Special: Die Story & das Spiel (Sonstiges)

von Jörg Luibl



Sonstiges
Entwickler: 4Players
Publisher: 4Players
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Spielinfo
 Mythos + Interaktivität = Narratives Spiel

Besonders interessant für narrative Videospiele ist der Ansatz von Levi-Strauss, denn ihn ihm manifestierte sich ein Element, das in gewisser Weise Interaktivität berücksichtigte: die Invariante. Denn Mythen, also mündlich überlieferte Geschichten, werden von Erzähler zu Erzähler "interaktiv" verändert. Etwas wird hinzufabuliert, etwas weggelassen, ein Detail verändert, ein Ereignis verschoben - Abweichungen, die den Kern der Story nicht berühren, aber dennoch sehr unterschiedliche Eindrücke bei ihren Zuhörern hinterlassen können.

Dieser Gastbeitrag ist Teil des Themas "Die Story & das Spiel". Weitere Essays findet ihr hier!
Levi-Strauss zerlegte jede Variante seiner Untersuchungsgegenstände in kleine, einzelne Bedeutungseinheiten, und faßte diese Teile in Kategorien und Überkategorien zusammen. Auf diese Weise konnte er nicht nur - erzählerübergreifend - die Struktur eines kompletten Mythos darstellen, sondern auch aufdecken, welche Muster, Funktionen und Beziehungen in den mündlichen Überliefungen bei jedem Erzähler immer wiederkehren, welche Bestandteile einer Geschichte also den "Kern" des Mythos ausmachen.

Okay. Was das nun mit Videospielen zu tun hat?

Stories in Videospielen bestehen aus interaktiv spielbaren Varianten einer Geschichte. Der Grad der Verzweigung, die Art der Konsequenzen, die Zahl und Natur der Einflussmöglichkeiten, und letztlich der Umfang der Gesamtstory, sind abhängig von den Strukturen, die das Spiel vorsieht. Stories in Videospielen sind also im weitesten Sinne der Levi-Strausschen Lesart genau das: Mythen.

Wie im Levi-Strausschen Mythos können Strukturen einer Videospielstory variieren, aber sie können nicht beliebig sein: Bestimmte Strukturelemente, die übereinstimmend in allen Varianten vorkommen, sind wichtig für die grundlegende Architektur der Geschichte - sie haben tragende Funktion, "gehören" gleichsam an ihren Platz. Das betrifft etwa die Kausalität: Entscheidende Abläufe müssen eine Reihenfolge haben, um dramatischen Aufbau zu ermöglichen: Etwa die Verschärfung des Konflikts zwischen zwei Charakteren. Die Ereignisse, die den Konflikt aufbauen, sind nicht in beliebiger Reihenfolge darstellbar. Wären sie es, verlören sie ihre Funktion. Ursache und Wirkung wären nicht mehr erkennbar. Die Struktur wäre geschwächt, letztlich verschwunden.

Ähnliches gilt für das dramatische Gewicht eines Ereignisses: Wenn an einer Stelle im Spiel zwei (oder mehr) Varianten die Handlung verzweigen, dann müssen die Varianten gleichwertig sein, d.h. dieselbe Funktion in der Gesamtdramaturgie erfüllen können.

Stirbt etwa aufgrund einer interaktiven Entscheidung des Spielers in einer Szene einer von zwei im Konflikt befindlichen Charakteren, so hat dies dramatisches Gewicht. Es ist der Höhepunkt dieses speziellen Konflikts. Folglich muß eine zweite Variante, die die den betreffenden Charakter überleben lässt, eine andere, ähnlich gewichtige Konsequenz haben. Andernfalls sind die Elemente der Struktur auf dieser Entscheidungsebene nicht mehr dramaturgisch gleichwertig, und der Spieler, der die "belanglosere" Entscheidung trifft, wird ein uninteressanteres, weil höhepunktärmeres, Spielerlebnis haben.

In Teufels Küche

Gut. Warum wird also nicht einfach auf Teufel komm raus verzweigt?

Nun ja. Gerade mit vielfach verzweigten Geschichten kann man sich als Autor (und auch als Script-Programmierer) schnell in Teufels Küche bringen. Denn je öfter die Strukturen einer Story verzweigen, desto schwieriger wird es, mit glaubwürdigen, und stets auf allen Ebenen dramaturgisch gleichgewichtigen Varianten aufzuwarten.

