nail'd10.12.2010, Jan Wöbbeking
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Im Test:

Zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass mich Entwickler Black Rock mit Pure zur Sucht nach Quad-Rennen angefixt hat - und auch heute leide ich unter den Entzugserscheinungen. Das Spiel aus England war zwar ein Traum für Arcade-Fans, konnte aber nicht Disneys Verkaufserwartungen erfüllen: Das geplante Sequel wurde also kurzerhand eingestampft. Offenbar hielt auch das polnische Studio Techland (u.a. verantwortlich für das gelungene Xpand Rally ) den Zustand für unhaltbar und hat sich an ein eigenes Offroad-Spektakel mit den kleinen Geländeflitzern gewagt.

Endlich Nachschub!

Die ersten Bilder rochen noch verdächtig nach einem Plagiat: Die zerklüfteten Natur-Panoramen, der knackig kurze Titel und andere Details erinnerten frappierend an Pure. Als sich das Testmuster zum ersten mal im Laufwerk drehte, folgte das nächste Déjà-vu: Das Menü nebst Landkarte ähnelt Colin McRae Dirt 2 

Auch wenn es hier so aussieht: Luft-Tricks gibt es in nail'd (ab 2,36€ bei kaufen) nicht.
und sogar das aufgeblasene Schlauch-Männchen wedelt neben der Startlinie mit den Armen. Doch sobald ich über die Strecke raste, merkte ich, dass mehr in nail'd steckt als eine Kopie.

Auch hier geht es um Quads, weite Sprünge und einen hübschen Ausblick. Doch das polnische Spiel geht das Thema noch eine ganze Ecke kompromissloser an als die Konkurrenz von der Insel. Zuerst fällt die gestiegene Geschwindigkeit und das vereinfachte Handling auf: Simulations-Fans sind hier an der völlig falschen Adresse - mit echten ATV-Rennen hat der Titel so viel gemein wie Wipeout mit einem Motorrad-Picknick in der Lüneburger Heide. Von Beginn an brettere ich in einem Affenzahn durch die Botanik. Eine großzügig bemessener Boost-Tank und die Fischaugen-Optik verschärfen das Geschwindigkeitsgefühl noch.

Hirn aus, Turbo an!

Damit mir nicht der Saft für den pfeifenden Turbo ausgeht, versuche ich sofort, ein paar Tricks auszuführen, Doch während ich nach einem mörderischen Sprung von der Klippe hunderte Meter weit ins Tal segele, macht mein Fahrer nicht die geringsten Anstalten, seinen faulen Hintern vom Bike zu bewegen und sich endlich zu verrenken. Das liegt nicht an einem kaputten Pad oder defektem Programmcode, sondern schlicht und ergreifend daran, dass keinerlei akrobatische Kunststücke in der Luft vorgesehen sind. Nix, nada. Wenn ihr zur Fraktion gehört, welche schon immer mal mit dem Kauf von Pure liebäugelte, »wenn nur die blöden Tricks nicht wären«, solltet ihr jetzt zuschlagen.

Damit sich der Trip durch die Pampa aufgrund der gutmütigen Fahrphysik nicht zu eintönig gestaltet, haben die Entwickler trotz des Verzichts auf Luft-Akrobatik ein Turbo-Stunt-System integriert: Als ich z.B. nach einem beherzten Sprung über eine Reihe zerklüfteter Felsen sanft auf allen vier Rädern lande, bringt mir das neuen Sprit ein. Dann rase ich beinahe senkrecht an einer riesigen Staudammmauer entlang. Ich schlängele mich an ein paar Gittern vorbei, aus denen mit Hochdruck Wasser sprudelt und bekomme für den Trip an der Wand ebenfalls Bonus-Sprit. Diese Technik ist auch an anderer Stelle nützlich - z.B. in einer Tunnelröhre, in der ich wie bei einer Amokfahrt einem Schnellzug entgegen rase. Nur wer rechtzeitig ausweicht und an der Wand empor düst, mogelt sich aus der Gefahr.

Was für ein Ausblick: Die Strecken sind nicht nur hübsch gestaltet, sondern bieten auch jede Menge Abkürzungen.
Doch ich übertreibe es und zerschelle an der Decke - natürlich mit standesgemäßer Explosion. Trotz der übertriebenen Inszenierung ist das kein Beinbruch: Blitzschnell werde ich so weit nach vorne auf die Strecke verfrachtet, dass ich nur einen Platz nach hinten gerutscht bin. Das sehr großzügige Zurücksetzen passt prima ins Konzept, denn es verführt dazu, auch in brenzligen Situationen halsbrecherische Wagnisse einzugehen.

