Im Test:
Gangster, Pop-Ikone, Präsident, Neo
Die Geschichte der Saints ist bemerkenswert. Von Kleingangstern haben sie sich in den ersten zwei Episoden in der Stadt Stilwater zur führenden Gang hochgearbeitet. Mit dem Gebietswechsel in die Metropole Steelport begann schließlich ihr kometenhafter Austieg zu Popkultur-Ikonen, die ihr Geld nicht nur mit organisiertem Verbrechen, sondern auch mit Energy Drinks, Mode und sogar als Filmstars verdienen. Und die einzig logische Schlussfolgerung ist ein politisches Amt. Doch nicht nur irgendeines: Der Anführer der Saints wird zum Präsidenten der USA gewählt. Natürlich bringt er (oder sie, natürlich kann man auch wieder als weiblicher Gangsterboss spielen) seine Gefolgsleute im Kabinett unter und schafft es sogar, Schauspieler Keith David (brillant von sich selbst gesprochen) als Vizepräsident zu installieren.
Und in dieser Rolle sieht man sich schnell einer gefährlichen Bedrohung gegenüber: Die außerirdischen Zin unter der Führung des skrupellosen Zinyak greifen die USA an. Das Weiße Haus liegt in Schutt und Asche, die Saints werden von den Aliens entführt oder getötet. Und die Hauptfigur muss sich nach hartem Kampf gegen Zinyak geschlagen geben. Man wird von dem Anführer der Invasionstruppen in eine der Matrix ähnlichen alternative Realität des bekannten Schauplatzes Steelport gesteckt und muss dort um sein Überleben geben, während man versucht, die Saints wieder zusammenzutrommeln und die Stadt wieder einzunehmen.
Das Zucker-Abrahams-Zucker-Spiel
Dabei rechne ich Volition hoch an, dass man auch die eigene Vergangenheit locker betrachtet und Geschehnisse der Vorgänger augenzwinkernd neu interpretiert. Insofern ist es enorm hilfreich, wenn man mit der Serie vertraut ist, da ansonsten der eine oder andere Gag an einem vorbei zieht. Allerdings sind es vor allem das erste und das fulminante letzte Drittel, die in dieser Hinsicht überzeugen und mich teilweise so lauthals lachen ließen, dass mir Tränen in die Augen geschossen sind. In der Mitte flaut das insgesamt etwas über 20 Stunden dauernde Action Adventure mit offener Welt leider ab. Die Gags werden spärlicher, der Reiz der Anspielungen geht zusammen mit dem Spannungsbogen nach unten. Doch die Saints kriegen noch rechtzeitig die Kurve.
Add-on oder vollständiges Spiel?
Während mich abseits des Mitteldrittels der Humor, die vollkommen überzogene und viele Klischees bedienende Charakterzeichnung sowie die trotz stereotyper Ausgangslage immer wieder überraschende Geschichte begeistern, schubsen mich die Saints spielerisch in einen Zwiespalt. Denn hier ist es am ehesten spürbar, dass Saints Row 4 als zusätzlicher Inhalt für ein anderes Spiel (es wurde als Name "Enter the Dominatrix" kolportiert) und nicht als eigenständiges Produkt geplant war. Wie man es von der Serie und vor allem aus Teil 3 kennt, muss man Aktivitäten und Herausforderungen erledigen, um die Stadtviertel Bezirk für Bezirk einzunehmen. Das Problem: Viele dieser Nebenmissionen kennt man bereits - was auch nicht dadurch besser wird, dass manche Aufgaben variiert werden, so dass man z.B. nicht mit einem Helikopter, sondern mit einem UFO oder einem Mech eine Schneise der Verwüstung zieht. Dann wiederum muss ich den Designern zu Gute halten, dass die Aktivitäten bis auf eine oder zwei Ausnahmen nichts von ihrem Reiz oder Unterhaltungswert verloren haben. Bei den Hauptmissionen war man ähnlich unkreativ: Meist nutzt man diese nur, um den Spieler im Auftrag dieses oder jenen Saint durch die Aktivitäten zu schleusen. Positiv dabei: Nimmt man diese quasi schon im Vorbeigehen mit, während man wegen eines anderen Auftrages in Steelport unterwegs ist, werden diese Aktionen als bereits erledigt markiert, wenn sie von den Kollegen eingefordert werden.
Immerhin gibt dank der Zin haufenweise neue ballistische Alien-Technologie. Da zudem die Gang-Mitglieder Kinzie und Matt als Tech-Gurus mit Entwicklungen in der Saints-Matrix für neue Waffen sorgen, gibt es zumindest in dieser Hinsicht ein paar Neuerungen, die der komödiantischen Kreativität kaum nachstehen - zumal man sie in den Waffenläden auch häufig in mehreren Stufen aufrüsten oder mit Sonderfähigkeiten versehen kann. Ein portabler Minenwerfer, dessen Geschosse sogar leicht zielsuchend agieren, sorgt nicht nur für gleißende Explosionen, sondern auch für herrlich durch die Luft wirbelnde Aliens. Doch meine zwei Favoriten sind die Antimaterie-Kanone, die räumlich begrenzte schwarze Löcher verschießt, sowie die Dubsteb-Kanone. Diese verschießt musikalische Strahlen, die bei Zivilisten vorrangig zu zappeligen Tanzbewegungen führen, bei Aliens aber gnadenlos die Lebensenergie entziehen.
