Im Test:
Eine gnadenlose Reise
Mist, er hat mich gehört! Ein kurzes Erkennen, dann instinktives Handeln: Knochen brechen, Blut spritzt und der Mann sackt nach drei brutalen Hieben mit der Brechstange zu Boden. Ich atme durch, aber seine Schreie waren zu laut. Schüsse hallen durch die Dunkelheit, irgendwo werden Befehle gerufen, man soll den verdammten Mistkerl und die kleine Schlampe fertig machen. Schatten rücken zwischen Scheinwerferlicht vor. Es sind zu viele, ich renne weg und husche in Deckung. Meine Verletzung ist kritisch, aber habe ich Zeit mich zu verbinden? Lieber den Molotow-Cocktail klar machen – es ist mein letzter.
Für einen Moment ist es still, aber es ist noch lange nicht vorbei. Es ist vielleicht nie vorbei. Diese lebensgefährliche Reise durch Amerika scheint überhaupt kein Ende zu nehmen. Was soll’s? Wir haben schon weitaus Schlimmeres überstanden – das Töten ist mittlerweile ein Handwerk, das wir teilen. Ich spiele Joel, einen Mann in den 40ern. Neben mir hockt Ellie. Ein 14-jähriges Mädchen, die 9mm-Pistole sicher in den Händen, den Blick starr geradeaus. Sie wird automatisch wegrennen, schießen oder den Kerlen Steine vor den Kopf werfen, damit ich sie im Taumel kalt mache. Sie ist die einzige Hoffnung für eine seit zwanzig Jahren infizierte Menschheit. Und ich habe richtig Angst um sie.
Die Frage der Menschlichkeit
Naughty Dog gelingt es zwar nicht, mir die Freiheit der Handlung zu geben, mich wie in Heavy Rain oder The Walking Dead in Extremsituationen entscheiden zu lassen, wie ich auf Personen und Situationen reagiere – soweit gehen sie leider nicht, obwohl gerade dieses Experimentieren das Spielerlebnis nochmal intensivieren würde. Aber es gelingt ihnen, ohne großes Pathos oder moralischen Zeigefinger über subtile Gesten und kleine Dialoge wichtige Fragen aufzuwerfen. Sie stellen die Beziehung zwischen Joel und Ellie so glaubwürdig dar, dass so mancher Vater (oder so manche Tochter) einem vertrauten Konflikt lauscht, voller Trotz und Eskalation. Ab wann darf ein Kind dieses oder jenes? Obwohl nicht immer ausführlich diskutiert wird, hinterlassen die kleinen Dispute große, manchmal bestürzende Wirkung. Naughty geht dabei an emotionale Schmerzgrenzen: Viel intensiver als die brachiale äußere Gewalt einer Enthauptung wirkt an einer Stelle die innere Kälte zwischen Joel und Ellie, die einen schlucken lässt. Unter der Oberfläche geht es immer wieder um Angst und Verlust, um die Vereinsamung des Menschen. Man stellt sich ständig die Frage, wie man selbst handeln würde und reflektiert automatisch über diesen Zustand der Verrohung. Diese Wirkung hinterlassen nur ganz wenige Spiele. Zumal sie von einer Musik verstärkt wird, die sich angenehm dezent zurückhält, aber in entscheidenden Momenten für melancholische, tragische oder aufmunternde Stimmung sorgt. Ich spreche in meinen Tests selten über Soundtracks, das kann Ben viel besser, aber dieser hier ist ein stiller Genuss.
Das spazierende Spiel
Der erzählerische Hintergrund, also eine apokalyptische Welt, durch die sich Helden schlagen, ist ja nichts Neues. Vor allem nicht innerhalb eines Genres, das sich mit Survival und Horror auseinander setzt. Auch die Story von der plötzlichen Apokalypse inklusive Flucht von A nach B in der Hoffnung einer Rettung bedient zunächst Stereotypen. Aber es kommt nicht darauf an, was erzählt wird, sondern wie gut es erzählt wird. Was es in dieser Form nämlich noch nicht gegeben hat, auch nicht in The Walking Dead oder Heavy Rain, in 08/15-Shootern schon gar nicht, ist dieser außergewöhnliche Spiel- und Erzählrhythmus: Naughty Dog lädt immer wieder zum Spazieren und Nachdenken ein. Man bekommt Lust, das Tempo rauszunehmen, auf die Charaktere zu achten und den Dialogen zu lauschen. Es entsteht nach enormer Anspannung, die mal an den subtilen Horror von Silent Hill, mal an den Terror von Resident Evil ab Teil 4 erinnert, immer wieder eine Entspannung. Man atmet durch, wird zum Verweilen, Beobachten und Erkunden eingeladen. Achtet mal darauf, was Ellie alles nebenbei anstellt, was sie beobachtet und einsteckt. Ähnlich wie Elizabeth in Bioshock Infinite führt sie ein faszinierendes Eigenleben.