Vom Arbeitsaufwand (und Geldbedarf) mehrfach verzweigter Geschichten ganz zu schweigen: Die Zahl der zu erstellenden Varianten steigt exponentiell, je öfter Verzweigungen erfolgen. Fächert man einen Entscheidungsbaum für eine Spielstory sechsmal hintereinander in je zwei Pfade auf, so erhält man 64 Enden. Für jede Verzweigung muß Inhalt vorgesehen werden, und zwar so, dass jede Kombination im gesamten Verlauf des Spiels Sinn ergibt und dramaturgisch befriedigend ist.

Für Projekte mit limitiertem Budget (- und das sind heute leider ausgerechnet die stark narrativ orientierten Adventures -) ist gerade deshalb die oft geforderte "Multilinearität" einer Story außer Reichweite. Oder sie wird (wie in Fahrenheit) geschickt vorgetäuscht, indem scheinbare Entscheidungspunkte letztlich zu identischen Konsequenzen führen und den Spieler wieder auf einen Hauptstrang der Geschichte leiten.

Auch die Implementation von Gameplay in narrative Strukturen wirft große Probleme auf: Aufgrund seiner interaktiven Natur wartet ein Spiel in der Regel auf Eingabe des Spielers, was das Pacing, also das Erzähltempo, sehr stören kann. Eine als ergreifendes dramatisches Stakkato geplante Sequenz kann schnell und unschön in Belang- und Orientierungslosigkeit versaufen, etwa wenn der Spieler die falschen Entscheidungen trifft oder nicht über genügend Fertigkeiten verfügt, die betreffende Sequenz angemessen flüssig zu spielen.

Zudem steht jede Story still, bis der Spieler auf den nächsten Fortschritts-Trigger trifft. Das kann im Shooter zu ewigen Ballersequenzen ohne Sinn und Verstand führen; im Adventure andererseits drückt die nervige Suche nach dem übersehenen Inventory-Gegenstand auf die Storybremse. Um das Problem zumindest im Griff zu haben, zwängen viele Shooter ihre Story in Sequenzen am Level-Ende. Umgekehrt unterbricht ein Spiel wie Fahrenheit sein enorm story-orientiertes "interactive drama" mit weitgehend von der Handlung abstrahierten Mini-Spielen, um Gameplay-Intermezzi im klassischen Sinne zu bieten.

Überhaupt wird an der Schnittstelle Story/Gameplay am deutlichsten, wie problematisch die Quadratur des Kreises in der Praxis sein kann: Bei den oft als "rückständig" bezeichneten klassischen Adventures macht gerade die starke Narrativität die Variation und Innovation von Gameplay äußerst schwierig. Denn anders als in Spielen, die sich beim Gameplay auf eine generative KI verlassen können, erwartet man etwa von den Charakteren eines Adventures einen Grad an Intelligenz und Persönlichkeit, von dem auch das intelligenteste "Gegnerverhalten" der KI eines Actionspiels heute noch weit, weit entfernt ist. Wer je den überaus komplexen Vorgang eines Streits mit der eigenen Freundin erlebt hat, der weiß, dass die Intelligenz von "Gegnern" erst dann richtig zum Tragen kommt, wenn es gerade nicht um physische Angriffe, Mord und Vernichtung geht, sondern um das breite Spektrum subtiler, emotionaler, zwischenmenschlicher Situationen.

RemovePlayer(), PlayCinematic()

Ob aber Shooter oder Adventure: Immer dann, wenn das Dilemma Spiel vs. Story, Struktur vs. Freiheit, zu groß wird, dann sind Scriptsequenzen das dramatische Allheilmittel der Wahl. Wo sichergestellt werden muß, daß alle Spieler zur gleichen Zeit und in gleicher Zeit das gleiche dramatische Erlebnis haben, wird die User-Kontrolle entzogen und das Spiel läuft als Film. RemovePlayer(), PlayCinematic(). Diese Form des "Rückfalls in nicht-interaktive" Medien- und Erzählformen wird nicht zu Unrecht immer wieder stark kritisiert - dabei wird allerdings oft übersehen, daß Spieler gerade an Spiele, die die komplette narrative Kontrolle oft an sich ziehen, die stärksten inhaltlichen Erinnerungen haben.