Superheld à la Crackdown
Doch selbst diese Waffe beißt sich an den sporadischen Bossen sowie Gegnern, die durch Schilde geschützt sind, die Zähne aus. Hier kommen die Superkräfte ins Spiel: Man kann Elementarstrahlen verschießen, die Schilde temporär ausschalten. Man kann Telekinese nutzen, um mit Gegenständen (oder Gegnern) wild um sich zu werfen. Man kann mit einem Stampfer Gegner im direkten Umfeld immobilisieren. Und man kann sogar seine Waffen "elementarisieren", so dass sie z.B. zusätzlichen Feuer- oder Blitzschaden verursachen - uff! Und auf einmal fühlt sich Saints Row 4 endlich nicht mehr wie ein typisches Saints Row an, sondern eher wie die Xbox-360-exklusive (und hierzulande indizierte) Crackdown-Serie. Denn man bekommt zusätzlich auch noch die Fähigkeiten für Super-Geschwindigkeit, Super-Sprung oder Gleitflug. Und wie bei Crackdown kann man diese Fähigkeiten durch den Einsatz von aufgesammelten Orbs aufrüsten, bis man sogar wie in Prototype in einem Affenzahn an Häuserwänden rennt, vom Dach abspringt, dadurch weitere 30 oder 40 Meter Höhe gewinnt und nach einem geruhsamen Gleitflug an seinem Ziel ankommt oder sich wieder an einer Hauswand in nach oben schraubt.
Das Element der "Vertikalen" wurde bislang in nur wenigen Open-World-Titeln adäquat genutzt. Das erwähnte Crackdown gehört zweifellos dazu, Just Cause 2 sollte ebenfalls erwähnt werden und nun auch Saints Row 4. Die neue Bewegungsfreiheit und die damit verbundenen Möglichkeiten sind letztlich hauptverantwortlich dafür, dass sich dieser Teil trotz vieler Ähnlichkeiten unter dem Strich frisch anfühlt. Zumal über den Einsatz der Vertikalen auch zusätzliche Verstecke für eine Sammelaktion der besonderen Art auftauchen: Um seine Superkräfte aufzuwerten, benötigt man so genannte Datenpakete. Diese sind in der ganzen Stadt verteilt. Und zwar nicht zehn, 50 oder 100 - insgesamt kann man über 1200 (!) dieser leuchtenden Gimmicks finden, die zudem mitunter nur über den Einsatz bestimmter Kräfte an die Oberfläche gefördert werden. Vor allem in der Mitte des Spiels (während der kreativen Pause) habe ich mich immer wieder dabei ertappt, mich viel lieber mit der Jagd auf bzw. der Suche nach den Datenpaketen zu befassen. Ein vermaledeiter Zeitvertreib, der gleichermaßen Segen und Fluch ist: Wieso muss ich zwanghaft jeden blauweiß leuchtenden Lichtball einsammeln und kann nicht einfach meinem normalen Tagewerk nachgehen?
Das alte Leid
Machen wir uns nichts vor: Die Saints-Row-Serie hat noch nie ihren Anteil daran gehat, die technischen Grenzen einer Hardware auszuloten oder gar zu verschieben. Angefangen vom ersten Teil vor beinahe acht Jahren bis hin zu Saints Row 3 war die Kulisse zwar stets stimmig, aber nur selten überdurchschnittlich.
In dieser Auflage hat sich daran nicht viel geändert. Die Texturen haben im Detail immer noch Schwächen, auch wenn sie am PC noch am besten aussehen, die Mimik ist meilenweit von der Qualität eines Mass Effect oder dem entfernt, was die Videos zu Grand Theft Auto 5 versprechen. Und Steelport ist weiterhin stimmig, aber eben auch nicht außergewöhnlich. Man bewegt sich gern in der Stadt, die sich nur minimal verändert hat, aber findet auch nur selten Punkte, an denen man innehält, um die Aussicht zu genießen. Immerhin ist der Temporausch, der bei voll ausgebauter Supergeschwindigkeit entsteht, trotz der angesprochenen visuellen Defizite immer wieder ein Genuss.
Fazit
Fast könnte man vergessen, dass Saints Row 4 ursprünglich als Erweiterung für den dritten Teil gedacht war. Zumal Volition seiner Fantasie dabei reien Lauf lässt: Superkräfte, Aliens, abgefahrene Waffen, stärker als je zuvor vollkommen überzogene Action, großartiger Humor - es gibt viele Gründe, enormen Spaß mit diesen Saints zu haben. Doch der Add-on-Charakter hat die eigenwillige Gang trotz aller Verbesserungen im Griff: Viele der Aktivitäten sind bekannt oder werden in leicht abgewandelter Form präsentiert, die wenigen neuen fügen sich gut ein. Den Schauplatz kennt man ebenfalls, auch wenn der Fokus auf die Vertikale eine neue Perspektive eröffnet. Erzählerisch sind das erste und letzte Drittel gelungen, wobei vor allem die Bezüge auf alle anderen Saints-Row-Teile bemerkenswert sind und ein gelungenes Gesamtbild ergeben. In der Mitte verliert man jedoch den Faden und auch der ansonsten treffsichere Humor, der vor kaum etwas aus Film- oder Spielewelt Halt macht, erleidet einige Fehlzündungen. Die Kulisse kämpft mit bekannten Schwächen und überzeugt mit bekannten Stärken. Volition gelingt unter dem Strich ein für mehr als 20 Stunden unterhaltender Abschluss der Reihe. Eines scheint dafür jedoch klar zu sein: Nach dieser kreativen Explosion ist eine Neuausrichtung nötig.
Pro
Kontra
Wertung
360
Ein würdiger und aberwitziger Abschluss der Saints-Saga, der allerdings die Add-on-Ursprünge nicht verheimlichen kann.
PC
Ein würdiger und aberwitziger Abschluss der Saints-Saga, der allerdings die Add-on-Ursprünge nicht verheimlichen kann.
PlayStation3
Ein würdiger und aberwitziger Abschluss der Saints-Saga, der allerdings die Add-on-Ursprünge nicht verheimlichen kann.
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