Super Time Force16.05.2014, Mathias Oertel

Im Test: Die Zeit als Verbündeter

Während die PS4 in Sachen Independent-Produktionen schon lange Fahrt aufgenommen hat, schaltet Microsoft erst jetzt in den zweiten Gang. Doch hinter Super Time Force für 360 und Xbox One steckt niemand Geringerer als Capybara. Die Kanadier haben zuletzt anSuperbrothers: Swords & Sworcery mitgearbeitet und sich den Klassiker Contra (aka Probotector) geschnappt, um ihn stilistisch zu verfeinern. Ob das gelingt, klärt der Test.

Das andere Philadelphia-Experiment

Wir schreiben das Jahr 1987. Ein gewisser Dr. Repeatski, der mit Augenklappe und Rauschebart eher wie ein Überbleibsel aus der Piratenzeit denn wie ein zerstreuter Wissenschaftler aussieht, hat das Theorem für Zeitreisen entdeckt. Doch bevor er das Ereignis gebührend feiern kann, wird die Erde von Robotern angegriffen und beinahe komplett zerstört. Zur Rettung kommt Commander Repeatski, sein mit Orden gespicktes futuristisches Ich, der mittlerweile eine zweite Augenklappe trägt, aber zu einem militärischen Held geworden ist. Denn mit Hilfe seiner Technik hat er mit der Super Time Force (STF) in der Zukunft eine nahezu unschlagbare Truppe zusammengestellt, die er in der Vergangenheit nutzt, um die mechanische Armee zurückzuschlagen.

Nicht nur das Zeitlimit brennt unter den Nägeln: Die Retro-Action kann sehr hektisch werden.
Und die nutzt er nicht nur im Jahr 198X, sondern auch, um andere Ungerechtigkeiten wieder "geradezubiegen". So wird man z.B. beauftragt, den Meteor-Einschlag zu verhindern, der im Jahr 1.000.000 v.Chr. die Dinosaurier vernichtet hat oder muss im Jahr 3072 Plug-Ins und Updates finden, damit Repeatski seine Lolcat-Videos weiterschauen kann.  Auch die Ausflüge in das postapokalyptisch 199X oder das mittelalterliche 673 sind ähnlich absurd begründet. So bekommen die mechanisch deutlich an Contra (hierzulande auch als Probotector bekannt) angelehnten, seitwärts scrollenden Ballereien einen angenehm witzigen Hintergrund. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich bei den erklärenden Textsequenzen schmunzle - und das nicht nur, weil immer wieder kleine Schreibfehler auftauchen. Spiele, die sich (und andere) nicht ernst nehmen, gibt es viel zu wenige.

Das Knobel-Probotector

Wie beim betont pixeligen, aber sehr charmanten 16-Bit-Retro-Look wirft Capybara einen auch hinsichtlich der Steuerung und des grundsätzlichen Spielgefühls in die gute alte Zeit: Man springt, man schießt (in acht digitale Richtungen, kann aber die Feuerrichtung per Schultertaste arrettieren) und schließlich steht man dem meist mehrstufigen Boss gegenüber. So weit, so unterhaltsam, aber auch so bekannt. Und auf den ersten Blick ist auch das Zurück- bzw. Vorspulen der Zeit nichts Neues - man denke an Spiele wie Prince of Persia oder TimeShift. Doch das Team nutzt die Zeitmanipulation nicht nur, sondern macht sie zum essenziellen Bestandteil von Mechanik, Spielerfahrung und actionreiche Rätsel.

Denn man kann noch so gut ballern:

Angreifen aus mehreren Positionen: Dank Zeitmanipulation kein Problem.
Nutzt man nicht die Möglichkeit, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu beeinflussen, wird man schnell das Zeitliche segnen. Und selbst daraus kann man noch seine Vorteile ziehen.