Halbzeit

So weit, so gut. Zur Halbzeit steht es bisher wohl 1:1 zwischen Story und Spiel. Wie es weitergehen wird, kann man nur vorsichtig einschätzen. Neue Wege zur Implementation von Erzählstrukturen werden sicher die nächsten Jahre bestimmen. Natürlich wird der primitive Strukturalismus, den ich hier vertrete, in interessantere Modelle weiterentwickelt werden. Vom "objektorientierten Storytelling" wehen hier und da schon mal einige Fetzen über den großen Teich, und Experimente wie "Façade" scheinen ebenfalls aussichtsreiche Schritte auf dem Weg zu generativeren Storytelling-Ansätzen zu sein.

Bis dahin ist allerdings noch viel Zeit. Wir werden sie wohl oder übel mit verfeinerten klassischen Ansätzen totschlagen müssen. Und uns abends zu anstrengenden Gesprächen in der Kneipe treffen. Bis dann.

Martin Ganteföhr, House of Tales Entertainment

Literatur:

[1] International Hobo: Foundations of Interactive Storytelling (based upon the presentation 'Interactive Storytelling in Games: What it is, Why we need it, and How you do it' presented by International Hobo at Digital Media World 2001)
[2] Claude Levi- Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Strukturalistische Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1981
[3] Daryll Wimberly, Jon Samsel. Interactive Writer's Handbook, Los Angeles1995
        

