Die Story & das Spiel27.03.2006, Jörg Luibl
Die Story & das Spiel

Special:

Realgaming - oder: Tekken 5. Eine Story zwischen Manga & Beat`em Up.

Ein Gastbeitrag von Mela Kocher ; Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien

Alles fängt damit an, wie ich in einem Zürcher Gameshop am Stöbern bin. Ich suche ein Spiel, das nichts mit Arbeit zu tun hat. Das nicht auf dem Index steht, keine zu analysierenden Rollenklischees aufweist, keine Backstory und auch keine Frontstory hat, das nicht pädagogisch aufbereitet ist und sich auch nicht als Buchadaption versucht. Endlich. Bomberman für meinen Gameboy DS. Pures Spielvergnügen in Aussicht. Da ich ja nun einmal da bin, recherchiere ich ein bisschen für den nächsten Workshop, Gewalt in Kinder- und Jugendmedien, und schnappe mir noch das neue Tekken. Den Verkäufer scheints

Mela Kocher beschäftigt sich mit narrativen und ästhetischen Strukturen von Spielen. Sie hat bereits zahlreiche Arbeiten publiziert, in denen es um Story, Cybertexte, Avatare und Online-Rollenspiele geht. Eine Literaturliste findet ihr hier .
zu freuen. Er zerrt einen Flyer unter der Theke hervor, auf dem ganz gross Tekken5 Swiss Championship drauf steht. "Das erste Mal mit Frauenliga!" "Was, wie?" frage ich überrumpelt. "Die Männer müssen Ausscheidungen bestreiten, um teilzunehmen, aber die Frauen können sich gleich anmelden. Die ersten zwanzig kriegen automatisch einen Platz." Ich finde es etwas irritierend, dass Frauen in einer Disziplin, wo es nicht um Muskelkraft geht - ausser vielleicht um Daumen-, Finger- und Hirnmuskeln - eine Extrawurst kriegen, aber mir solls recht sein. Zurück im Büro, besuche ich die Site und überlege mir kurz, dass ich das Spiel aus Workshopgründen sowieso gamen muss und eine kleine Zusatzmotivation nicht schaden könnte. Schwupps bin ich angemeldet. Meine Kollegin grinst schadenfroh.

Noch einen Monat. Von nun an gehört eine Stunde Tekken5 zur Tagesordnung. Nehme ich mir zumindest vor. Um mich zu pushen - 30 Tage Zeit sind für eine Last-Minute-Person nicht gerade das äusserste Druckmittel - erzähle ich allen von meinem Vorhaben. Vater, Mutter und Stiefeltern sind alle mässig interessiert, die Chefinnen gottenfroh, dass sie nicht müssen, die Schwester solidarisch aufgeregt, die FreundInnen amüsiert, der Freund schon in Coach- und Fanbereitschaft. Die Kollegen ermunternd, ahnungslos, dass sie einen Monat Tekken5-Quälerei erwartet. Zu Hause taste ich mich vorsichtig an das Game heran und spiele ein bisschen mit diesem und jenem Charakter. Schliesslich muss ich rasch einen auswählen, denn in der Meisterschaft darf nur mit einer Figur gespielt werden. Nach einer Stunde ist der Fall klar. Ich habe mich in Christie Monteiro, die forsche Capoeirista, verliebt. In einem Christie-faq lese ich über meine Wahl:

WHY CHRISTIE?

