Das Testament des Sherlock Holmes27.09.2012, Jan Wöbbeking
Das Testament des Sherlock Holmes

Im Test:

Nach gefühlten 100 Pressemitteilungen darf Sherlock Holmes endlich ermitteln. Rund drei Jahre saß das ukrainische Team von Frogwares am Spiel, im Gegenzug soll der sechste Teil der Adventure-Reihe eine unbekannte Seite des nüchternen Analytikers beleuchten. Als die brutal zugerichtete Leiche eines Bekannten aufgefunden wird, gerät Sherlock selbst unter Verdacht.

Fast wie am Tatort

Neu ist auch die Entwicklung für mehrere Plattformen: Neben PC-Spielern können erstmals auch Besitzer einer PS3 oder Xbox 360 ermitteln. Damit Konsolenspieler nicht mit einem trägen Cursor-Pfeil kämpfen müssen, haben die Entwickler das Spiel in die Ego-Perspektive verlegt. Wer möchte, kann seiner Figur auch über die Schulter schauen; am PC gibt es außerdem eine klassische Ansicht mit starren Perspektiven. Ich würde aber auch Traditionalisten die Ego-Sicht empfehlen, denn dadurch gewinnt der Streifzug durchs ohnehin hübsch inszenierte London an Atmosphäre. Am Rechner wird das Spiel dann wie ein Shooter mit Maus und Tastatur gesteuert.

Das Abenteuer beginnt mit einem einfachen Auftrag: Im Jahr 1898 sorgt der zur Hilfe gerufene Privatdetektiv dafür, dass der Marquis von Conyngham seine gestohlene Perlenkette zurückbekommt. Als sie kurz danach erneut verschwindet, wird Holmes verdächtigt. Er hielt sie schließlich als Letzter in den Händen. Kurz danach findet er auch noch den Leichnam des schrecklich misshandelten Bischofs von Knightsbridge in seinen Gemächern und rutscht immer tiefer in die verschwörerische Geschichte. Eine Reihe hetzerischer Enthüllungs-Artikel machen ihn für alle möglichen älteren Verbrechen verantwortlich.

Keine Polizei!

Die Hotspot-Anzeige wird mit Holmes' sechstem Sinn verknüpft: Man darf nur ab und zu die Hotspots anzeigen lassen. Darüberhinaus gibt es keine Hilfe.
Die Hotspot-Anzeige wird mit Holmes' sechstem Sinn verknüpft: Man darf nur ab und zu die Hotspots anzeigen lassen. Darüberhinaus gibt es keine Hilfe.
Als Holmes in den Gemächern seines ermordeten Freundes eintrifft, beschließt er, die Polizei erst einmal außen vor zu lassen den Tatort und auf eigene Faust zu untersuchen. Der aufgeregte Reverend drängt ihn zwar dazu, den Inspektor zu rufen, doch der abgeklärte Privatdetektiv lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich schlüpfe in Sherlocks Rolle, halte den nervösen Geistlichen etwas hin und untersuche den von Blut und Erde verdreckten Tatort. Die Steuerung funktioniert in allen drei Varianten gut: Ich gehe zur Leiche, aktiviere per Knopfdruck die Nahansicht und richte den Blick nacheinander auf drei Körper-Regionen. Das Opfer wurde übel gefoltert. Die zerschnittene Leiche mit ihren gebrochenen Fingern und andere brutal zugerichtete Todesopfer haben auch die USK dazu bewegt, das Spiel erst ab 16 freizugeben. Neben den frischen Wunden hat der Bischof aber auch ältere blaue Flecken. Im Schrank finde ich außerdem eine Peitsche und ein Bußgürtel. Offenbar war der Geistliche Schmerzen gewohnt, weil er sich regelmäßig selbst peinigte. Er muss der Folter also ziemlich lange widerstanden haben.

Welche Information wollten die Einbrecher aus ihm heraus prügeln? Die Fußabdrücke am Eingang geben immerhin einen Hinweis auf ihren sozialen Status. Sie zeigen das Muster genagelter Sohlen, wie sie von einfachen Arbeitern getragen werden. Ein Abdruck stammt außerdem von einem teuren italienischen Lederschuh, welcher dem Bischof offenbar vor dem Verschwinden ausgezogen wurde. Ein kleiner Nebenverdienst eines beauftragten Schlägertrupps? Nachdem ich noch ein paar weitere Indizien gesammelt habe, füge ich die gesammelten Informationen auf meinem Notizblock zusammen. Zwei Informationen führen zu einer Erkenntnis: Erstens: Der Bischof besaß keine Wertgegenstände – nicht einmal im Tresor. Zweitens: Das Nebenzimmer wurde nicht durchsucht. Als Schlussfolgerung kann ich aus drei Ergebnissen auswählen. Die richtige lautet in diesem Fall: Die Mörder haben etwas Bestimmtes gesucht. Nach und nach fügt sich das Puzzle zusammen, bis ich schließlich das richtige Ergebnis in der Hand halte, welches mich an den nächsten Schauplatz führt, an dem ich z.B. Bekannte von Verdächtigen vernehme.