Idylle in der Zerstörung
Und Naughty Dog geht technisch einen Schritt weiter als noch in Uncharted: Obwohl man zu Beginn noch relativ begrenzte städtische Areale erkundet, öffnen sich die Gebiete im weiteren Verlauf, so dass man sich regelrecht verirren kann. Selbst dann ist die Hingabe der Grafikdesigner, was Kleinigkeiten innerhalb der Landschaft oder Gebäuden angeht, erstaunlich: Achtet mal auf den vereisten Fluss im verschneiten Wald, schaut euch das gestrandete Schiff an der Küste an. Selbst innerhalb von dunklen Kanälen und Katakomben, zaubern die Grafiker über flirrende Lichtschächte, durch die Decke wuchernde Bäume oder überflutete Areale so etwas wie Wildnisflair. Die Reise führt durch Regen und Sturm, bei Tag und Nacht, durch diverse Jahreszeiten – grafisch werden alle Register gezogen, die PlayStation 3 wird hier technisch ausgereizt.
Leise schleichen oder frontal angreifen
Erleichtert wird einem das Umgehen von Joels akustischer Ortung, die Gegner durch Wände anzeigt. Man kann darüber streiten, ob es eine gute Entscheidung war, dieses unrealistisch anmutende Hilfsmittel von Anfang an anzubieten, aber angesichts des fordernden zweiten von drei Schwierigkeitsgraden (ein weiterer wird nach dem ersten Durchlauf freigeschaltet) und der zahlenmäßigen Überlegenheit kann man seine Laufwege damit taktisch besser planen. Außerdem ist es ein Teil der fragwürdigen Fähigkeitenentwicklung , denn man kann die Ortung in mehreren Stufen verbessern. Fragwürdig deshalb, weil die Verbesserungen, die man über gesammelte Pillen freischaltet, teilweise komplett überflüssig sind: Schnelleres Basteln oder Heilen? Habe ich nie gebraucht. Lediglich die Beständigkeit des Messers bringt neben der erhöhten Lauschreichweite effiziente Vorteile.
Handgemenge und Flucht
Wenn man in Unterzahl ist und mal wieder keine passende Waffe parat hat, bleibt nur der schnelle Nahkampf: Dann wird auf Knopfdruck sofort zugeschlagen oder ausgewichen. Die Fülle an überaus brutalen Aktionen ist verblüffend, denn die Umgebung wird komplett einbezogen, wenn Köpfe gegen Wände krachen und Gelenke brechen. Diese rohe Gewalt wird allerdings besser dargestellt als taktisch ausgespielt: Es gibt kein aktives Kampfsystem mit Block, Konter oder Griff, sondern kontextsensitive Ein-Knopf-Manöver. Nur ganz selten bekommt man einen weiteren Knopf zum Stoßen oder ein Reaktionstest eingeblendet. Die Nahkämpfe sollte man spätestens gegen mehrere Feinde nicht überstrapazieren, sondern die Flucht über L2 ergreifen. Hat man es sprintend außer Sicht geschafft, lohnt es sich, sofort eine Deckung zu suchen und in die Knie zu gehen. So entsteht ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel.
Der Übergang von lautlosem Schleichen zur Action in Schulterperspektive ist nahtlos. Man hat für die Attacke einige explosive Argumente: Man findet diverse Pistolen und Gewehre, kann sowohl Molotow-Cocktails als auch Nagelbomben werfen bzw. als Fallen platzieren und später einen Flammenwerfer spucken lassen - vor allem gegen die riesenhaften "Bloater" ist er sehr hilfreich. Es herrscht zwar keine radikale Munitionsknappheit wie in I Am Alive, aber wer von Beginn an häufig ballert, muss ordentlich mit den Projektilen haushalten. Zu den gewöhnlichen Elementen gehört das Aufrüsten an Werkbänken: Dort kann man zusätzliche Halfter, schnelleres Nachladen, mehr Munitionskapazität, panzerbrechende Kaliber etc. erstellen. Dass man spätere Stufen trotz genug Material erst aufrüsten kann, wenn man entsprechende Werkzeugkisten findet, ist eine ärgerliche Beschränkung.
Schere, Stein & Alkohol
Da man manchmal Zutaten für zwei unterschiedliche Dinge, aber nicht genug für mehrere einer Sorte hat, muss man sich festlegen: Medikamente oder Molotow-Cocktail? Und man sollte die Umgebung immer absuchen. Vor allem die vielen Häuser, von denen manche verschlossen, aber zugänglich sind. Aber will man das kostbare Messer wirklich zerbrechen, nur um ein Schloss zu knacken? Bei der Suche kann man zwar auch Schubladen und Schränke öffnen, aber meist blinken die verwertbaren Dinge schon aus der Distanz und man ertappt sich dabei, dass man sie irgendwann gar nicht mehr anschaut, sondern einfach alles schnell in seinem Rucksack verstaut - allerdings ist die Anzahl der Materialien begrenzt, man muss sie irgendwann verarbeiten. Außerdem blinkt nicht alles aus der Ferne, manchmal erkennt man Dinge erst, wenn man nah genug ran geht oder die Taschenlampe anmacht. So findet man neben Sammelkram (Firefly-Anhänger, Comics etc.) auch erzählerische Hinweise wie Tagebucheinträge oder Notizen. Wer darin stöbert, bekommt ein Gespür für die Chronologie der Katastrophe sowie die frühe Verzweiflung und spätere Verrohung der Gesellschaft. Sobald man diese Texte liest, kann es sein, dass Joel die Geschehnisse kommentiert und mit Ellie darüber spricht. Klassische Audiologs kommen erst später hinzu.
