Magic: The Gathering19.01.2018, Jörg Luibl

Special: Die Macht der Magie

"Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, dass man keine Gelegenheit versäumen sollte, dieses Fachgebiet unterhaltsamer zu gestalten." Dieses Zitat aus dem 17. Jahrhundert von Blaise Pascal könnte auch von seinem späteren Kollegen im Geiste stammen. Denn der promovierte Mathematiker Richard Garfield erfand während seines Studiums das erste und bis heute populäre Sammelkartenspiel Magic: The Gathering. Warum der 1993 veröffentlichte arkane Kampf immer noch für Unterhaltung sorgt, verraten wir im Test. Wer wissen will, wie man überhaupt spielt, sollte sich Eikes Video-Guide ansehen.

Kreativer Pionier

Ein Doktor der Mathematik, der sich mit Magie beschäftigt? Zwei Zauberer, die sich mit Karten duellieren? Was 1993 zunächst komisch klingt, entpuppt sich, ähnlich wie drei Jahre später die Pokémon, als geniale Kombination - nicht nur hinsichtlich des Profits für die damals kleine amerikanische Firma Wizards of the Coast , sondern vor allem für die Spielkultur. Denn Richard Garfield begründete mit Magic: The Gathering (Magic) das komplett neue Genre der Sammelkartenspiele, das heute in nahezu allen populären Welten von Star Wars bis Game of Thrones wie selbstverständlich auftaucht. Aus der Urform der "Trading Card Games" hat sich dann eine weitere Strömung in Form der so genannten "Living Card Games" entwickelt: erst kürzlich habe ich Legend of the Five Rings sowie Arkham Horror vorgestellt.

Richard Garfield wurde 1963 in Philadelphia geboren und promovierte in Mathematik. Bildquelle: QuietSpeculation, Interview 2014 .

Verspielte Biographie

Richard Garfield konnte sich nach dem Erfolg von Magic aus der universitären Laufbahn an der Universiät Philadelphia, an der er 1993 immerhin noch in kombinatorischer Mathematik promovierte ("On the Residue Classes of Combinatorial Families of Numbers"), zurückziehen und voll auf die Entwicklung von Spielen konzentrieren. Und er war fleißig: In seiner Zeit als Autor für Wizards of the Coast hat er nicht nur an der dritten Edition von Dungeons & Dragons mitgearbeitet sowie weitere Sammelkartenspiele zu BattleTech, Vampire oder Star Wars konzipiert, sondern u.a. Spiele wie Roborun, King of Tokyo und auch Android: Netrunner, ein weiteres Beispiel für die Spieltiefe und den Facettenreichtum der modernen Kartentaktik, beruht auf seinen Ideen. Erst kürzlich wurde sein Bunny Kingdom auf der SPIEL 17 angekündigt, außerdem trägt er immer noch etwas zu aktuellen Editionen von Magic bei, wie etwa zur 78. Erweiterung Dominaria, die am 27. April 2018 veröffentlicht wird. Mittlerweile konzentriert er sich mit seiner Firma Three Donkeys auf Beratung im Bereich analoges sowie digitales Spieldesign, ist u.a. für Microsoft tätig gewesen.

Die Wurzeln des Erfolges

Warum ist sein Magic bis heute in aller Welt so erfolgreich? Warum wird es 25 Jahre nach der Premiere noch so gerne gespielt? Woher kommt diese Akzeptanz? Es ist ja auf den ersten Blick ein recht simples Spiel, das euch Eike in diesem Video erklärt. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der Erfolg viele Ursachen hat. Vermutlich war sich Garfield damals gar nicht bewusst, weshalb er einen Nerv traf.

Zum einen darf man nicht vergessen, dass Kartenspiele seit Jahrhunderten tief in unserer Gesellschaft verankert sind - sie gehören von Mau-Mau über Rommé bis Doppelkopf zu den besten Spontanzaubern gegen Langeweile. Auch in Magic geht es ja letztlich darum, "Stiche" gegen seine Kontrahenten zu machen, zufällig Karten zu ziehen, sie abwechselnd auszulegen, zu kontern sowie Punkte einzufahren - es beruht also auf einem starken spielkulturellen Fundament. Nur hebt es Richard Garfield 1993 thematisch, strukturell sowie perspektivisch auf eine ganz neue Ebene, die plötzlich eine neue Generation von Spielern fasziniert.