Clevere Schlussfolgerungen

Der tote Bischof wurde übel zugerichtet. Im späteren Spielverlauf muss auch eine Obduktion gemeistert werden.
Der tote Bischof wurde übel zugerichtet. Im späteren Spielverlauf muss auch eine Obduktion gemeistert werden.
Obwohl die Multiple-Choice-Aufgaben der Deduktion sehr einfach gestrickt sind, ist es befriedigend, die Indizienkette auf dem Papier zu vervollständigen – und natürlich vorher gewissenhaft den Tatort zu untersuchen. Dieser Bereich der Detektivarbeit ist eine klare Stärke des Spiels. Die Ermittlungsergebnisse wirken etwas glaubwürdiger als z.B. in Memento Mori 2.

Zwischendurch strecken die Entwickler die Spielzeit leider immer wieder mit durchwachsenen Deschiffrierungs-Puzzles und faden Minispielen, welche das eigentlich gute Erzähltempo ausbremsen. Bevor ich mich ins Westgate-Hochsicherheitsgefängnis begebe, muss ich erst einmal ein Schachrätsel lösen. Zu dem Puzzle gibt es bis auf eine Andeutung in einem Brief keinerlei Hinweise. Da ich kein Schach spiele, dauert es eine ganze Weile, bis ich das richtige Muster erkannt habe, mit dem die Figur das Feld einfärben muss. Unter dem letzten Feld steckte schließlich eine lockere Fliese und darunter eine geheime Nachricht. Die Minispiele sind verantwortlich für den schwankenden Schwierigkeitsgrad: Bei einigen steckte ich lange in der Sackgasse, der Großteil lässt sich aber zu leicht lösen. Wenn es wieder einmal ein Schloss zu knacken gibt, muss ich z.B. einfach nur einen Metallbügel in die vorgegebene Form biegen – unheimlich spannend! Zum Glück lassen einige schwere Exemplare sich aber nach einer verstrichenen Zeitspanne einfach überspringen.

Kleines Chemie-Labor

Die Detektivarbeit ist die Stärke des Spiels: Hier wird ein Stück Seil untersucht...
Die Detektivarbeit ist die Stärke des Spiels: Hier wird ein Stück Seil untersucht.
Interessanter wird es in Holmes berühmtem Labor. Gesteinsbrocken werden mit dem Pinsel von verdächtiger Erde befreit und mit Gegenständen von einem Friedhof verglichen. Auch Chemikalien untersuche ich auf ihre Wirkung. Bei der Analyse machte mir das etwas hakelige Interface einen Strich durch die Rechnung: Die Hähne einiger Fläschchen konnte ich erst nach einigen erfolglosen Versuchen öffnen – und gelangte schon wieder in eine Sackgasse. Eine sauberer programmierte Bedienung oder mehr Hinweise hätten mir auch bei einigen anderen Aufgaben Frust erspart.

Deutlich besser gelungen sind die Zwischensequenzen: Dank passender Kameraeinstellungen  und einer professionellen deutschen Vertonung fühlte ich mich beinahe wie in einen klassischen Krimi. Auch nach dem Filmchen bleibt das Abenteuer stimmungsvoll. Nachdem ich auf dem PC alle Details und Effekte aufgedreht hatte, wirkte

Auf dem Notizblock gelangt man schließlich zu einer Schlussfolgerung.
Auf dem Notizblock gelangt man schließlich zu einer Schlussfolgerung.
das London des Jahres 1898 glaubhaft und lebendig: In den dunklen Gassen neben der heruntergekommenen Whitechapel Street wimmelt es von Bettlern, Ratten, Arbeitslosen und zwielichtigen Gestalten.

Londons Schattenseiten

Auch eine Opiumhöhle, ein heruntergekommenes Hospital und andere Orte sind stimmungsvoll gestaltet. Mit Heavy Rain kann es die Atmosphäre bei weitem nicht aufnehmen, trotzdem hat es mir Spaß gemacht, das alte London zu entdecken. Die Figuren laufen zwar etwas steif und behäbig, was bei englischen Gentlemen wie Watson aber gar nicht so unpassend wirkt. In Gesprächen bewegen sich die Charaktere außerdem natürlicher, weil sie auch einmal locker das Gewicht aufs andere Bein verlagern oder

Weniger unterhaltsam: Alle paar Minuten muss ein Schloss durch ein fades Nummernrätsel oder Minispiel geknackt werden.
Weniger unterhaltsam: Alle paar Minuten muss ein Schloss durch ein fades Nummernrätsel oder Minispiel geknackt werden.
lockerer gestikulieren.

