Sorcery!13.05.2013, Jörg Luibl
Sorcery!

Im Test:

Spielbücher feiern gerade ein digitales Comeback. Das sind interaktive Geschichten, in denen man je nach Entscheidung auf einer anderen Seite weiterblättert. Ian Livingston und Steve Jackson haben mit ihrer „Fighting Fantasy“ Anfang der 80er einen Boom ausgelöst. Zu den besten Abenteuern zählt bis heute die vierbändige Analand-Saga, die jetzt im AppStore erschienen ist.

Exotische Fantasywelt

Wonach hört sich Shamutanti Hills, Lia-Ki oder Khakabad an? Zumindest klingt das fremder als Auenland oder Schwertküste, vielleicht etwas orientalisch oder gar asiatisch. Das Artdesign der Benutzeroberfläche lässt einen zunächst an Tibet denken: Bunte Wimpel, die sich mit den aufgedruckten Werten für Stamina, Gold & Rationen in Wolken verlieren. Auf jeden Fall lockt dieses erste von vier digitalen Spielbüchern in eine exotische Fantasywelt, in der nicht nur Schwert und Magie die besten Helfer des Helden sind. Sobald man sich in die Hügel und Wälder begibt, die 1986 im Spielbuch „Der Abenteurer aus Analand“ (Sorcery Epic I: The Shamutanti Hills) ihre Premiere feierten, kann man klassischen und fabelhaften Kreaturen von Goblins über Hexen bis hin zum mächtigen Mantikor begegnen.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, wobei man die Route selbst bestimmt. Was umgehend auffällt: Auf einer wunderschönen Karte mit dreidimensionalem Relief zieht man seine Heldenfigur aktiv von Ort zu Ort, wobei sich die Geräuschkulisse der Umgebung

Man bewegt seinen Helden auf der handgezeichneten Karte von Ort zu Ort und hat dabei meist freie Routenwahl.
Man bewegt seinen Helden auf der handgezeichneten Karte von Ort zu Ort und hat dabei meist freie Routenwahl.
anpasst – mal pfeift ein Wind, mal blöken Schafe oder rauscht ein Wasserfall. Dabei gibt es immer Abzweigungen und Alternativen. Geht man direkt in ein Dorf oder umgeht man es? Übernachtet man im Gasthaus oder im Wald? Nicht nur aufgrund der zoombaren Karte, sondern auch aufgrund der Akustik sowie Beschreibungen der Landschaft entsteht ein gemütliches Reisegefühl. Frust durch Sackgassen gibt es übrigens nicht: Sobald man irgendwo scheitert, kann man zum letzten Punkt auf der Karte zurückkehren.

Verrückte in Bäumen

Worum es geht? So exotisch die Namen, so bieder die Ausgangslage: Ein böser Erzmagier hat eine legendäre Krone an sich gerissen, die ihrem Träger unheimliche Macht verleiht. Jetzt muss ein Held her, der dem Schergen das Artefakt entreißt. Zwar kann die Story dieses ersten Teils nicht begeistern, weil sie zunächst alle Stereotypen heroischer Fighting Fantasy bedient und den Spieler  recht plump ins Abenteuer bugsiert. Aber dafür sorgen interessante sowie skurrile Situationen für Rollenspielflair: Was macht der irre Alte da oben im Baum? Hilft man ihm runter? Tauscht man die Teetassen bei einer verdächtigen Gastgeberin aus? Diese Entscheidungen ziehen immer kleine bis große Konsequenzen nach sich. Akzeptiert man z.B. das Feenwesen als Begleiter, darf man keine Magie wirken.

Die Vorlage der App sind die Spielbücher von Steve Jackson, die in den 80ern beim Thienemann Verlag auf Deutsch erschienen sind:

Analand-Saga 1: Der Abenteurer aus Analand (Sorcery Epic I: The Shamutanti Hills)

Analand-Saga 2: Die Fallen von Kharé (Sorcery Epic II: Khare – Cityport of Traps)

Analand-Saga 3: Die sieben Schlangen (Sorcery Epic III: The seven Serpents)

Analand-Saga 4: Die Krone der Könige (Sorcery Epic IV: Crown of Kings) Verschont man einen Attentäter, kann man einen Freund fürs Leben gewinnen.