Zauberer, Magie und Pentagramme

Da wäre die stimmungsvolle Ausgangslage, die die sonst so drögen Mechaniken klassischer Kartenspiele erzählerisch aufwertet. Das Szenario inszeniert einen Showdown: Zwei Magier werfen sich Zaubersprüche an den Kopf, bis einer stirbt - Gandalf und Saruman lassen grüßen! Das kann man sich bildlich vorstellen. Schließlich kann man nicht nur Magie, sondern ganze Länder und Kreaturen auf dem Tisch beschwören, indem man einfach Karten auslegt - man fühlt sich dabei unweigerlich cooler als bei der Ansage von Re oder Kontra.

Ein fortgeschrittenes Spiel zwischen Blau/Weiß (oben) und Schwarz (unten). Übrigens führte Schwarz hier mit 18 zu 1 (!) Lebenspunkt und verlor das Spiel trotzdem noch - u.a. aufgrund der beiden effektiven Schutzkarten.
Apropos bildlich: Hinzu kommt natürlich der visuelle Reiz der aufgedruckten Motive, die wie kleine Gemälde wirken. Magic sorgt für eine ganz eigene Ästhetik über eindringliche Illustrationen sowie kursive Zitate. Ohne die vielen gezeichneten Landschaften, Gegenstände und Kreaturen, die teilweise von bekannten Fantasy-Künstlern beigetragen werden, wäre der Erfolg dieses Sammelkartenspiels gar nicht denkbar! Und einen Treffer von einem Shakespeare-Spruch oder einem kleinen Reim begleitet zu landen, den man natürlich süffisant vorliest, hat auch etwas. Auge und Ohr spielen also ein wenig mit.

Und all diese Zauber mit ihren Bildern und Sprüchen schlummern sorgsam zusammen gesucht, aber zufällig vermischt, in einem so genannten "Deck", das nicht etwa allen in der Familie gehört wie das Skatspiel in der Schublade, sondern nur seinem Ersteller - wie ein privates Tagebuch. Manche Karten habe ich nur, weil sie so klasse aussehen oder ich das Motiv einfach mag. Nicht zu vergessen das Rollenspielflair en detail, denn man kann Helden mit Werten für Angriff sowie Verteidigung mit Waffen, Rüstungen oder Zaubern gezielt aufwerten, so dass mit +2 & Co auch noch Erinnerungen an Dungeons & Dragons wach werden. Selbst für Pen&Paper-Freunde ist also etwas dabei! Gerade für die jüngere Generation, die mit Tolkien und Fantasy groß geworden ist, übte diese Kombination aus Fantasy, Karten und Rollenspiel in den 90er Jahren starke Reize aus - man fühlte sich vielleicht auch emotional angesprochen von diesem Spiel.

Der Minecraft-Effekt

Alleine das prominente Thema der Fantasy und etwas Rollenspielflair hätten natürlich nicht ausgreicht, um Magic so durchstarten zu lassen. Hinzu kommt noch etwas ganz Wichtiges, das heutzutage vielleicht gewöhnlich scheint: Man kann aber rückblickend fast von einem Minecraft-Effekt sprechen, den Magic vor 25 Jahren im analogen Bereich vorweggenommen hat. Denn ganz entscheidend für den Erfolg war natürlich der Reiz des langfristigen Bauens und Sammelns, des Tüftelns und Bastelns.

Es gibt ja fünf Sorten von Mana mit unterschiedlichen Stärken, so dass man sich wie in einer Magieschule mit seinen Decks

Das Deck zum Nachziehen und der Friedhof für abgelegte Karten. Wie man spielt? Erklärt Eike im Video-Guide.
auf ein oder mehr Elemente sowie Taktiken spezialisieren kann - man hat ständig etwas zu tun, betreibt immer Feintuning. Im Gegensatz zu klassischen Kartenspielen entsteht über Zusatzkarten sowie Themenboxen eine Art von Leben. Und man kann sich immer wieder aufs Neue mit seinem Deck beschäftigen. Aber warum macht das Experimentieren mit immer neuen Kombinationen so viel Laune?