Drängeln statt turnen

Der Turbo füllt sich auch, wenn ich kurz auf den Hinterrädern fahre, einen Abschnitt fehlerfrei meistere, eine Zeit lang an einer beinahe senkrechten Wand entlang zische, oder ein paar andere Dinge erledige. Insgesamt gibt es rund ein Dutzend dieser Aktionen, welche leider nicht immer präzise genug erkannt werden. Besonders motivierend ist aber, dass auch fiese Rempel-Attacken dazu gehören. Endlich mal wieder ein Titel, in dem noch Wert auf Unfair Play gelegt wird! Es ist ein unglaublich befriedigendes Gefühl, einen rempelnden Kontrahenten mit einem eleganten Schubser über die Klippe springen zu lassen und zwei Sekunden später von einem Symbol über den Erfolg informiert zu werden. Solch fiese Aktionen gelingen sogar erstaunlich oft, denn hat man einem KI-Rivalen erstmal eins mitgegeben, schüchtert ihn das oft derart ein, dass er ins Schlingern kommt und die folgende Kurve nicht mehr sauber erwischt. Auch davon abgesehen verhalten sich die Computergegner erfreulich abwechslungsreich.

Sie wählen unterschiedliche Abzweigungen aus, machen Fehler und bekriegen sich gegenseitig. Leider ist in den allgemeinen Schwierigkeitsgrad der Herausforderungen deutlich weniger Sorgfalt geflossen: Die ersten Rennen und manch Stunt-Herausforderungen hätte ich fast im Schlaf erledigt, ein paar andere Meisterschaften gestalten sich dagegen recht knifflig. Zum Glück darf man zwischen abgeschlossenen Veranstaltungen jederzeit den Schwierigkeitsgrad auf einen der drei Stufen ändern. Schöner wäre es aber gewesen, wenn es für jede davon eigene Medaillen gäbe wie bei PGR. Bei nail'd kann man leider nicht nachprüfen, auf welcher Stufe jemand anderes seine Siege eingefahren hat.

         

Abenteuerliche Prachtkulissen

Techland müssten eigentlich eine Sonderauszeichnung bekommen, denn derart phantasievolle, abwechslungsreiche und durchgeknallte Strecken sind mir schon lange nicht mehr untergekommen: Ich springe durch die Rotoren von Windrädern, über die Zinnen von Schlosstürmen hinweg, rase kopfüber an den Wänden winziger Lüftungsschächte entlang und starte halsbrecherische Sprünge über Seen, gewaltige Felsmassive oder brettere durch verschneite Natur. 

Auch Motocross-Räder dürfen gefahren werden. Der spielerische Unterschied hält sich aber in Grenzen.
Auch die Vegetation am Wegesrand kann sich sehen lassen. Der steinige Kurs selbst wurde allerdings nicht so fein und räumlich ausgearbeitet wie bei Pure. Allgemein können die Kulissen technisch nicht ganz mit Black Rocks Prachtkulissen oder gar denen in Colin McRae: DIRT 2 mithalten.

Alternativ zu den ATVs darf ich auch mit einem Motorrad durch die Pampa heizen. In der Praxis unterscheiden sich die beiden Vehikel aber nicht all zu stark. Nach einer Weile habe ich mich also wieder für das etwas gutmütigere Quad entschieden. Sogar tunen und feineinstellen lassen sich die beiden Gefährte, und zwar in einer ähnlich einfach aufgebauten Werkstatt wie in Pure. Die Änderungen wirken sich allerdings kaum aufs Fahr- bzw. Gleitverhalten aus. Zusätzlich dürfen Fahrer/-in und Untersatz noch mit einigen Farben und Folien verschönert werden.

Kein Dauerbrenner...

Neben einfachen Rennen, kleinen Meisterschaften sowie Checkpoint- und Zeit-Rennen gibt es außerdem die bereits erwähnten Punkte-Herausforderungen. Hier fallen die größten Schwächen des Spiels auf: Erstens wurde das Können der KI hier viel zu schwach dosiert und darüberhinaus hat Techland die Chance vertan, seinem Spiel ein zeitgemäßes Punktesystem zu verpassen. Es kommt es nur darauf an, die erlernte Streckenkenntnis zu nutzen und dadurch die Punkte in die Höhe zu treiben.  Wenn ich mehrere Stunts schnell und fehlerfrei aneinander kette, gibt es dafür keinerlei Boni oder gar ein mehrstufiges Stunt-System wie in Pure. Ärgerlich ist auch die inkonsequente Kollisionsabfrage: Manchmal donnere ich mit voller Geschwindigkeit gegen Beton und kann ohne einen Kratzer weiter fahren, an anderer Stelle sorgt schon eine kleine Wurzel am Wegesrand dafür, dass mein Bike explodiert.