Kommentare

johndoe-freename-51073 schrieb am
Ich sagte ja, es wird viele Leute vor den Kopf stoßen. Aber wir sprechen hier ja von der herkömmlichen Gamezielgruppe. Solche Erzählmuster würden aber viel mehr Leute anziehen, die bisher nicht gezoggt haben, sondern eher Filme schauten und Bücher lasen. Es kommen also viel mehr Leute dazu, als abwandern: Frauen und vor allem alte Menschen. Man würde auch der demographischen Entwicklung Rechnung tragen, nach der es immer mehr ältere und immer weniger junge Leute gibt.
unknown_18 schrieb am
Coole Idee, im Grunde sind so verschiedene Genres nacheinandere - je nach Storieverlauf - im Spiel eingebaut. Find ich gar nicht schlecht, wär wirklich mal was neues. Allerdings wär es wohl wirklich nicht für jeden Spieler etwas und das ist eben auch das heutige Problem: die Spiele müssen wegen ihren Kosten immer möglichst viele Käufer ansprechen und deshalb bestehen heutige Spiele fast nur noch aus Kompromissen und das wird wohl mit den neuen HD Konsolen und den immer höher werdenden Kosten wohl auch nicht so schnell besser.
Ich finde es müsste auch mehr Spiele geben, wo die Story mehrere Handlungsfäden hat und so zu unterschiedlichen Enden führt, jedoch müssten diese Fäden weit gestrickt sein und dem Spieler nicht das Gefühl geben "genau hier kann ich mich wieder entscheiden welchen Weg die Story nimmt", dass muss so gut verpackt sein, das man erst später merkt und darüber nachdenkt was einen wohl auf diesen Weg der Story gebracht hat. Ein Spiel so zu schreiben ist natürlich nicht einfach und ziemlich aufwendig, aber so ein Spiel würde einfach Spass machen, weil es im Grunde fast jeder Spieler anders erlebt.
johndoe-freename-51073 schrieb am
Ich glaube, die ganze Problematik würde sich in Luft auflösen wenn man mal herleitet wie Dramaturgie in verschiedenen Medien aussieht und was es mit Unterhaltungssoftware auf sich hat. Babarien hat schon recht wenn er sagt, man kann in einem Game eine Geschichte nicht einfach so erzählen wie in einem Film oder Buch. Das heist aber nicht, dass man Flickschusterei betreiben muss.
Wenn wir uns mal den "Games"-Begriff und die Genres anschauen, stellen wir fest, das Spiele heute noch genauso funktionieren wie Spielautomaten und zwar unabhängig vom Genre. Die Gameplaystrukturen sind nach wie vor die gleichen. Und das obwohl sich Speicherplatz und Rechenleistung seit den 70 Jahren verzichtausendfacht haben. Früher konnte man aufgrund mangelnden Speichers einfach keine Gameplayvarianten in ein und demselben Spiel unterbringen. Heute ist das absolut kein Problem und es wird auch oft gemacht, aber so zaghaft, dass man sich nur an Genremix's traut statt ein Spiel genreunabhängig zu entwickeln. Gesprochen wird doch hier von Adventures, Shootern usw. und die verschiedenen Probleme beim Storytelling. Jetzt stelle man sich doch einfach mal vor wie es wäre, ein Spiel komplett nach der Story aufzubauen, so das wirklich die Erzählug selbst im Vordergrund steht. Dann würde man einfach die Kameraperspektive und das Gameplay wählen, das zum aktuellen Geschehen am besten passt. Dann werden teuer produzierte Cutscenes, die einen aus dem Flow reissen könnten ,überflüssig. Das Spiel ist die Story und umgekehrt.
Nun zum Problem der Handlungsstränge: Hier muss man einfach kreativ und nicht stoisch logisch denken. Denn auch die Struktur selbst hat Auswirkung auf Spielgefühl. Leider muss ich für dieses Beispiel eine Brücke zum Film bauen, die ich aber gleich sofort wieder abreisse, versprochen!
Im klassischen Genrefilm finden oft ähnliche Dinge statt wie im Gamesbereich, besonders bei Actionstoffen, da diese plotdriven sind. Ich meine damit immer gleiche Handlungsmuster. Aber es gibt jemand,...
johndoe-freename-96614 schrieb am
ich finde eine story gibt einem spiel erst denn sinn, es muss ja nicht so eine sein wie final fantasy, die ja nun wirklich streng geradlinich verläuft wo man kaum verschiedene entscheidungsmöglichkeiten hat.
z.b. tekken eigentlich ein beatem up braucht also absolut keine story damit es spaß macht ^^, die entwickler haben trotzdem eine eingebaut?!
man sieht sogar schon bei solchen spielen werden story eingebaut...
alles in allem... mir sind story wichtig und versetzen mich in eine andere welt :roll: natürlich macht es mir dann auch mehr spaß wenn ich tief in das spiel einteigen kann :)
deswegen spiele ich seit dem 7 final fantasy teil jeden ff teil :roll:, da in ff die story für ein rpg überwältigend ist :)
johndoe-freename-95854 schrieb am
Interessante Kolumne.
Mein Problem mit vielen Spielestories ist dass die Story Writer nicht erkennen dass Spiele ein eigenes spezielles Medium sind, und somit auch die Art des Storytellings anders sein muss. In einem Spiel kann (oder sollte) eine Geschichte nicht wie in einem Film/Buch erzählt werden, sonst wird das Spiel zu genau dem: einem interaktiven Buch oder Film.
Viele Storywriter scheinen eine Vision ihrer Story zu haben die sie so und nicht anders dem Spieler vorsetzten wollen. Das ist aber nicht sinn eines Spiels.
Vielleicht will ein z.B. Spieledesigner am Ende ein tragisches Ende einbauen, etwas was seiner Meinung perfekt zum Hauptprotagonisten passt, ein perfekter abschluß des Spiels.
Das Problem: Wenn er dem Spieler seine Vision aufzwingt macht er das Spiel zum Film, egal wie passend, grandios und berührend das von ihm erdachte Ende ist.
Der Spieler sollte entscheiden dürfen, der Designer muss sich, so hart es für ihn sein mag, zurücknehmen.
Vergleicht es mit einem Film der seinem Zuschauer die Meinung/Aussage ins Gesicht hämmert und einem anderen Film der Fragen offenlässt und Raum zur Interpretation lässt. Der erste Regisseur hat sein Publikum gezwungen genau dass in dem Film zu sehen was er selbst darin sieht, der 2te Regisseur lässt seinem Publikum die Freiheit selbst zu entscheiden.
Bei manchen Genres, z.B. Ego Shootern spielt das weniger einer Rolle.
Bei anderen ist das sehr gravierend, vor allen Dingen RPGs.
RPGs (ich meine nicht diese japandinger) leben davon dass ich eine selbst definierten Charakter erschaffe und auslebe. Das Problem bei den meisten RPGs ist dass sie mich nur oberflächlich meine Rolle selbst wählen lassen, und mich eigentlich in ein Rollenkorsett zwingen um eine Geschichte erzählen zu können (weshalb ich jRPGs aber auch viele westliche RPGs wie Oblivon eigentlich gar nicht als RPGs bezeichnen kann)
Zusätzlich kommt dann noch das "Diese Tür brauch einen Schlüßel" Phänomen was wohl jeder Rollenspieler kennt. 90 % der Türen lassen...
schrieb am