Aufbautaktik und Duellcharakter

Der eigentliche Spielspaß schlummert zunächst in der ebenso evolutionären wie kombinatorischen Struktur: Man kann sich nicht sofort Feuerbälle um die Ohren hauen oder

Zauber und Gegenzauber: Es gibt klassische Konter, die auch in mehreren Stufen hintereinander wirken könnte.
große Bestien freilassen, sondern muss erst Länderkarten auslegen, um daraus Mana zu gewinnen, so dass man damit seine Beschwörungen bezahlen kann - das ist simpel und logisch. So baut man quasi langsam sein kleines arkanes Reich mit Wäldern, Gebirgen, Wüsten sowie Helden und Kreaturen auf, während ein immer stärkerer Schlagabtausch aus Angriffen und Blocks entbrennt, bis einer der beiden Zauberer mit null Lebenspunkten besiegt wird - je nach Zugglück kann das Feuerwerk in ein paar Minuten vorbei sein oder in ein spannendes Duell münden, bei dem es auf jede Karte ankommt.

Man muss zwar eigentlich "nur" eine gute Mischung aus Ländern, Zaubern, Artfefakten und Kreaturen finden. Aber genau da bieten sich bis heute zig Möglichkeiten. Wie will man spielen? Mit kleinen Nadelstichen oder großen Brechern? Mit subtilen Diebstählen, brachialen Mutationen oder effizienten Kombinationen? Und genau da hilft auch die ebenso simple wie starke Farben- und Symbolsprache mit Weiß (Sonne), Schwarz (Schädel), Rot (Flamme), Blau (Tropfen) und Grün (Baum). Sie wird durch ihre plausiblen Charakteristika mit den nachvollziehbaren Wirkungsketten nochmal verstärkt: Rot = Feuer = aggressiv = eher viel Schaden; Weiß = Licht = defensiv = eher viel Heilung und so weiter. Auch ohne Studium eines komplexen arkanen Regelwerks ergeben sich ganz natürliche Assoziationsketten, mit denen jeder etwas anfangen kann. Man kann quasi ganz simpel mit Wasser auf Feuer antworten, aber genau das bis in die letzte Karte seines Decks auch im spielerischen Detail verankern, so dass Farbe und Taktik eine gewisse Symbiose eingehen.

Die goldene Regel: Der Kartentext hat immer Vorrang.
Hinzu kommen schon im Jahr 1993 spielmechanische Feinheiten, die bis heute nahezu alle Varianten dieses Genre prägen: Karten werden bei Gebrauch erschöpft, indem man sie "tappt", also um 90 Grad dreht - sie müssen also im effizienten Wechsel eingesetzt werden. Außerdem sorgt die geniale goldene Regel dafür, dass man mit jeder neuen Karte für Überraschung sorgen kann - denn der Kartentext schlägt den Regeltext. Sprich: Jede neue Edition ist offen für neue Regeln, Kombos & Co. Und das sorgt auch für taktische Varianten, die weit über Schere, Stein, Papier oder simple Manöver wie Flieger gegen Fußtruppen oder Konterzauber hinausgehen. Mittlerweile gibt es komplexe Themendecks mit Kettenreaktionen oder aufbauenden Effekten, die z.B. das Wesen der Vampire oder Zombies, der Drachen oder Katzen in irgendeiner Form mehr oder weniger charakteristisch abbilden.

Was gefällt nicht so gut?