Ein klarer Pluspunkt ist dagegen die Multiplayer-Tauglichkeit: Alle drei Versionen unterstützen LAN-Matches und auch die Internet-Rennen machen Laune. Der Online-Modus fällt zwar nicht all zu aufwändig aus und oft dauert es ein Weilchen, bis überhaupt andere Spieler online sind, 

In nail'd leidet die idyllische Griechenland-Strecke noch nicht unter dem Sparpaket.
doch beim Erstellen eines Servers gibt es viele nützliche Optionen hinsichtlich Modi oder Spielerzahl oder Kollisionen. Auch eine Belohnung in Form von Punkten ist dabei, welche aber leider nicht detailliert aufgeschlüsselt wird. Schön auch, dass mir bisher keine Lags untergekommen sind. Besonders clever: Die Ranglisten lassen sich nach Weltregion, Land oder sogar Städten wie Hamburg sortieren - so dass auch ein Ottonormalspieler sich durchaus einen Spitzenplatz als Lokalmatador erkämpfen kann.

Vorteil PC

Die drei unterschiedlichen Versionen gleichen sich inhaltlich wie ein Ei dem anderen, doch wer die Wahl hat, sollte zur PC-Version greifen. Dort flutschen die Kulissen am flüssigsten über den Bildschirm. Bei der 360-Fassung trüben bereits kleine Detail-Abstriche das Bild; auch ein leichtes Dauerzuckeln macht sich in Kurven und hektischen Situationen bemerkbar. Auf der PS3 verstärken sich die beiden Probleme noch. Es hält sich in erträglichen Grenzen und nach ein paar Minuten hatte ich mich daran gewöhnt - doch in einem Spiel, das so stark von der Geschwindigkeit lebt, kann eine jederzeit gute Sicht darüber entscheiden, ob ich den Abflug mache oder die Kurve kriege.

     

Fazit

Das nenne ich eine gelungene Überraschung! Entgegen erster Befürchtungen ist nail'd kein bloßer Abklatsch des Offroad-Klassikers Pure. Stattdessen geht der polnische Entwickler Techland den von Black Rock eingeschlagenen Weg in Richtung Arcade-Action konsequent weiter: Nail'd ist der pure und überaus halsbrecherische Geschwindigkeitsrausch in phantasievollen Kulissen, ganz ohne störenden Realismus. Es macht hochgradig süchtig, durch unwirtliches Gelände zu pflügen, an einer beinahe senkrechten Staumauer entlang zu düsen, von zerklüfteten Berggipfeln aus hunderte Meter ins idyllisch gestaltete Tal zu segeln und natürlich drängelnde KI-Gegner über die Klippe zu schubsen. Letzteres ist besonders befriedigend, da es sogar eine Boost-Schub einbringt. Nail'd hat klares Potential, Flatout 2 als LAN-Party-Geheimtipp den Rang abzulaufen. Einsame Pistenrambos haben dagegen weniger lang Freude am Spiel: Die simpel gestrickte Karriere bietet zwar einige Modi und 14 sehr abwechslungsreiche Strecken mit vielen verrückten Abkürzungen, aber deutlich zu wenige Veranstaltungen; auch Online sind leider nicht all zu viele Gegner unterwegs. Ein weiteres Problem ist das einfache Boost-System: Der Verzicht auf akrobatische Tricks erleichtert zwar den Einstieg, sorgt aber auch für einen akuten Mangel an Spieltiefe. In den Punkte-Herausforderungen lassen sich nicht einmal Kombos aneinanderketten wie in Pure oder Project Gotham Racing. Wer den Mangel an Tiefgang und Umfang verschmerzen kann, sollte aber unbedingt zugreifen, denn für zwischendurch ist nail'd der ideale Adrenalin-Kick!

Pro

pfeilschneller Adrenalinrausch
unkomplizierter Multiplayer-Spaß
phantasievolles, abwechslungsreiches Streckendesign
wahnsinnige Alternativ-Routen
ansehnliche Panoramen
gelungene Fischaugenperspektive
Unsportlichkeit wird belohnt
schnelle Rücksetzpunkte fördern Waghalsigkeit
KI rempelt, nimmt Abkürzungen und macht Fehler
kerniger Gitarren-Soundtrack passt bestens
Bestenlisten nach Städten, Ländern, Regionen
flüssige Online-Rennen für bis zu 12 Piloten

Kontra

- nur rund neun Stunden kurze Karriere
kein Splitscreen-Modus
Schwierigkeitsgrad schwankt
keine Punkte-Kombos wie in Pure oder PGR
teil inkonsequente Kollisionen
Boost-Stunts werden nicht präzise genug erkannt
leichtes Dauerruckeln (360 und vor allem PS3)
häufiges Tearing (360 und vor allem PS3)
gelegentliche Popups

Wertung

360

nail’d ist der pure Geschwindigkeitsrausch für lustige Mehrspieler-Sessions, lässt aber in punkto Umfang und Spieltiefe zu wünschen übrig.

PC

Auf dem PC sorgen eine flüssige Bildrate und eine hohe Auflösung für den intensivsten Geschwindigkeitsrausch.

PlayStation3

Auf der PS3 werden die Augen durch leichtes Dauerruckeln und Tearing mehr strapaziert als in den übrigen Fassungen.

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