign hinein pfuschen wollte und es nicht wirklich clever über Marketing und PR platziert hat. Letztlich wollten sich nur 400.000 Spieler auf die Exotik und die Dialogfülle von Planescape Torment einlassen, während sich das ein Jahr zuvor veröffentlichte Baldur’s Gate mit knapp zwei Millionen Verkäufen erfolgreich etablieren und weiter entwickeln konnte.

Aber die Zeit ist letztlich ein besserer Kritiker als der Nettogewinn oder die Zustimmung der Masse: Fragt man heute in geselliger Ü30-Runde, welches Rollenspiel zu den Besten aller Zeiten gehört, wird mit Sicherheit Planescape Torment genannt. Es hat sich den Nachruhm verdient, weil es das Phänomen Rollenspiel entscheidend geprägt und die Spielewelt erzählerisch bereichert hat.

 
0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.