Im Angesicht der Feind-KI
Ellie ist manchmal vielleicht zu eigenständig. Wenn ich mit Joel in die Hocke gehe, um mich leise einem Hauseingang zu nähern, läuft sie weiter aufrecht hinterher. Und als ich das Haus erstmal von außen erkunden will, ist sie in einer Situation schon mittendrin. Natürlich kann auch diese Unberechenbarkeit die Spannung erhöhen. Glaubwürdiger wäre es, wenn sie nicht nur im Angesicht von Feinden oder direkt im Kampf, sondern auch schon vorher so vorsichtig agieren würde wie Joel es vormacht, wenn sie sich also meiner Spielweise anpassen würde. Man kann ihr ja keine direkten Befehle geben, man kann sie nicht einmal zu sich rufen, so dass man auf ihre Intelligenz bzw. ihren Instinkt angewiesen ist. Die mitlaufenden Charaktere agieren ansonsten glaubwürdig, aber ganz unterschiedlich: Die Frauen treten nicht immer wie aufgetakelte Kampfmaschinen um sich, während Joels Söldnerfreunde ordentlich mit der Machete austeilt.
Rätsel, Akrobatik & Co
Joel muss auch des Öfteren schwimmen und tauchen, um für die Nichtschwimmerin Ellie hölzerne Plattformen zu besorgen, auf denen er sie von A nach B bringt; auch ein paar simple Schalter- bzw. Generator-Aufgaben sind dabei. Gerade die Unterwasserabschnitte sind eine willkommene Abwechslung angesichts der fehlenden Akrobatik, zumal es klasse aussieht, man die Luft anhalten muss und auch einiges finden kann. Obwohl sich überall zwischen Hausetagen und schiefen Bodenplatten auch Kraxelei anbieten würde, muss man nur selten über Abgründe springen. Joel ist kein herum turnender Athlet: Er kann sich lediglich an hüft- bis schulterhohen Hindernissen hinauf ziehen; manchmal müssen ihm sogar Ellie oder Tess helfen. Das ist allerdings kein Dämpfer für das Spielerlebnis, denn die eingeschränkten Bewegungen passen zum Charakter.
Fazit
The Last of Us erzählt eine einfache, aber unheimlich bewegende Geschichte. Es gibt dramatische, traurige und wunderschöne Momente, über die Spieler noch einige Zeit sprechen werden. Es sind nicht wie so oft militärisches Pathos und Hollywood-Bombast, sondern eine konfliktreiche Beziehung und die Frage der Menschlichkeit, die hier im Mittelpunkt von Triple-A-Action stehen. Ich betone das, weil diese großen Produktionen so häufig mit billigen Drehbüchern enttäuschten. Naughty Dog revolutioniert nichts, ist in Sachen Handlungsfreiheit nicht mutig genug, aber unterhält auf höchstem Niveau mit einer Erzählweise, die zum Spazieren, zum Beobachten und Innehalten einlädt. Mal ist dieses Abenteuer schrecklich, mal melancholisch oder bis zur Schmerzgrenze brutal. Trotz stellenweise gewöhnlicher Mechaniken wie Waffen-Upgrades oder Sammelkram und trotz mancher KI-Schwächen entsteht über 22 Stunden eine enorme situative Spannung, die mal an den subtilen Horror eines Silent Hill, mal an den brachialen Terror eines Resident Evil erinnert. Es gelingt den Entwicklern dabei immer wieder, der Traurigkeit und Trostlosigkeit dieser Endzeit eine hoffnungsvolle Facette abzugewinnen. Nicht nur aufgrund der fantastischen Kulisse, sondern vor allem aufgrund der emotionalen Identifikation mit glaubwürdigen Charakteren. Ich habe selten in einem Spiel so oft aufgeatmet, so stark mitgefiebert und so viel Angst vor dem Ende gehabt.
(Es gibt einen Multiplayer-Modus, den wir aber erst zum Release nach der E3 einschätzen können. Er wird keinerlei Einfluss auf die Wertung haben. Anm. d. Red.)
Pro
Kontra
Wertung
PlayStation3
The Last of Us erzählt eine unheimlich bewegende Geschichte. Man taumelt zwischen Terror und Hoffnung durch ein wunderschönes Abenteuer.
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