Ingress04.06.2013, Jan Wöbbeking
Ingress

Special:

Seit rund zehn Jahren wird der „Augmented Reality“ die große Zukunft prophezeit. Nach Eyetoy, Kinect und Handheld-Spielen wie Invizimals interpretiert Google den Begriff jetzt auf andere Weise. Statt Computergrafik in die abgefilmte Realität einzubinden, setzt der Konzern auf die Infrastruktur von Google Maps: An Sehenswürdigkeiten und anderen auffälligen Orten kämpfen zwei Fraktionen um magisch leuchtende Portale.

Globale Schnitzeljagd

Noch befindet sich das Spiel in der Beta-Phase. Wer mitmachen möchte benötigt eine Einladung (hier kann man sich bewerben ) sowie ein Android-Smartphone oder –Tablet mit GPS-Empfänger. Keine Überraschung: Für Apples Konkurrenzplattformen plant Google keine Umsetzung. Hinter Ingress steckt im Wesentlichen ein einfach gestricktes, aber zunächst gar nicht so einfach durchschaubares Strategiespiel, das im Freien stattfindet. Als Vorbild dienen Dienste wie Foursquare und Google Places sowie natürlich das klassische Geo-Caching. Letzteres ist eine Art Schnitzeljagd bei der sich kleine Teams auf die Suche nach Geheimnissen machen, die vorher von anderen Spielern an bestimmten Koordinaten versteckt wurden.

Ingress breitet das Prinzip auf die komplette Welt aus: Der Geschichte nach wurde im Schweizer Kernforschungszentrum CERN per Zufall eine eigentümliche Energie entdeckt, welche überall auf der Welt aus Portalen entweicht. Kurz darauf gründen sich unter den

Portale erscheine meist an Sehenswürdigkeiten oder anderen auffälligen Objekten, welche durch kreative Gedanken entstanden sind. Nimmt die exotische Materie auch ihrerseits Einfluss auf die Gedanken der Menschen?
Portale erscheine meist an Sehenswürdigkeiten oder anderen auffälligen Objekten, welche durch kreative Gedanken entstanden sind. Nimmt die exotische Materie auch ihrerseits Einfluss auf die Gedanken der Menschen?
Menschen zwei Fraktionen: Die „Enlightened“ sehen eine Chance in der neuen „exotischen Materie“ (XM) , die skeptische „Resistance“ warnt vor möglichen Gefahren der kaum erforschten Kraft. Da mich der Begriff Erleuchtete an die Illuminaten erinnert, schließe ich mich spontan dem Widerstand an und bin damit nicht alleine. Im Land des Atomausstiegs haben die Kritiker die Oberhand und auch weltweit kämpfen die Erleuchteten gegen eine blau glühende Übermacht.

Real Life 2.0

Also mache ich mich auf, um unsere Dominanz zu festigen. Mein erster Gang vor die Tür bringt mir nicht viel: Rund um unseren abgelegenen Bürokomplex existiert kein einziges Portal. Im benachbarten Eppendorf sieht die Lage schon ganz anders aus: Hier liegt ein regelrechtes Spinnennetz aus miteinander verbundenen Portalen über der Karte. Es gibt alte Fachwerkhäuser, kleine Statuen und offenbar auch eine sehr lebendige Community, welche immer neue Sehenswürdigkeiten fotografiert und bei den Entwicklern einreicht, um neue Portale entstehen zu lassen. Der Spielbildschirm ähnelt Google Maps, ist allerdings in einem verschwörungskompatiblen dunklen Farbschema gehalten und von bunt glühenden Punkten übersät.

Jeder Stützpunkt, der in meinen Radius gelangt, wird von mir gehackt (auch das Einloggen in freundliche Portale heißt hier seltsamerweise „hacken“). Das funktioniert erstaunlich simpel: Einfach aufs Portal tippen und „hack“ wählen – fertig. Zur Belohnung bekomme ich ein paar Gegenstände, welche mir später nützlich werden: Resonatoren, Schilde und „XMP-Burster“ genannte Waffen.

Spielbare Verschwörungstheorie

Attacke: Mit kleinen XMP-Burstern leert man die Energie feindlicher Resonatoren und übernimmt dann das Portal. Das Verknüpfen von Portalen zu einem Dreieck bringt besonders viel Erfahrungspunkte ein.
Attacke: Mit kleinen XMP-Burstern leert man die Energie feindlicher Resonatoren und übernimmt dann das Portal. Das Verknüpfen von Portalen zu einem Dreieck bringt besonders viel Erfahrungspunkte.
Auch der Rest der Spielgrafik wirkt äußerst schlicht und beschränkt sich auf glühende Symbole. Obwohl Google das Spiel mit dem Begriff "Augmented Reality" bewirbt, wird die Umgebung nicht abgefilmt und auch keinerlei Computergrafik mit realen Objekten verschmolzen. Lediglich selbstgeknipste Fotos darf man einreichen, damit sie gegen das ursprüngliche des jeweiligen Portals ausgetauscht werden. Damit das Geschehen nicht zu technisch aussieht, unterfüttern die Entwickler die Geschichte mit viel Extra-Material. Immer wieder finde ich neue Folgen einer professionell produzierten Nachrichtensendung aus dem Ingress-Universum, die über geheimnisvolle Entführungen und Ausflüge der Community berichtet. Wer Lust und Zeit hat, kann außerdem auf Nianticproject.com in geheimen Unterlagen nach Bonus-Codes stöbern.

