The Witness28.01.2016, Jörg Luibl

Im Test: Idyllischer Denksportmarathon

Mittlerweile gibt es viele kleine Studios, die mitunter großartige Spiele entwickeln. Aber vor acht Jahren war Braid noch ein Phänomen: Das Knobelspiel von Jonathan Blow begeisterte weltweit mit seinen metaphorisch verknüpften Zeiträtseln, stürmte die Charts und avancierte zu einem Symbol für die kreative Kraft der Independent-Szene. Mit The Witness (ab 39,97€ bei kaufen) wagt sich sein Schöpfer an ein wesentlich umfangreicheres Abenteuer. Ob die Rätsel auf der Inselwelt begeistern können, klärt der Test.

Frust im Dschungelcamp

Irgendwo in einem Dschungel stehe ich hoch oben auf einem Steg zwischen riesigen Bäumen. Ich würde mich am liebsten in die Tiefe stürzen. Mit einem wütenden Schrei und Stinkefinger statt Fallschirm. Geht aber nicht. Denn The Witness zieht unsichtbare Grenzen um jeden Anflug von Gefahr. Selbst die kunterbunte Kulisse wirkt in diesem Augenblick wie sterilisiert. Und diese gefühlte Zwangsjacke macht mich nur noch wütender. Die Knöchel um das Gamepad herum werden schon weiß. Warum ich so frustriert bin? Weil mein Kopf nicht nur qualmt, sondern wie ein Kohleofen bullert.

Auf dem Steg geht es nicht weiter: Wer das Rätsel nicht löst, muss umkehren - aber dann kann man irgendwo anders in der offenen Welt weitermachen.

Seit Stunden knoble ich mich Planke für Planke vorwärts, indem ich einen Weg von A nach B in ein Raster male, nur um plötzlich vor drei blauen Vierecken ohne Füllung kapitulieren zu müssen! Zig mal habe ich versucht, das Rätsel zu lösen, aber dazu müsste ich auch wissen, welche Bedeutung diese verdammten Symbole haben. Es gibt aber weder interaktive Hinweise, was ich okay finde, noch eine aufklärende Legende, was mich ärgert. Auch mein selbst entwickeltes Ausschlussverfahren scheiterte. Ja, ich könnte jetzt zurückgehen, denn irgendwo da unten habe ich schonmal ein Rätsel mit diesen blauen Vierecken gelöst - vielleicht würde ein Blick darauf helfen? Oder ich knoble einfach woanders in dieser offenen Welt weiter?

Heureka, es geht ja doch weiter!

Cool: Man kann innerhalb der Rätsel die Richtung des Steges ändern...komme ich also doch da hinten auf die Plattform?

Nein, es reicht, dann muss ich wieder ans andere Ende der Insel latschen oder mit dem Boot um die Küste tuckern - ich mach die PlayStation 4 aus...

...eher lustlos spiele ich nochmal mit der Kamera, gehe ein paar Schritte auf dem Steg zurück, um meine tolle Leistung bis hierher wenigstens mit einem Screenshot zu dokumentieren, als ich diese zweite Kerbe auf dem Boden entdecke. Im Raster eines bereits vor einer halben Stunde gelösten Rätsels. Stimmt, es gibt ja mehrere Ausgänge: Statt von A nach B kann man auch eine Linie nach C ziehen. Aber bedeutet das etwa auch, dass sich die Planken dann in diese andere Richtung ausbreiten? Rechts statt geradeaus? Ich schaue zwischen den hohen Bäumen, wohin das theoretisch führen würde und entdecke ... eine Verbindungsstelle.

Aktiviert man diesen Schalter, tickt eine Uhr und eine Tür öffnet sich: Schafft man es in der Zeit bis zum Kabuff gegenüber?

Statt frustriert zu Bett zu gehen, weckt diese Alternative meine Neugier. Das Gamepad liegt wieder ganz leicht in der Hand. Ich male den Weg von A nach C in das Rätselraster und plötzlich werden all die Stege wie von Geisterhand eingefahren und 90 Grad versetzt wieder ausgerollt - hurra, wie cool ist das denn? Es geht also weiter! Das ist ja genial, wieso bin ich da nicht früher drauf gekommen, ich Idiot? Weil ich stur an dieser einen Lösung festhalten wollte, obwohl The Witness immer wieder dazu animiert, über den Tellerrand zu schauen und alle Sinne mit einzubeziehen. Die Rätselinsel von Jonathan Blow verlangt vom Spieler einen Drahtseilakt mit sehr viel Gehirnakrobatik - und vor allem verlangt sie viel Geduld.