In den Dialogen kann man feilschen, man kann aggressiv oder höflich, interessiert oder oberflächlich agieren, wobei neugierige Naturen meist belohnt werden – mit Gold, Schlüsseln oder Hinweisen. Dadurch, dass die beschreibenden Texte nicht wie in vielen digitalen Spielbüchern als klassische Seiten zum Umblättern dargestellt werden, sondern nach unten fließen, entsteht ein dynamischer vertikaler Lesefluss, der immer wieder von markanten Artworks aufgelockert wird. Hier hat man die originalen Schwarzweißzeichnungen aus dem Jahr 1986 von John Blanche integriert, die vom Ninja bis zum Oger ein ganzes Bestiarium abdecken. Sie versprühen ihren ganz eigenen Charme, der irgendwo zwischen dem Humor eines Terry Pratchet und dem Pathos eines Conan liegt.

Animierte Scherenschnitte

Block, leichte oder schwere Hiebe? Das Kampfsystem lockt mit Risiko und Schere-Stein-Papier.
Block, leichte oder schwere Hiebe? Das Kampfsystem lockt mit Risiko und Schere-Stein-Papier. Plumpes Draufhauen hilft nicht!
Die Kämpfe wurden allerdings komplett neu für die digitale Variante inszeniert: Man wird ein wenig an Scherenschnitte erinnert, wenn man seinen gezeichneten Helden von links nach rechts zieht, damit er leichte Hiebe, Seitwärtsfinten oder wuchtige Schläge ausführt – all das wird dann schrittweise animiert. Und auch der Feind schlägt kurz darauf als bewegte Zeichenfigur zurück. Das ist zwar immer noch keine Echtzeit, sondern eine Art Schere-Stein-Papier-Rundentaktik mit Lebenspunktabzügen, aber es sieht cool aus und das System dahinter bietet wesentlich mehr Reize und authentischere Situationen als das klassische Würfeln. Denn man muss für die Art seines Schlages das richtige Timing finden.

Lohnt sich jetzt eher ein Block, ein leichter oder schwerer Hieb? Ersterer sorgt für einen Zuwachs an Ausdauer und kann den Schaden minimieren, Letzterer verbraucht so viel, dass man danach nicht nochmal alle Kraft investieren kann. All das ist mit einem Risiko behaftet, denn man weiß ja nicht, was der Feind wählt – hauen beide voll drauf, entscheidet die höhere Wucht über die Treffer und je härter man zugeschlagen hat, desto mehr Schaden riskiert man! Wie man am besten vorgeht, kann man teilweise aus den dynamisch an die Gefechte angepassten Beschreibungen heraus lesen, die nach einem Treffer folgen. Hier ein Beispiel:

“Then he is diving forward for your throat! Your own stroke is overpowered. The Assassin’s sword is punishingly deep. You move quickly to deflect the blow as best you can with your shield. ‘My duty is to sever your head from your neck,’ he declares, in a voice as cold as polished marble. ‘You will not hold me from it‘“.

Das Magiesystem setzt auf drei Buchstaben; im Zauberbuch kann man Hinweise zur Wirkung nachschlagen.
Das Magiesystem setzt auf drei Buchstaben; im Zauberbuch kann man Hinweise zur Wirkung nachschlagen.
Man sollte also gute Englischkenntnisse mitbringen, wenn man alle Feinheiten verstehen will - leider gibt es keine deutsche Übersetzung. Diese Art der Situationsbeschreibung ist dennoch eine tolle Idee, die zum Lesen anspornt, weil man taktische Hinweise finden kann. Wenn z.B. die Rede davon ist, dass sich der Feind zum Wunden lecken zurückzieht, ist die Chance für das Nachsetzen mit einem kräftigen Schlag gegeben.

Die Macht der drei Buchstaben

Man kann sich vergrößern, versechsfachen, den Willen der Feinde brechen oder Waffen arkan verschärfen. Das angenehm vielfältige Magiesystem setzt auf die Kombination von drei Buchstaben, die die Wirkung teilweise wie Abkürzungen andeuten: DOP öffnet z.B. Türen oder Schösser, HOT lässt einen Feuerball los. Ganz so einfach und durchschaubar ist es allerdings nicht, denn man bekommt zu Beginn nur eine Liste der wesentlichen Sprüche, obwohl im Zauberbuch knapp 50 warten. Doch wie lauten die Abkürzungen? Außerdem braucht man manchmal bestimmte Gegenstände wie z.B. etwa eine Bambusflöte oder Bienenwachs, um mächtigere Sprüche auszulösen. Wo kriegt man das bloß her?