Ein Spiel in der Endphase. Schräg liegende Karten sind "getappt", also schon gebraucht.
Trotzdem habe ich Magic nach der anfänglichen Begeisterung auch über Jahre hinweg nicht gespielt. Denn irgendwann wurde es einfach zu viel mit den neuen Karten - statt Klasse begegnet man in Magic auch Masse. Manchmal lässt die Druckqualität zu wünschen übrig, einige Motive und Sprüche wiederholen sich in leicht abgewandelter Form, manche Karten oder auch Regeln sind einfach nicht gut designt und die Veröffentlichungspolitik gleicht einem ermüdenden Dauerfeuer. Bis heute erscheinen quasi jedes Jahr mehrere "Blöcke" mit bis zu drei Untersets, so dass es mittlerweile über 14000 Karten gibt. Hinzu kamen über die Jahre einige digitale Ableger auf diversen Systemen und mittlerweile gibt es auch Spielvariante für bis zu sechs Personen (Commander) oder Brettspielhybriden wie "Entdecker von Ixalon" mit auslegbaren Geländeteilen.

Aus Sammelspaß kann auch Sammelsucht werden; und damit ein finanzielles Problem. Wer wirklich alle Karten einer Edition besitzen will, kann dafür ja keinen festen Preis bezahlen, sondern muss auf gut Glück immer wieder zuschlagen und tauschen, weil die so genannten "Booster" nur eine zufällig zusammen gesetzte Zahl an Karten beinhalten. Und wer sich als Profi auf Turnieren beweisen will, braucht einige seltene Karten doppelt, dreifach oder vierfach. Außerdem darf man auf offiziellen Turnieren in bestimmten Spielmodi nicht mit ganz alten Editionen antreten, sondern lediglich mit aktuellen, so dass man stets zum Nachkaufen gezwungen wird.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch genau diese Ungewissheit neuer Karten ein Teil der Unterhaltung ist - schließlich entsteht auch bei der Öffnung eine gewisse Spannung. Nur kann Magic trotz seiner vielen Facetten sehr langweilig

Auch wenn Ixalan (oben) die aktuelle Edition ist: Ich hab mit den drei Decks meiner zehnten Edition (unten) von 2007 immer noch Spaß.
sein: Der Zufallsfaktor ist Segen, aber auch Fluch, wenn man einfach zu wenige Länder oder Kreaturen zieht, so dass man gar nicht erst in einen Schlagabtausch kommt, sondern lediglich ohne Chance zusehen muss, wie die Lebenspunkte schwinden.

Fazit

Magic: The Gathering ist so etwas wie der Zauberwürfel der Sammelkartenspiele - kreativ, prägend und bis heute faszinierend. Ihre Erfinder Rubik und Garfield dürfen sich zu den großen Pionieren der Spielewelt zählen. Auch wenn vieles an Magic mittlerweile gewöhnlich scheint, ist es eben nicht nur der Begründer eines Genres, sondern auch wichtiger spielmechanischer Feinheiten vom Kartentappen bis zur goldenen Regel, auf die nahezu jeder Nachkomme im Geiste setzt. Aber der Erfolg wäre nicht denkbar gewesen, ohne die mächtige Kombination aus Duellcharakter, Bildsprache, Rollenspielflair sowie unheimlich anschaulichem Regelwerk und vor allem starker Symbolik, die Aufbautaktik mit fünf Elementen anbietet, die weitgehend logische Assoziationen wie Feuer und Aggression, Wald und Wachstum etc. hervorrufen. Man kann rückblickend fast von einem Minecraft-Effekt sprechen, den Magic vor 25 Jahren im analogen Bereich vorweggenommen hat. Denn ganz entscheidend für den Erfolg ist natürlich auch der Reiz des langfristigen Bauens und Sammelns, des Tüftelns und Bastelns - es gibt kein perfektes Deck! Nur sind der Zufallsfaktor, die nicht enden wollende Kartenfülle, die nicht immer qualitativ überzeugt, sowie die inflationäre Vetriebspolitik, die zum stetigen Neukauf mit Glücksfaktor animiert, auch ein Fluch, mit dem Magic auf ewig kämpfen muss. Nur braucht man sich dem nicht beugen, wenn man mit Kumpels spielt. Über Jahre lag meine zehnte Edition aus dem Jahr 2007 im Keller und mein schwarzes Deck hat auf Anhieb ein aktuelles  geschlagen.

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir wollen euch alle zwei Wochen kreative Geheimtipps, Klassiker oder ungewöhnliche Spieleperlen empfehlen, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet. Mehr Brettspiel-Tests und eine Top 20 findet ihr hier.

 
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