Irgendwo versteckt sich eine Geschichte

Auch deshalb, weil dieses Spiel über weite Strecken mehr Denskportmarathon als erzähltes Abenteuer ist. Ja, es gibt mit Ruinen, Tunneln, Burgen, Windmühlen und Tempeln genug Erkundungsreize in der Landschaft. Außerdem machen diese versteinerten Menschen sowie die schwarzen Obelisken neugierig: Was ist hier geschehen? Was bedeutet das alles? Und wer ist der Zeuge aka "The Witnness" von was? Aber was in den ersten Stunden noch angenehm mysteriös, pastellfarben charmant und etwas märchenhaft anmutet, ist nach dutzenden Stunden nur noch eine sterile Fassade. Die Insel wirkt gerade in den Frustmomenten so interessant wie ein toter Fisch mit zu viel Schminke - es gibt kein Leben, keine Gefahr, nicht mal Musik. Man lauscht lediglich dem Wind oder dem Tosen eines Wasserfalls.

Man kann die Insel in einem Boot umrunden. Dort gibt es auch eine Karte.

Diese Reduzierung auf die Sinneseindrücke trägt natürlich auch dazu bei, dass man etwas über die Insel erfährt. Rätselabenteuer wie The Talos Principle haben jedoch demonstriert, dass eine gute Hintergrundgeschichte nicht nur für Interesse, sondern auch für eine emotionale Anbindung sorgen kann, die zum Weiterrätseln anmiert. Wenn ich hier frustriert in einer Sackgasse stecke, denke ich mir: Für wen soll ich mich eigentlich anstrengen? Für meinen IQ? Man weiß nicht wer, wo und warum man überhaupt durch einen Tunnel geht und auf dieser Insel so angestrengt nachdenken soll. Man hat lediglich einen Schatten, aber es gibt weder einen Erzähler noch eine innere Stimme. Es gibt auch keinerlei Belohung oder Entwicklungsreize wie vielleicht neue Fähigkeiten. Diesen Hunger hätte eine greifbarere Geschichte evtl. stillen können - selbst wenn man nur Episoden freigeschaltet hätte.

Auf der Suche nach Erkenntnis

Es gibt einige idyllische Ausblicke - und viele Leitungen, die aktiviert werden wollen.

Das wenige Storytelling ist jedoch schlecht, weil sehr plump integriert, denn irgendwann findet man scheinbar wahllos verstreute Tonbänder. Darauf befinden sich philosophische Monologe, scheinbar aus diversen Zeitaltern über Themen von der Identität bis zur Frage nach Gott - übrigens auch in der deutschen Version nur in englischer Sprachausgabe; Untertitel sind in den Optionen aktivierbar. Ich kann verstehen, dass Jonathan Blow auch die Geschichte nicht klassisch, sondern wie ein Mosaik nur in Bruchstücken präsentieren will. Denn dass Storytelling mit zu viel philosophischem Geschwafel auch nach hinten losgehen kann, hat nicht nur The Old City: Leviathan gezeigt.

Und hier deuten sich ja auch einige Zusammenhänge zwischen der Inselarchitektur und den Anekdoten an. Aber man lauscht diesen Ausführungen auf den Tonbändern nach erster Neugier irgendwann desinteressiert, weil sie - zunächst - keinerlei Interaktion oder Erkenntnis nach sich ziehen. Selbst das kleine Braid wirkte mit seinen Metaphern intimer und konnte die erzählerische Komponente besser integrieren.

Manchmal wird es auch zappenduster...ups, da liegt ja ein Tonband.

Auch wenn die Suche nach Erkenntnis in diesem The Witness nicht besonders spannend oder emotional inszeniert wird, bleibt sie auf mechanischer Ebene immer sehr interessant. Zum einen, weil sich ein großes Ganzes durchaus am Horizont abzeichnet: Immer wenn man ein komplettes Gebiet oder Areal enträtselt, erheben sich eine futuristische Lichtkanone aus ihren verborgenen Verankerungen und schießt einen gebündelten Strahl auf die verschneite Spitze des einzigen Berges. Dort befinden sich mehrere versteinerte Menschen um eine verschlossene Kiste mit sieben Siegeln - jeder Strahl löst eines davon. Was verbirgt sich wohl darin? Wird das große Geheimnis der Insel so gelüftet?

