Sorcery! - Teil 207.11.2013, Jörg Luibl
Sorcery! - Teil 2

Im Test:

Ein interaktives Buch auf dem Tablet? Mit Kampfsystem, Soundeffekten und freien Entscheidungen, die Mass Effect alt aussehen lassen? Na klar! Wie gut das funktionieren kann, haben die Briten von inkle mit dem ersten Teil von Sorcery! bewiesen. Sie bereicherten das klassische Erzählen der Fantasy-Spielbücher von Steve Jackson um interaktive Elemente. Jetzt ist der zweite Teil erschienen. Ob sich die auf vier Abenteuer ausgelegte Saga steigern kann, klärt der Test.

Willkommen in Kharé

Ungenießbares Bier, böse Blicke und zwielichtige Gestalten – die Hafenstadt Kharé macht ihrem schlechten Ruf alle Ehre. Kaum bin ich da, werde ich betrogen und überfallen. Man kann scheinbar niemandem trauen, überall gibt es Hinterhalte oder Fallen. Hier tummeln sich Diebe und Sklavenhändler, Gaukler und Geister. Und was man alles entscheiden muss: Welche Route schlägt man ein? Riskiert man Kämpfe oder  nicht? Schaut man vor dem Betreten eines Gebäudes erst durch Fenster, klopft man vorsichtig oder geht man forsch rein? Nutzt man diesen passiven oder jenen aggressiven Zauber? Wo schläft man? Selbst die Wahl der Taverne kann Auswirkungen haben!

Der Weg der Entscheidungen unterscheidet sich von dem rein chronologischen eines Mass Effect: Es geht nicht nur um A oder B und mach dann bei C weiter. Hier gibt es mit knapp 10.000 (!) Optionen nicht nur mehr Vielfalt, sondern auch mehr Ungewissheit innerhalb der Szenen. Man erfährt nicht immer sofort, welche Konsequenz die eigene Aktion nach sich zieht. Aber da muss ich durch: Schließlich bin ich auf der Suche nach der verlorenen Krone, die sich irgendwo im Norden des Landes befinden soll. Und den erreicht man nur

Die wunderschöne Karte der Hafenstadt Kharé - man kann hinein und rauszoomen.
Die wunderschöne Karte der Hafenstadt Kharé - man kann hinein und rauszoomen; in der Mitte der Jabaji-Fluss.
über diese verfluchte Stadt. Das Problem ist: Man hat die Nordtore geschlossen. Wieso, weshalb, warum? Wie kommt man dann überhaupt raus? Je nachdem, wie man sich im ersten Teil verhalten hat, ist man mit anderer Ausrüstung oder gar anderen Gefährten unterwegs.

Text als visuelles Stilmittel

Welche Schlüssel habt ihr erhalten? Habt ihr den Assassinen verschont? Dann wird euch „Flanker“ vielleicht auf der Suche so helfen wie mir. Auch diesmal sind solide Englischkenntnisse wichtig, damit sich die Stimmung der wirklich gut geschriebenen Texte in all ihren Nuancen entfalten kann. Im Gegensatz zu anderen interaktiven Lesebüchern wird der Text hier nicht klassisch auf Buchseiten zum Umblättern dargestellt, sondern vertikal in Häppchen eingeblendet, so dass ein angenehmer Lesefluss von oben nach unten entsteht - hier ein Beispiel einer kurzen Passage:

You follow Flanker across the top oft he dock. He moves fast, like a fleeting shadow, but somehow contrives to never disappear from your sight. He does not speak, and your attempts at conversation are met with immediate silence.

Dann zoomt die Ansicht von der Stadtkarte runter in eine Gebäudeperspektive, wobei das

Die Vorlage der App sind die Spielbücher von Steve Jackson, die in den 80ern beim Thienemann Verlag auf Deutsch erschienen sind:

Analand-Saga 1: Der Abenteurer aus Analand (Sorcery Epic I: The Shamutanti Hills)

Analand-Saga 2: Die Fallen von Kharé (Sorcery Epic II: Khare – Cityport of Traps)

Analand-Saga 3: Die sieben Schlangen (Sorcery Epic III: The seven Serpents)

Analand-Saga 4: Die Krone der Könige (Sorcery Epic IV: Crown of Kings) Dach fehlt und die Architektur im Inneren sichtbar wird.

Finally, you arrive outside an ordinary-looking building. „This is it,“ he declares. “Wait here and I will go inside.” He disappears through the door.

Jetzt hat man die Wahl zwischen zwei Aktionen – es können manchmal ein halbes Dutzend sein:

Look over the house

Try the door

Interaktives Lektüre-Abenteuer

Wer den Vorgänger kennt, darf sich nicht nur auf eine bessere Story und mehr Spannung, sondern auch auf doppelt so viele Inhalte freuen - 300.000 Worte und 10.000 Entscheidungen warten auf euch.
Wer den Vorgänger kennt, darf sich nicht nur auf eine bessere Story und mehr Spannung, sondern auch auf doppelt so viele Inhalte freuen - 300.000 Worte und 10.000 Entscheidungen warten auf euch.
Das Besondere ist nicht nur, dass der Text kreativ als visuelles Medium genutzt wird,  sondern dass die Spielwelt selbst grafisch dargestellt wird: Die handgezeichnete farbige Karte der Stadt Kharé ist zugleich ein Hilfsmittel und ein Hingucker. Man startet ganz unten links vor dem Südtor mit seiner gezeichneten Figur. Beim Hereinzoomen mit zwei Fingern kann man die Höhenunterschiede erkennen – ein toller visueller Effekt, der eine dritte Dimension vorgaukelt. Noch sehenswerter ist aber das Herauszoomen, denn dann zeigt sich die Größe der Stadt, die in zig Viertel wie „Fallen Quarter“ oder „Dwarftown“ unterteilt ist und durch deren Mitte der Fluss Jabaji rauscht. Und man sieht nicht alle begehbaren Orte, denn viele Gebäude werden als einzelne Karten erst später sichtbar - außerdem gibt es eine Kanalisation. Sobald man seine Figur vorwärts zum nächsten Ort bewegt, hinterlässt sie eine Spur mit Wegmarken. So kann man quasi zurücklaufen und das letzte Ereignis erneut spielen. Schade ist vielleicht, dass es keinen Hardcore-Modus gibt, bei dem man nur eine begrenzte Zahl dieser automatischen Sicherheiten bekommt.