If you've taken up the call of Tekken's Capoeira mistress, you probably

picked her because a) you like unorthodox characters or b) you like to

show off. Christie is first and foremost a crowd pleaser -- a lot of her

moves have style and grace and simply look cool. (redbaron18)

Völlig richtig. Christie ist wahnsinnig stylish, und man kann mit ihr wunderbar draufloshacken, beim richtigen Rhythmus hat der Gegner keine Chancen. Der faq-Mensch versteht meine Motivation und meine Gaming-Attitude. Von nun an wird redbaron18 mein Mentor, wir mailen wöchentlich hin und her, und es entwickelt sich eine Art japanische Meister-Schüler-Beziehung. Er offenbart mir seine neusten Entdeckungen und Moves, die ich zu Hause und im Büro brav nachspiele und drille. Mit Schrecken stelle ich fest, dass Christie Monteiro ca. 145 Special-Moves drauf hat. Üben üben üben. Nachts träume ich: df+LK+RK! b+RK, RK, LK+RK! Und immer wieder die Schere, ihren Super-Move, den alle Gegner hassen, LK~RK, b. Schweissüberströmt wache ich auf und beschliesse, mich auf die wichtigesten 15 Moves zu beschränken. Um 10-Hit-Combos zu lernen, fehlen mir schlicht Zeit und Geduld.

Noch 15 Tage.

Meine Bürokollegen besteche ich mit Pizza, damit sie abends noch eine Stunde länger bleiben und mit mir üben. Sie werden immer frustrierter und ich immer zuversichtlicher, dass ich mich nicht total zum Affen machen werde. Als es 52:9 für Christie und mich wird, muss noch eine Portion Tiramisù draufgeworfen werden, damit die Leute mir die Stange halten.

Ich kriege Hornhaut an den Fingern, mein Bildschirmschoner ziert die zuckersüss lächelnde Brasilianerin, dito mein Chat-Icon, ich kommuniziere in der entsprechenden Pose in Christies (zugegebenermassen bescheidenem) Vokabular - das immerhin eine abendliche Verabschiedung ("Good Night!"), eine arbeitsplanerische Strategie ("Go easy on me!") und eine empathische Annäherung ("Did you hurt yourself?") erlaubt. Meine Motivation durch Identifikation erreicht ungeahnte, etwas beängstigende Höhen.

Gute Beat-em-ups machen einfach Spass. In Tekken5 ist man sowohl als blutige Anfängerin mit Botton-smashing als auch als Halbprofi mit Charakterkenntnis gut bedient. Ich könnte das Spiel prima spielen, ohne irgendwelche Geschichten über die Figuren zu kennen. Was im Fall Tekken5 aber schade wäre, denn in den letzten zehn Jahren hat sich um die Tekken-Serie eine wilde Story gerankt. Sie setzt sich zusammen aus Intros zu den Games, Manga und Animé im Storymodus und findet ihre fantasievollen Nacherzählungen und Spekulationen im Netz - ein echter Storygenerator. Hier sind alle wichtigen narrativen Operatoren (Celia Pearce) am wirken: InGame-Geschichte, Kommentare, Nach- und Weitererzählungen, Charakterbaukasten, Scores und andere Kontextinfos. 

           

Im Storybattle-Modus von Tekken5 tritt man im "The King of Iron Fist Tournament" gegen acht Gegner an. Hat man sich für einen Avatar entschieden, wird ein kommentierter Manga abgespielt. Er zeigt jeweils die Beweggründe der betreffenden Kämpfer für die Teilnahme am Tournament. Wähle ich Christie, erfahre ich, dass sie nicht um Ruhm und Ehre willen am "The King of Iron Fist Tournament" teilnimmt (so wie ich), sondern um die Medizin für ihren dahinserbelnden Grossvater, den bekannten Capoeira-Meister zu ergattern. Kaum wurde dieser aus dem Gefängnis entlassen, stellte man bei ihm nämlich eine tödliche Krankheit fest, die nur durch ein Heilmittel der Technologie der Mishima Zaibatsu aufgehalten werden könnte.

Die Ingame-Konversationen werfen zunächst mehr Fragen auf, als sie den Vorhang zur Hintergrundgeschichte lüpfen, aber sie sind unterhaltsam. In Level 4 richten wir einen verbalen Schlagabtausch gegen Bruce aus, der an die gegenseitigen Verhöhnungen der Samuari vor dem Kampf erinnert oder an die 'Schwertkämpfe' in The Secret of Monkey Island, aber viel trashiger sind. Bruce: "Well! The competition certainly has gotten easier on the eyes." Christie: "I doubt you'll think of me that way after I'm through with you." Bruce: "You wanna see how long your Capoeira stands up to my kicks?" Christie: "Absolutely." Gewinnt Christie, sagt Bruce: "Pretty tough!", und Christie mokiert: "You have no rhythm. You'll never be able to beat me."

