Pandemic Legacy - Season 115.01.2016, Jörg Luibl
Pandemic Legacy - Season 1

Special: Panik von Paris bis Tokyo

Ihr wollt nur mal schnell die Welt retten? Dann Finger weg von Pandemic Legacy! Das knallharte Brettspiel von  Rob Daviau und Matt Leacock verlangt nicht nur clevere Planung von bis zu vier Spielern, sondern hinterlässt dauerhaft Narben, zerrissene Karten und eine Spur der Zerstörung zwischen Washington und Tokyo. Warum wir es Freunden von kooperativer Taktik wärmstens empfehlen, verrät der Test.

Kooperativer Wettlauf um Heilmittel

Nein, das darf doch nicht wahr sein! Wir waren soooooo knapp davor, das letzte Heilmittel zu finden. Und jetzt das: Ende Gelände, Spiel verloren. Warum? Weil es in Seoul zu einem Ausbruch kam, der sich auf die benachbarten Städte ausgeweitet und dort wiederum für Chaos gesorgt hat – diese verdammte Kettenreaktion hat unsere bis dato gut koordinierten Pläne zunichte gemacht. Schaut man sich die Weltkarte an, erkennt man bereits eine Spur der Zerstörung anhand der Sticker, die neben verseuchten Städten kleben. Trotzdem werden wir es nochmal versuchen, denn ein Spiel steht hier nur für einen Monat – wir haben also eine Schlacht, aber noch nicht den Krieg gegen die Pandemie verloren.

Der Sanitäter "Jack" hat schon etwas abbekommen: Zwei Narben sorgen für Handicaps, aber eine Sonderfähigkeit schützt ihn.
Moment mal: Sticker? Ja, viele bunte Sticker. Ähnlich wie in Risiko Evolution, das ebenfalls von Rob Daviau konzipiert wurde, verändert sich die Welt permanent. Sobald Panik in einer Stadt ausbricht, weil man einen vierten Stein gleicher Farbe dort platzieren müsste, klebt man einen weißen Sticker auf die Karte, der die Intensität symbolisiert. Kommt es hier zu weiteren Ausbrüchen, folgen gelbe, orange oder üble rote Sticker der totalen Zerstörung bei Panikstufe 5. Werden die irgendwann entfernt? Nein, ihr müsst in allen folgenden Partien mit den Konsequenzen leben – auch euer Charakter.

Narben und Sonderfähigkeiten

Pandemic Legacy ist komplett auf Deutsch bei Asmodee erschienen. Es kostet knapp 50 Euro und ist für zwei bis vier Spieler ausgelegt. Es gibt eine blaue und rote Ausgabe, die inhaltsgleich sind.
Eure Spielfigur war in Seoul als die Seuche ausbrach? Pech gehabt, denn jetzt müsst ihr eine von zwölf Narben wie z.B. „Schlaflos“ oder „Schuldgefühl“ aussuchen und auf eure Charakterkarte kleben – diese sorgen dann für kleine Nachteile wie etwa weniger Handkarten oder häufigeres Abwerfen. Vorsicht: Wenn man die dritte Narbe hinnehmen muss, stirbt man, also bloß nicht zu nah ran an Städte mit vielen Viren! Aber keine Bange, man kann auch etwas gegensteuern. Wichtig für die Balance ist, dass es auch sechs Sonderfähigkeiten mit positiven Folgen gibt; wer etwa „Bärbeißig“ wählt, ist in Zukunft immun gegen Narben und kann demzufolge nicht sterben - cool.

So gewinnen die fünf wählbaren Spezialisten noch mehr Konturen und Persönlichkeit. Zwar versucht man als Team zu gewinnen, aber jeder schlüpft in die Rolle eines Experten von der Forscherin bis zum Generalisten, die ein bis zwei exklusive Aktionen hinsichtlich der Bewegung oder dem Kartenzug ausführen können. Nur der Sanitäter darf z.B. ohne Heilmittel alle Virensteine in einer Stadt entfernen – die anderen nur einen. Ziel des Spiels ist es, Gegenmittel zu allen Epidemien zu erforschen, hinzu kommen Aufgaben und Ereignisse, die man nicht zufällig, sondern von einem klar strukturierten Stapel zieht, der also einer gewissen Regie folgt. Es gibt aber nicht nur einen erzählerischen Rahmen, sondern auch einige tolle Überraschungen und dramaturgische Wendepunkte.