Als ich an der U-Bahn-Haltestelle Hamburger Straße ankomme, werden meine frisch verdienten Extras nützlich: Ein Erleuchteter hat sich das Portal am Eingang unter den Nagel gerissen. Also feuere ich eine ganze Reihe der kleinen Waffen ab. Meine Ziele sind so genannte Resonatoren, also kleine Energie-Verstärker, welche mein Gegner rund um das Portal aufgestellt hat. Je näher ich ihnen bei der Attacke komme, desto größer der Schaden. Der Angriff erweist sich kniffliger als erwartet: Da mein GPS oder Google Maps plötzlich herumspinnt, gleitet mein Dreieck wild auf der Karte umher. Nach einem seltsamen Zickzack-Kurs rund ums Bahnhofsgebäude versuche ich es auf einem kleinen Privatweg. Bingo! Der Gang hinter die Dönerbude hat sich bezahlt gemacht: Der letzte Resonator ist zerbröselt, das Portal gehört mir! Schnell statte ich es mit eigenen Resonatoren aus, und zwar möglichst weit entfernt, damit es der nächste "Grüne" nicht zu einfach hat. Dann noch eine Verstärkung mit vier Schilden einrichten und weiter geht es.

Verdächtiger Zickzack-Kurs

Die Landungsbrücken aus der Sicht der Kamera...
Die Landungsbrücken aus der Sicht der Kamera...
Auch mein Ausflug an die Landungsbrücken weckt verwunderte Blicke. Ein aufs Smartphone glotzender Passant ist weiß Gott nichts Ungewöhnliches, doch als ich im Zickzack durch Touristenströme schreite, fühlt sich das schon ein wenig seltsam an. Vor allem, weil ich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen habe, um den schneidenden Wind zu entschärfen. „Was machen Sie eigentlich da?“ „Ich suche den optimalen Punkt zum Zünden meiner XMP-Waffe.“ Gespräche wie diese könnten nach dem Anschlag auf den Bostoner Marathon für einige Missverständnisse sorgen.

Auch technische Probleme stiften mitunter Verwirrung: Ein Portal des Segelschiffs Rickmer Rickmers verschwand z.B. urplötzlich von der Karte. Ein anderes gehörte je nach Menü-Ansicht mal uns und mal den Erleuchteten. Es gab allerdings auch erfreuliche Überraschungen: Am Rande des Portugiesenviertels erschienen urplötzlich zwei herrenlose graue Portale aus dem Nichts. Natürlich habe ich sie mir sofort geschnappt – eines davon gehört zur Statue des berühmten Wasserträgers Johann Wilhelm Bentz (Hummel Hummel – Mors Mors!).

Gemeinsam gegen die Erleuchteten

...und aus der Sicht des Spiels.
...und aus der Sicht des Spiels.
Auf dem Weg zwischen den Portalen liegen immer wieder Exotic-Matter-Kristalle verstreut, die als Ressourcen für diverse Aktionen dienen. Nach einem Level-Aufstieg kann ich mehr davon mit mir herumtragen. Auch Portale, Waffen und Extras gibt es in unterschiedlicher Stärke. Am meisten Spaß macht es natürlich, wie beim Geo-Cashing gemeinsam loszuziehen. Außerdem verschafft es einen strategischen Vorteil, wenn man sich gegenseitig mit Gadgets unterstützt. Wer Kontakt zu anderen Spielern aufnehmen möchte, sollte sich auf Google Plus umsehen oder direkt im simpel gehaltenen Chat-Fenster posten. In Letzterem lässt sich die Unterhaltung allerdings nur auf die eigene Fraktion oder den Umkreis von mindestens 20 Kilometern einschränken. Wer sich einen entsprechende Schlüssel schnappt, kann seine angegriffenen Stützpunkte übrigens auch aus der Ferne aufpäppeln.

Fazit:

Meine ersten Ausflüge in die Welt von Ingress haben mein Interesse geweckt. Es steckt zwar kein allzu komplexes Spiel hinter dem Einnehmen der Portale, trotzdem hatte ich Spaß daran, die Stadt und immer mehr Geheimnisse über die exotische Materie zu entdecken. Die Suche nach Portalen hat mich schon nach ein paar Tagen an jede Menge interessante Ecken geführt, welche ich sonst vermutlich nie kennengelernt hätte. Am unterhaltsamsten ist es natürlich, sich das eigene Viertel unter den Nagel zu reißen - oder mit Freunden loszuziehen. In ländlichen Gebieten gestaltet sich die Jagd weit weniger spannend, weil die wenigen Portale dort sehr stark verstreut sind. Schade auch, dass sich Aktionen wie der Angriff und das Hacken so schlicht gestalten. Auch die intensive Nutzung von Bewegungsdaten hinterlässt bei mir ein mulmiges Gefühl. Außerdem wird hier nicht einmal die Realität mit Computergrafik verschmolzen wie z.B. in Invizimals oder anderen Augmented-Reality-Titeln. Im Gegenzug nutzt Google aber eines seiner mächtigsten Werkzeuge für ein Spiel auf dem kompletten Globus. Ich bin gespannt, wie sich die Idee weiter entwickelt und ob auch komplexere Titel darauf aufbauen.

 
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