Magische Momente und Rätselvielfalt

Nicht nur dieses große Fragezeichen, auch die Rätselvielfalt sowie einige magische Momente motivieren immer wieder dazu, weitere Gebiete komplett aufzulösen: Man erschreckt förmlich und staunt, wenn man entdeckt, dass man von bestimmten Punkten aus auch innerhalb der Landschaft magische Linien zeichnen kann, die dann mit einem plötzlichen Donnern und Funkenschlag ein goldenes Symbol in einen der schwarzen Monolithen gravieren - cool! Man will natürlich herausfinden, was es damit auf sich hat. Nicht unbedingt, weil einen die Geschichte dahinter interessiert, sondern vielmehr die Funktion dieser archaisch anmutenden Säulen.

Ein begehbares Labyrinth: Findet ihr die richtigen Wege? Man muss nicht immer Routen zeichnen, sondern auch mal aktiv über Druckplatten ablaufen.

Die ganze Insel ist von einem Netz aus Leitungen, Kabeln, Tunneln, Wegen & Co durchzogen.  Über das Lösen von Rätseln kann man Türen öffnen, Strom aktivieren, Farbe oder Wasser fließen lassen. Und es gibt einige geniale Rätsel, die die Sinne schärfen: Manchmal muss man auf Licht, Schatten, Farben oder Geräusche achten, um Wege oder gar nicht sichtbare Hindernisse zu identifizieren. Moment, hier knirscht etwas unter den Füßen - heißt das etwa, hier war ein Hindernis, das ich beim Einzeichnen beachten muss? Ja! Manchmal muss man wie in alten Zeiten zu Stift und Karopapier greifen, um eine Situation zu meistern. Allerdings werden etwas zu viele der knapp 600 Rätsel so bescheiden auf Rastern inszeniert, dass es an der Geduld zehrt. Zwar muss man auch mal schnell sein und gegen die Zeit arbeiten, aber es geht fast nie um Hand-Auge-Koordination oder komplexere physikalische Aktionen.

Karierte Quadrate ohne Ende

Was hat es mit den Statuen auf sich? Oder sind es versteinerte Menschen? Warum stammen sie aus allen möglichen Zeitaltern?

Die meiste Zeit zieht man also Linien durch karierte Quadrate. Warum macht das trotzdem Spaß? Weil es sich vom Einfachen zum Besonderen steigert. Zunächst muss man nur von A nach B kommen, aber schon bald muss man auch die Beziehungen der Symbole beachten, wenn man Gebiete um sie malt: Schwarze und Weiß sollten z.B. getrennt werden; ein Stern darf mit einem Viereck gleicher Farbe zusammen sein, aber zwei Sterne brauchen entweder eines, zwei oder vier Vierecke unterschiedlicher Farbe. Zwei Sterne dürfen bei gleicher Farbe wiederum zusammen stehen usw. usw. Wie gesagt: Es gibt keine Legende, man muss sich das alles merken. Spielt man The Witness am Stück, ist das auch kein Problem, aber wer es länger nicht anrührt, muss sich evtl. nochmal einfache Aufgaben ansehen.

Wer diese gelben Kästen aktiviert, kommt der Lösung näher: Sie strahlen Licht auf den Berg der Insel - sieben Siegel kann man so aufbrechen.

Dieses System wird von durchbrochenen Linien, aufzusammelnden Markierungen, freien Platzierungen oder Drehungen von Figuren im Tetris-Stil immer ausgeklügelter und komplexer, wenn man plötzlich von zwei Punkten aus zwei Linien gleichzeitig ziehen muss, wobei eine vielleicht spiegelverkehrt ist - oder gar unsichtbar! Man fühlt sich zwar des Öfteren wie der Ochs im Walde: Hä, wie soll das denn gehen? Aber es gelingt dem Spiel über die sanfte Heranführung an die Rätsel, dass man auf angenehm intuitive Art um die Ecke denkt. Ach so, ich muss erstmal um diesen Apparat herum gehen! Ach ja, ich könnte den Blickwinkel ändern! Moment, wenn ich durch das farbige Glas sehe, dann ändern sich die Symbole!

Vertrackte Suche nach der richtigen Perspektive für das Rätselmotiv - hier nervt die Steuerung.