Zerreißen, rubbeln, sterben

Cool ist nämlich auch, dass man ständig etwas Neues aus der Box öffnet: Da ist dieser knallrote Top-Secret-Umschlag mit seinen nummerierten Dossiers, die wie bei einem Adventskalender weitere Informationen hinter Türchen verbergen. Was da wohl alles auf die Welt zukommt? Da sind die versiegelten schwarzen Boxen, die vielleicht weiteres Spielmaterial enthalten. All das hält natürlich die Neugier aufrecht, zumal man nicht nur die Weltkarte und seine Charakterbögen beklebt, sondern auch Karten freirubbelt oder tatsächlich zerreißt. Richtig gehört: Man bekommt vielleicht die Anweisung, eine Aufgabenkarte zu zerreißen…

Dauerhafte Folgen: Karten werden zerrissen, andere aufgerubbelt, Boxen geöffnet und geheime Dossiers vorgelesen.
Die schrittweise Zerstörung der Spielwelt wirkt sich auch auf die Infrastruktur aus, denn man kann Städte mit vielen Ausbrüchen nicht mehr so einfach erreichen. Zu Beginn düst man noch relativ frei per Auto, Schiff oder Flieger um die Welt, aber je mehr Partien man spielt, desto schwieriger und kostspieliger wird die Anreise zu versehrten Orten, weil man zusätzlich Karten dafür abwerfen muss – die man natürlich auch für die Heilmittel braucht. Pandemic Legacy erinnert dann mitunter an den Klassiker Scotland Yard, wenn man nach möglichst effizienten Wegen sucht, um von A nach B zu kommen.

Taktische Gegenmaßnahmen

Im Januar sieht noch alles fast noch friedlich aus - aber die Weltkarte wird bald von einer Spur der Zerstörung heimgesucht, die durch Sticker symbolisiert wird.
Auch wenn Pandemic Legacy ständig für ein Gefühl der Eskalation sorgt, auch wenn man wie die Feuerwehr von einem Brandherd zum nächsten gescheucht wird und sich vielleicht ohnmächtig fühlt: Man kann gegensteuern. Nicht nur über die clevere Zusammenarbeit, was die möglichst effiziente Anreise sowie den Austausch von Karten betrifft, der sehr wichtig ist – man muss also viel miteinander kommunizieren. Hinzu kommen neben der Wahl von Sonderfähigkeiten auch weitere dauerhafte Boni wie z.B. „gutartige Mutationen“.

Immer wenn es gelingt, einen Virus komplett auszurotten, indem man erst ein Heilmittel erforscht und dann bis zum Spielende alle Steine der Farbe beseitigt, darf man auf den Virus einen Sticker wie „Bekannte Struktur“ kleben, die ihn in Zukunft leichter heilbar macht – dann muss man für eine Behandlung vielleicht nicht mehr in einem Forschungszentrum sein. Hinzu kommt, dass man auch die Stadtkarten aufrüsten kann, indem man sie mit freien Ereignissen wie „Experimentelles Programm“ beklebt, um z.B. irgendwo und jederzeit einen Stein zu entfernen – das kann sehr nützlich sein, weil man genau so eine Kettenreaktion verhindern kann.

Die schleichende Eskalation

Wie im Vorgänger Pandemie liegen zu Beginn lediglich in neun Metropolen drei, zwei oder ein Stein. Aber jedesmal, wenn man Karten vom Infektionsstapel zieht, werden weitere ausgelegt und die Angst am Tisch wächst. Was zunächst harmlos aussieht (och, da ein bisschen gelbe Seuche in Kairo, da etwas schwarze Pest in Sydney - das kriegen wir schon hin!),

Man klebt Sticker sowohl auf die Weltkarte als auch die Charakter- und Stadtkarten. Darunter hilfreiche Ereignisse...
mutiert rasch zu einer hoch brisanten Bedrohung, denn Pandemic Legacy nutzt dasselbe durchdachte System der Eskalation, bei dem lokale Erreger auf ganze Kontinente überspringen können. Jeder Kartenzug ist spannend: Oh nein, die blaue Seuche wird nicht etwa in Essen ausbrechen? Doch. Meist genau da, wo man sie nicht will...