Hä? Wie bitte? Okay, eins nach dem anderen. Fangen wir mit dem Sterben an: Da man die Zeit zurückdrehen kann, kann man auch den Tod umkehren. Richtig? Richtig! Aber nur eingeschränkt. Denn man verändert zwar die Vergangenheit, landet aber mit seiner Figur in einer "parallelen" Zeitebene, die quasi über dem bereits gespielten Geschehen liegt. Man löscht das Geschehene nicht aus, sondern spielt zeitgleich neu. Schafft man es in dieser "neuen" Zeit den Gegner auszuschalten, der für den Tod des Kameraden der anderen "Zeitzone" verantwortlich ist (und die nach Wiederaufnahme des Spiels normal weiter läuft), ist der Kumpel nicht nur gerettet, sondern kann per "Aufsammeln" die Feuerkraft der gegenwärtigen Spielfigur aufwerten - bis diese stirbt oder man wieder wechselt.

Zeit, Taktik, Figurenwechsel

Als ob das nicht reichen würde, um die Gehirnwindungen erstmal zum Qualmen zu bringen, kommen noch einige andere Elemente hinzu. Jeder der beinahe 30 Abschnitte ist mit einem Zeitlimit versehen, das einem neben den sorgsam in den Levels platzierten Gegnern schnell unter den Nägeln brennt, das aber natürlich mit der Zeitmanipulation "mitgeht" und durch sammelbare Uhren aufgebohrt werden kann. Weiterhin hat jede der Figuren besondere Eigenschaften sowie eine sekundäre Angriffsoption. Die Scharfschützin Aimy Mckillin z.B. hat als Standard einen Schuss, der von Wänden abprallt sowie einen Wände komplett ignorierenden, alles durchschlagenden Megaschuss als aufladbare Fähigkeit. Der Grenadier Jef Leppard wirft Granaten (natürlich!) oder lädt seinen Angriff zu einer Rakete auf. Da manche Gegner natürlich anfälliger gegen bestimmte Angriffsmuster sind, ist man schnell dabei, mit der Zeit und den Angriffsoptionen zu experimentieren. Und wenn es hart auf hart kommt und auch der Schildträger Shieldy Blockerson nicht mehr reicht, um die Projektile abzuwehren, kann man natürlich auch versuchen, sich mit zehn Versionen von Jean Rambois und ihrem MG zu helfen.

Allerdings ist die Anzahl der möglichen Zeitmanipulationen auf 30 begrenzt. Sind alle "Chancen" verbraucht, heißt es Game Over. Und das Leveldesign ist ebenso intelligent wie gnadenlos darauf ausgelegt, einem einen nach dem anderen der 30 Zeitstopper zu nehmen. So kann man z.B. nur beim Spulen bestimmte Kristalle entdecken, die in der "normalen" Geschwindigkeit abgeschossen werden können und damit eine Zeitlupe einschalten, mit der man hartnäckigen Feinden an den Kragen kann. Um andere Kristalle zu erreichen, muss z.B. eine Figur weit in das Level

Die Bosse fordern nicht nur gute Reaktionen und Fingerfertigkeit, sondern auch sorgfältige Planung und Nutzung der Spulfunktion.
hinein gespielt und dann zurückgespult werden, damit man mit einem neuen Charakter die Sprungsequenzen erledigen kann, ohne Gefahr zu laufen, "erlegt" zu werden. Bis man alle Abschnitte zu 100 Prozent erledigt hat, ist man mit Lernen und Experimentieren beschäftigt.