Neben kleineren grafischen Defiziten wie Pop-ups gibt es auch spielmechanische Schwächen: Dass man lediglich sprinten, aber nicht klettern oder springen kann, ist nicht weiter schlimm. Dass man jedoch nirgends hinunter hüpfen kann, selbst nicht wenn es lediglich hüfthoch ist, ist ärgerlich und sorgt für noch mehr Laufwege. Richtig nervig wird es bei manchen Positionierungen der Perspektive: Manchmal muss man vor einem Raster die Landschaft so fokussieren, dass sich eine umrahmbare Silhouette ergibt - z.B. aus Felsen. Bevor man die richtige Position gefunden hat, justiert man sich schonmal einen Wolf. Hier hätte zumindest ein leichter Automatismus geholfen, wenn man denn das richtige Motiv weitgehend im Blick hat.

Fazit

The Witness ist eine anspruchsvolle Rätselerfahrung. Es ist trotz offener Insel über weite Strecken weniger ein Abenteuer als vielmehr intensiver Knobelmarathon mit kreativen Aufgaben, die teilweise genial auf mehreren Ebenen verknüpft sind und alle Sinne ansprechen. Es klafft jedoch ein Abgrund zwischen Gehirnakrobatik und Spielwelt. Nicht nur weil diese selbst leblos bleibt, rätselt man sich einsam vorwärts. Das kunterbunt Mysteriöse der ersten Stunden wirkt auch aufgrund des fragmentierten sowie über Tonbänder recht plumpen Storytellings immer mehr wie eine grell getünchte Fassade, die gerade in Sackgassen eine für Spiele gefährliche Frage aufwirft: Warum soll ich überhaupt weitermachen? Aufgrund fehlender interaktiver Hilfen ensteht ein Drahtseilakt für die Geduld, der sehr viel Gehirnakrobatik verlangt. Das, was Portal oder auch The Talos Principle auf unterschiedliche Art hervorragend gelingt, die Symbiose zwischen Erzählung und Knobelei sowie die emotionale Anbindung, bleibt hier lange Zeit so auf der Strecke, dass man wie eine Maschine von Rätsel zu Rätsel rattert. Trotzdem gibt es innerhalb der Aufgaben sowie der Inselstruktur einige tolle Situationen sowie magische Momente, für die man Jonathan Blow nur gratulieren kann. Und weil sich mit der Zeit neben all den Rastern und Linien auch immer mehr erzählerisch interessante Verbindungen zeigen, wird man trotz frustrierender Sackgassen schließlich doch zur Auflösung des großen Ganzen angespornt.

Pro

anspruchsvoller Rätselmarathon
offene Inselwelt, freie Routenwahl
manchmal subtile Hinweise zu Lösungen
einige genial verknüpfte und offene Aufgaben
man muss nicht immer alle Rätsel meistern
meist sanft ansteigende Lernkurve
Inselstruktur und Artefakte machen neugierig
magische Momente während der Erkundung
ansehnliche Kulisse und Architektur
tolle Spiegelungen, vielfältiges Klima
Licht und Geräusche auch wichtig für Aufgaben
mit dem Boot kommt man schneller um die Insel
über 600 Rätsel, knapp 100 Stunden Spielzeit
Untertitel optional aktivierbar

Kontra

Story, wieso soll ich die Insel meistern?
fragmentiertes Erzählen über plumpe Tonbänder
Spielwelt wirkt nach ersten Stunden steril
fummeliges Einstellen der "Foto-Perspektive"
keine Legende bereits gelöster Symbole
keinerlei interaktive Hilfen; Sackgassengefahr
manche Rätsel werden zu lange ausgewalzt
zu wenig Belohnung und Entwicklungsreize
nur englische Sprachausgabe
keine Hintergrundmusik
gelegentlich Pop-ups

Wertung

PC

The Witness ist eine anspruchsvolle, teilweise frustrierende, aber auch geniale Rätselerfahrung. Trotz offener Welt entsteht zu wenig Abenteuer: Es gibt einen Bruch zwischen Denksport und Inselerfahrung - das schwache Storytelling schafft keine Brücke.

PlayStation4

The Witness ist eine anspruchsvolle, teilweise frustrierende, aber auch geniale Rätselerfahrung. Trotz offener Welt entsteht zu wenig Abenteuer: Es gibt einen Bruch zwischen Denksport und Inselerfahrung - das schwache Storytelling schafft keine Brücke.

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