Vor allem die Infektionsrate sorgt für zusätzliche Panik. Sie bestimmt, wie viele Stadtkarten man vom Infektionsstapel ziehen muss - und sie kann bis auf vier steigen! Zu Beginn steht sie bei zwei, aber mit jeder Epidemie steigt sie an. Die Welt ist verloren und das Spiel vorbei, wenn es keine Seuchensteine einer Farbe mehr gibt, wenn es zum achten Ausbruch kommt oder keine Spielerkarten mehr zur Verfügung stehen. Kann man den Schwierigkeitsgrad gar nicht anpassen? Doch: Verliert man in einem Monat, spielt man ihn erneut und darf zwei zusätzliche Ereignisse mit positiven Sofortwirkungen in den Kartenstapel mischen – so kann man z.B. ohne Aktion mal eben eine Infektion verhindern.

Was gefällt nicht so gut?

Natürlich besitzt Pandemic Legacy keine klassische „Wiederspielbarkeit“, wenn man Sitzung für Sitzung die Weltkarte beklebt, Karten zerreißt oder aufrubbelt – all das lässt sich ja nicht rückgängig machen. Aber dafür spielt man dieses Pandemic Legacy auch über zwölf simulierte Monate, und muss den einen oder anderen sicher wiederholen, weil man es nicht auf Anhieb schafft. Hinzu kommt, dass es sich um „Season 1“ handelt - man schafft sich also (hoffentlich) eine Grundlage für den Nachfolger Season 2. Wer will, der kann natürlich nur das Grundspiel

Wenn der grüne Ausbruchsmarker den Schädel erreicht, heißt es: Spiel verloren! Aber keine Bange: Man kann einen Monat wiederholen...
ohne Sticker & Co spielen. Da wären wir auch schon beim größten Kritikpunkt, denn das gleicht dem von mir bereits vorgestellten Pandemie aus dem Jahr 2010 bis auf das modernisierte Artdesign wie ein Zwilling. Besonders anspruchsvoll ist die Taktik innerhalb der Züge nicht, es geht eher um effiziente Kommunikation und optimale Reaktionen..

Fazit

Pandemic Legacy hätte Blood Rage bei der Wahl zum Spiel des Jahres 2015 knapp geschlagen, wenn ich den Test denn bis dahin geschafft hätte. Der kooperative Kampf gegen die Epidemien sorgt für ungeheure Spannung und ein einzigartiges Kampagnengefühl am Tisch mit wunderbaren Eskalationen. Es könnte auch Virus Souls heißen, denn der Schwierigkeitsgrad ist knackig. Aber nicht etwa, weil das Regelwerk komplex wäre – im Gegenteil: Es ist mit seinem Karten-Management leicht verständlich und man kommt sehr schnell in einen Spielfluss, der mit seiner effizienten Routenplanung en wenig an Scotland Yard erinnert. Der Anspruch entsteht dadurch, dass das System der Kettenreaktionen so gnadenlos und die eigenen Entscheidungen so folgenreich für künftige Partien sind. Aber man kann als Team auch gegenwirken, sich für die Zukunft mit Fähigkeiten und Forschungen wappnen. Ich mag dieses Prinzip der dauerhaften Veränderung über Aufkleber, Rubbelei sowie das Zerreißen von Karten sehr gerne, denn es sorgt für spürbare Konsequenzen, so dass man jede Partie konzentriert spielt. Schnell kann man die Welt hier nicht retten, aber dafür hochspannend mit viel Kommunikation und Teamwork über ein simuliertes Jahr. Ein klasse Brettspiel, das es in unsere Top 20 geschafft hat!

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir wollen euch alle zwei Wochen kreative Geheimtipps und ungewöhnliche Spieleperlen empfehlen, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

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