Bis zur Hektik

Man sollte dabei jedoch nicht nur gute Reaktionen, sondern auch gute Nerven und eine nicht zu verachtende Frustresistenz mitbringen. Denn das Geschehen ist nicht nur sehr abwechslungsreich und humorvoll, sondern auch hektisch. Mitunter so hektisch, dass es vermutlich deutlich stressfreier wäre, eine Herde mit Energy Drinks vollgepumpter Wüstenrennmäuse in einer Turnhalle einzufangen. Während man aktiv beschäftigt ist, den dutzenden Projektilen und/oder Gegnern auszuweichen, stirbt, rettet und den Level erforscht, während um einen herum Pixel-Explosionen gleißen, geht der Adrenalinspiegel nach oben. Gelegentlich allerdings einen Schritt zu weit. Zwar gibt es keine unfairen Situationen, doch ich habe bei mir festgestellt, dass ich irgendwann nur noch versessen vor- und zurückgespult habe, um einen Punkt zu finden, in der ich eine Figur sicher absetzen und damit alle zehn oder zwölf anderen mit dem "einen" Schuss retten kann und meine ganzen vorherigen Anstrengungen nicht umsonst waren. Natürlich hat es nicht geklappt. In der Ruhe liegt die Kraft. Nur: Das Spiel gibt einem diese Ruhe nur höchst selten.

Die Kulisse mit ihrem Retro-Look entfacht ihren ganz eigenen Charme.
Davon sind natürlich auch die Bosskämpfe nicht ausgenommen. Nicht nur, dass man mit wechselnden Strategien fertig werden muss. Zusätzlich kommt man natürlich auch hier nicht umhin, das Zeit-Feature zu nutzen. Will man nicht das Zeitlimit überschreiten, müssen Figuren parallel von verschiedenen Seiten angreifen. Oder man muss die Feuerkraft konzentrieren - was natürlich nur geht, wenn man ballert, was das Zeug hält, dann zurückspult, daraufhin den gleichen (oder eine anderen) Charakter daneben stellt, wieder zurückspult usw. Leider verpasst Capybara hier wie auch häufig in den Standard-Levels die Chance, die Fähigkeiten der Figuren intensiver in den Mittelpunkt zu rücken. Anstatt den Spieler aufzufordern, diese Fähigkeiten zu kombinieren, lässt man sich meist auf das typische "Mehr ist mehr" zurückfallen. Soll heißen: Man nutzt bevorzugt die Charaktere mit den mächtigsten Knarren anstatt die vielleicht intelligenteste Lösung zu suchen. 

Fazit

Hut ab! Mitunter ist die seitwärts scrollende Action mit Zeitmanipulation, die Capybara in einem charmanten Pixel-Look auf die Konsole bringt, zwar enorm hektisch. Und die Figuren, mit denen man versuchen kann, das humorvolle sowie mit Anspielungen prall gefüllte Abenteuer zu Ende zu führen, sind hinsichtlich ihrer Fähigkeiten nicht ausgewogen. Doch trotz aller Hektik, trotz des hohen Anforderungsprofils und trotz des gelegentlich aufkeimenden Frusts habe ich Schwierigkeiten, mich vom Pad zu lösen. In der Schussmechanik und visuell ist das eine gelungene Verbeugung vor den Contras aka Probotectors der Pionierzeit. Das intelligente Leveldesign, die abwechslungsreichen Ballersequenzen und die jegliche Konvention sprengende Nutzung der Zeit sowie aller angeschlossener Paradoxe zieht mich immer wieder zurück an den Controller.

Pro

gelungener "Action-Puzzler"
viele witzige Anspielungen
ordentliche Bosskämpfe...
gelungenes, abwechslungsreiches Leveldesign
fordernder Schwierigkeitsgrad
charmantes Pixel-Design
sechs thematisch unterschiedliche Epochen mit gut 30 Abschnitten

Kontra

Übersetzungsfehler
kann mitunter hektisch und unübersichtlich werden
... die aber zu häufig auf die feuerkräftigsten Figuren setzen
Musikuntermalung könnte abwechslungsreicher sein

Wertung

360

Anspruchsvolle Ballerei im Retro-Look, die geschickt das Thema der Zeit-Manipulation einbaut und ausreizt.

XboxOne

Anspruchsvolle Ballerei im Retro-Look, die geschickt das Thema der Zeit-Manipulation einbaut und ausreizt.

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