Analog zu den heruntergekommenen Schauplätzen werden im Laufe des Abenteuers auch Holmes‘ Ermittlungsmethoden fragwürdiger. Er erpresst z.B. den Reverend oder lässt sich auf die Zusammenarbeit mit einem gefährlichen deutschen Giftmischer ein. Letzterer sitzt wie Hannibal Lecter im Hochsicherheitsgefängnis und gibt beim Besuch philosophische Weisheiten von sich. Dr. Watson, in dessen Rolle ich ebenfalls ab und zu schlüpfe, zweifelt im Laufe des Spiels mehr und mehr an seinem langjährigen Freund und auch als Spieler kann man nicht sicher sagen, ob man Holmes wirklich noch trauen kann. Passend zum linearen Ablauf des Abenteuers werden auch die Dialog-Optionen nacheinander abgearbeitet. Ab und zu gilt es aber eine Entscheidung zu fällen - z.B., ob man den Zeugen eines Verbrechens für eine Information erpresst, bedroht oder nur besticht.

Schludrige PS3-Umsetzung

Die PS3-Version schaut eine ganze Ecke hässlicher aus als die PC-Fassung. Unscharfe

Die mal ruhige, mal dramatische Orchester-Musik hält sich im Hintergrund, unterstützt das Spiel aber gut.
Die mal ruhige, mal dramatische Orchester-Musik hält sich im Hintergrund, unterstützt das Spiel aber gut.
Texturen, Pixeltreppchen und flackernde Schatten lassen das Bild viel unruhiger wirken als Highlights wie Uncharted 3 oder Heavy Rain. Am meisten stört aber die (immerhin konstant) niedrige Bildrate von rund 20 Bildern pro Sekunde, welche vor allem bei Kameradrehungen unangenehm auffällt.

Die PS3-Fassung leidet außerdem unter Soundproblemen: Ab und zu wird nach einem Dialog schon das nächste Sample angespielt, wodurch abgehackte Sprachfetzen zu hören sind. Die schwache Technik vermiest zwar nicht den Spaß am Rätseln, trotzdem hätten sich die Entwickler bei der Umsetzung ruhig mehr Mühe geben können. Die Steuerung klappt durch die Ego- bzw. Schulter-Perspektive mit dem Controller aber fast genau so gut wie mit Maus und Tastatur.

Fazit

Auf den ersten Blick macht Frogwares neues Krimi-Adventure vieles richtig: Die unterhaltsam erzählte Verschwörungs-Geschichte hat schnell mein Interesse geweckt. Dank der starken Technik und der Ego-Perspektive fühlte ich mich beinahe wie ins heruntergekommene London des Jahres 1898 versetzt. Auch die Detektivarbeit macht Spaß: Es ist richtig unterhaltsam, am Tatort herumzuschnüffeln und die Indizienkette Stück für Stück auf dem Notizblock zusammenzufügen. Leider haben die Entwickler das Spiel zu sehr mit unpassenden Minispielen gestreckt: Warum ist beinahe jede noch so einfache Tür mit einem eigentümlichen Spezial-Mechanismus verschlossen? Und warum schwankt der Schwierigkeitsgrad so stark? Oft kam ich auf Anhieb auf die richtige Lösung, manchmal erst nach sehr langer Zeit. Mit mehr Hinweisen oder einem sauberer entwickeltem Bedienung hätten die Entwickler den Spielern eine Menge Frust ersparen können. Trotzdem überwiegen die positiven Momente: Wer Lust auf ein spannendes Krimi-Adventure hat, sollte ruhig zugreifen!

Update zur Version für Xbox 360:

Im Gegensatz zur PS3-Umsetzung hat die Xbox 360-Version nicht mit Sound-Fehlern zu kämpfen. Auch die Framerate ist flüssiger; nur ab und zu geht die Engine in die Knie und es kommt zu Rucklern. Außerdem sehen die Figuren sowie ihre Schatten sauberer aus und auch in den Hintergründen bieten die Texturen und Oberflächen etwas mehr Details. Die Qualität der PC-Fassung wird natürlich nicht erreicht, aber auf der Xbox 360 stören immerhin keine technischen Probleme die Atmosphäre.

Pro

geheimnisvolle, unterhaltsam erzählte Geschichte
interessantes Schlussfolgern auf dem Notizblock
stimmungsvoll inszeniertes London
alternative Ego-Sicht macht die Beweissuche intensiver
gelungene deutsche Synchronisation
üppige Spielzeit von rund 18 Stunden
sämtliche Dialoge und Erkenntnisse werden notiert

Kontra

viele fade Minispiele
schwankender Schwierigkeitsgrad
einige schlecht erklärte, mitunter hakelige Menüs
etwas steife Laufanimationen
niedrige Framerate (360 und vor allem PS3)
häufiges Sound-Stottern in Dialogen (PS3)

Wertung

360

Die Xbox 360-Version leidet nicht unter den PS3-Problemen, ab und zu geht aber auch hier die Framerate in die Knie.

PC

Stimmungsvoll erzähltes Krimi-Adventure mit spannender Detektivarbeit, aber auch vielen faden Minispielen und schwankendem Schwierigkeitsgrad.

PlayStation3

Auf der PS3 leidet die eigentlich gelungene Inszenierung unter technischen Problemen.

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