Das Schöne ist nicht nur diese Rätselhaftigkeit, die zum Ausprobieren animiert, sondern dass man in vielen Situationen die Wahl hat, ob man weiter in den Dialog, zum Kampf oder

Das Inventar sieht auf den ersten Blick edel aus, aber einzelne Gegenstände werden nicht visualisiert.
Das Inventar sieht auf den ersten Blick edel aus, aber einzelne Gegenstände werden nicht visualisiert.
erstmal in eine arkane Beschwörung übergeht – so kann man viele Situationen eleganter lösen. Aber Vorsicht: Sowohl Gefechte als auch Magie kosten Ausdauer, die man wiederum durch das Rasten oder Einnehmen von Rationen erhöhen kann. Hat man genug Gold dafür oder alles für dieses Breitschwert ausgegeben? Einen kleinen Rettungsanker gibt es in Form der Sternzeichen, die man um göttlichen Beistand wie etwa eine Heilung bitten kann.

Man muss dennoch clever haushalten, um das Ziel der Reise zu erreichen – die Stadt Kharé, in der es im zweiten Band weiter geht. Schade ist lediglich, dass all die Gegenständen im Rucksack, egal ob Schlüssel, Waffen oder Tränke, nur als geschriebene Notizen, nicht als gezeichnete Objekte auftauchen. Außerdem vermisst man ein Tagebuch oder eine Notizfunktion, denn so manches Rätsel fragt nach bisherigen Erlebnissen. Das sind allerdings nur kleine Defizite in einer ansonsten sehr edlen Präsention, die sich angenehm vom klassischen Buchprinzip à la House of Hell (Tin Man Games) entfernt.

Fazit

Ihr habt ein Faible für Fantasy und mögt Spielbücher wie „Einsamer Wolf“ & Co? Dann führt kein Weg an Sorcery! vorbei. Auch wenn die Story plump beginnt und viele Klischees der Fighting Fantasy bedient: Das ist ein edles Lese-Erlebnis und gleichzeitig ein Rollenspiel mit Entscheidungen und Konsequenzen. Ich habe mir bereits einige Spielbücher im AppStore angeschaut, darunter auch das gute House of Hell (Tin Man Games), aber keines kommt an die besondere Atmosphäre dieses Abenteuers heran: Vor allem die wunderschöne Weltkarte, das dynamische Kampfsystem mit taktisch relevanten Beschreibungen, das angenehm rätselhafte Magiesystem sowie die stimmungsvolle Präsentation machen Sorcery! zum bisher besten, weil clever modernisierten digitalen Spielbuch. Hier blättert man nicht einfach Seiten um, sondern wandert aktiv von Ort zu Ort und kann wie in einem guten Roman versinken. Hoffentlich erscheint bald der zweite Teil, denn der war erzählerisch deutlich besser!

Pro

märchenhaft-exotische Fantasy
freie Routenwahl
stimmungsvolle Präsentation
keine Sackgassen dank Rückspulfunktion
wunderschöne Weltkarte mit Geräuschkulisse
interessantes taktisches Kampfsystem
tolle Beschreibungen der Gefechte
Magiesystem mit 48 Sprüchen
Entscheidungen & Konsequenzen
Original-Artworks der Buchvorlage
interessante bis skurrile Rollenspielsituationen
kleine Rätsel und elegante Alternativen
gute Dialoge
Spielstand wird für Teil 2 gesichert

Kontra

bisher nur auf Englisch
plumper Beginn, stereotype Story
keine Tagebuch/Notizbuchfunktion
Rucksack-Gegenstände nur als Notizen
fehlende Artworks (iPhone)

Wertung

iPhone

Trotz kleiner Defizite in der Präsentation: Auch auf dem iPhone ist das ein sehr gutes Abenteuer-Spielbuch!

iPad

Ich kenne viele Abenteuer-Spielbücher: Keines kommt an dieses Schmuckstück heran! Wer Fighting Fantasy mag, muss zuschlagen.

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