Dieser Gastbeitrag ist Teil des Themas "Die Story & das Spiel". Weitere Essays findet ihr hier !
Nervig dann das Treffen mit Eddy Gordo, dem coolen Capoeirista aus den vergangenen Tekken-Games, der sich als richtiger Macho-Arsch entpuppt: "Christie, it's too dangerous. I want you to go home!" Christie: "No! How do you expect me to not do anything after I've seen what happened to my grandpa!" Gibs ihm, Christie! Irgendwas läuft aber doch zwischen denen, denn als Christie ihn fertig macht, wispert sie zärtlich: "Wait for me Eddy. I promise I'll come back." Ich hab keine Zeit, mir länger über deren Beziehungskiste den Kopf zu zerbrechen, denn in den nächsten Levels drücke ich Tasten, was das Zeug hält, und endlich, endlich, den Tränen nahe, schaffe ich es, im Endlevel dem feuerspeienden Jinpachi den Garaus zu machen. Jinpachi ist ein hammerharter Gegner, und wenn mein Freund - ich hatte bereits viereckige Augen - nicht draufgekommen wäre, dass sich Christie einfach hinsetzen muss, um dem Feuerschwall zu entgehen (einer ihrer Grund-Kampfpositionen), wäre ich wahrscheinlich heute noch dran. Der Preis für meinen Sieg ist eine zwar kurze, aber hübsch kitschige Cutscene. Christie und Eddy betend vor dem Operationssaal. Die Türflügel öffnen sich und weisses Licht strömt auf den Gang. Cut. Eddy und Christie trainieren zusammen glückstrahlend Capoeira, Musik erklingt, der Grossvater klinkt sich rein. Christie lächelt, und die Kamera schwenkt zur Sonne. Schööön.

Tekken5 als nonlinearer Storygenerator. Es gibt so viele mögliche Enden wie Kämpfer; in den Storybattle-Filmen siegen alle. Christie gewinnt und erhält die Medizin, King gewinnt gegen Murdok und rächt seinen toten Meister, Murdok gewinnt gegen King und somit den Weltmeisterschaftstitel zurück, etc. Die nächste Tekken-Folge wird zeigen, welches Ende von Namco favorisiert wird. Voraussichtlich werden Jin oder DevilJin gewinnen, denn im Mishima Clan, um den sich der Hauptstrang der Tekken-Geschichte rankt, muss ständig Aufruhr gestiftet werden. Die wildesten Verschwörungstheorien finden sich hier, die sich von der ersten Tekken-Folge von den Nachfolgern über den (durchaus sehenswerten) Animé Tekken - Die eiserne Faust bis zu Tekken5 fortsetzt und eine Mischung von Familiensaga, Shakespeare-Drama und Zwergenwerfen ist. 

Um die Männlichkeit seines kleinen Sohnes Kazuya zu testen, wirft ihn Heihachi Mishima zu Beginn der Geschichte, die ca. 25 Jahre vor dem fünften "The King of Iron Fist Tournament" anfängt, in eine Schlucht. Kazuya überlebt nur dank des Hasses, der an ihm zehrt und teuflische Kräfte freisetzt (die er später an seinen Sohn, Jin, weitergibt). Im ersten Tekken bzw. dem "King of Iron Fist Tournament" rächt sich nun Kazuya an seinem Vater, indem er ihn nach dem Tournament-Sieg seinerseits in die Schlucht wirft. Zwei Jahre später, beim zweiten Tournament, wirft wieder der Vater den Sohn, diesmal in einen Krater. Jahre später unterrichtet, dann verschwört sich Heihachi gegen seinen Enkel Jin, da er eine Probe von dessen Teufelsgen braucht. Beim dritten Tournament schiesst er ihn nieder. Kazuya wird mittlerweile von der Konkurrenz des Mishima Konzerns, G-Corporation, wiederbelebt, und dürstet, wie könnte es anders sein, nach Rache. Im vierten Tekken kommt dann die ganze Familie zusammen, Jin gewinnt und lässt Vater und Grossvater am Boden liegen, wo sie von einer Horde Jacks, den Kampfrobotern der G-Corporation, angegriffen werden. Hier beginnt das Eingangsvideo von Tekken5, das die Zeit zwischen dem letzten Tournament und dem fünften - das nun vom Urgrossvater Jins, Jinpachi, der all die Jahre unterirdisch gefangen war - ausgerichtet wird. Eine inzestuöse Angelegenheit, in der alle Figuren durch Bluts-, Schuld- oder sonstige Bande miteinander verknüpft sind, aufgemischt mit genetischen Experimenten, Intrigen und Liebeszwisten.

Wir gewinnen also gegen Jinpachi, und Christie hat, zumindest was meine Version der Geschichte anbelangt, die Meisterschaft gut überstanden. Mein grosser Tag steht noch bevor. Ich bibbere - eine Runde dauert 60 Sekunden, alles hängt vom Timing und der richtige Attacke ab - und übe mich in Atemtechniken. Aus dem Bauch schnaufen. Als es endlich soweit ist, merke ich mal wieder, wie ich meinen Job liebe. Ich hänge mit lauter spielbegeisterten Menschen einen ganzen Samstag in einer Spielhölle rum, wir üben in den Pausen, verraten einander Geheimtipps (sofern wir nicht gegen einander spielen), spionieren einander im umgekehrten Fall aus, fanen und fiebern mit. Die IDU's sind an den Wänden aufgebaut, die Mitte der Halle ziert ein - Achtung! - Boxring, wo Box- und Stockschaukämpfe oder Karateeinlagen dargeboten werden. Schweiss spritzt, Blut knapp nicht, und ich frage mich, wie strategisch geschickt die Inszenierung dieser Schaukämpfe denn sein könnte. Will man als Veranstalter eines Beat-em-up-Tournaments mit der Transferfrage flirten? Wie auch immer, meine FreundInnen und ich leiden an einem Tekken-Overkill und werfen einander spielerisch gegen die Ringseile, ich so enthusiastisch, dass ich beim Zurückschnellen zufällig einem Österreicher meine Finger in die Nasenlöchter bohre. Zeit für eine Aus-dem-Bauch-Schnauf-Pause.

Meine Christie kämpft tapfer gegen andere Christies, Pandabären und einige Ninas und schafft es bis ins Viertelfinal, wo sie dann im Kampf gegen Bryan kapituliert. Statt dem Medizin-Fläschli für Christies Grossvater kriege ich eine grosse Wundertüte (von meinen Fans), Tai-Boxershorts und einen Gutschein für drei Games (von Sony). Ich bin erleichtert und freue mich auf die Zurückgewinnung meiner Selbstbestimmheit. Realgaming ist ganz schön anstrengend.

Zu Weihnachten flackert das Christie-Fieber nochmals kurz auf. Für die champagnerfröhliche Familienrunde starte ich eine kurze Kampfshow mit meinem Freund, stelle mich in Christie-Pose, schwinge meine Beine (RK~LK) und setze gleichzeitig einen Powerschlag an (RP+LP), der knallhart sitzen würde, wenn nicht mein Freund alias Lee Chaolan seinerseits einen Megablock gestartet hätte - Real Life kennt leider kein Buffering, denn eigentlich hab ich zuerst angesetzt. Christie ist schwach im Blocken, ich leider auch, und mein Finger verstaucht. Seither hats geruhigt, und den Bildschirmschoner ziert mein neues Lieblingsspiel: Hello Kitty Roller Rescue. Mal schauen, wie augmented reality mit Kitty wird.

 

 
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