Je nach Örtlichkeit ändert sich die Geräuschkulisse. Ist man in einer Taverne, hört man aber nicht nur Gemurmel und Gelächter. Beim neuen Würfelpoker "Swindlestones" kann man auch mehr erfahren: Zwei Spieler werfen jeweils verdeckt fünf Würfel. Dann wetten sie, wie viele von welcher Sorte vorhanden sind und müssen sich dabei stets numerisch übertreffen. Du sagst, es sind drei Zweier auf dem Tisch? Okay, dann erhöhe ich auf drei Vierer! Das Ganze erinnerte an das preisgekrönte Brettspiel Bluff von Ravensburger. Und hier kann man nicht nur Gold gewinnen, sondern auch interessante Informationen über die Stadt. Diese werden dann als Hinweise gespeichert, so dass man sie später nachlesen kann.

Hinweise und Gerüchte

Da steht dann z.B., dass man für das Tor im Norden einen Zauber aus vier Zeilen braucht, um es zu öffnen. Oder dass die Fallen in der Stadt an ihrer Kreisform zu erkennen sind. Außerdem kann man beim Würfelspiel mehr über diese Werwölfe erfahren, die die Stadt unsicher machen. Schon nach einer Stunde hat man einige interessante Hinweise im Inventar gesammelt. Dort bleibt es allerdings ohne Grafiken bei der einfachen Auflistung von Gegenständen und Waffen wie „Longsword (+2)“.

Neu ist die Visualisierung der knapp 50 Runenzauber über die volle Breite: Dort wählt ihr aus einem Wust an Buchstaben die drei passenden für den Spruch aus. Wer „ZAP“ eingibt, löst einen Blitz aus; mit „BIG“ macht man sich dreimal größer, mit „DOP“ öffnet man Schlösser. Wie gehabt gilt, dass man für bestimmte Magie nicht nur Ausdauer und die korrekten Runen braucht, sondern auch Zutaten wie etwa Bienenwachs, eine Bambusflöte oder Goblinzähne. Wo man all das her bekommt? Augen offen halten, Jahrmärkte besuchen. Es lohnt sich, wirklich jede Ecke zu durchstöbern, zumal die clevere Erkundung öfter belohnt wird als schnödes Haudrauf!

Scherenschnitte im Kampf

Text bleibt das zentrale Stilmittel, selbst in den Kämpfen bekommt man so Hinweise.
Text bleibt das zentrale Stilmittel, selbst in den Kämpfen bekommt man so Hinweise.
Aber ohne Kampf geht es nicht. Als ich im Schatten der Stadtmauer ein Nickerchen mache, um mir das Gold für die miese Taverne zu sparen, gibt es gleich zu Beginn eine böse Überraschung: Ein Werwolf in Panzerung! Die Duelle werden genauso wie im Vorgänger inszeniert, nur dass es mit knapp 30 Monstern mehr Vielfalt gibt. Man wird ein wenig an Scherenschnitte erinnert, wenn man seinen gezeichneten Helden von links nach rechts zieht, damit er leichte Hiebe, Seitwärtsfinten oder wuchtige Schläge ausführt – all das wird dann schrittweise animiert. Und auch der Feind schlägt kurz darauf als bewegte Zeichenfigur zurück. Das ist zwar immer noch keine Echtzeit, sondern eine Art Schere-Stein-Papier-Rundentaktik mit Lebenspunktabzügen, aber es sieht cool aus und das System dahinter bietet wesentlich mehr Reize und authentischere Situationen als das klassische Würfeln.

Lohnt sich jetzt eher ein Block, ein leichter oder schwerer Hieb? Ersterer sorgt für einen Zuwachs an Ausdauer und kann den Schaden minimieren, Letzterer verbraucht so viel, dass man danach nicht nochmal alle Kraft investieren kann. All das ist mit einem Risiko behaftet, denn man weiß ja nicht, was der Feind wählt – hauen beide voll drauf, entscheidet die höhere Wucht über die Treffer und je härter man zugeschlagen hat, desto mehr Schaden riskiert man! Wie man am besten vorgeht, kann man teilweise aus den dynamisch an die Gefechte angepassten Beschreibungen heraus lesen, die nach einem Treffer folgen.

Fazit

Ich liebe dieses Spielbuch. Vor allem, weil es eine geheimnisvolle Anziehungskraft besitzt, die moderner Fantasy oftmals abgeht - hier entfaltet sich Erkundungsflair allererster Güte. Der erste Teil war schon sehr gut, dieser zweite ist erzählerisch noch besser und doppelt so umfangreich. Das ist mehr als einfache Lektüre, das ist ein interaktives Erlebnis mit zig Entscheidungen, die sich spürbar auswirken - hier entsteht zwischen den Zeilen mehr Ungewissheit und Spannung als in Mass Effect. Anders als etwa in Device 6 wird hier kein experimentelles, sondern eher klassisches Storytelling inszeniert. Aber aufgrund der audiovisuellen Zusätze, der tollen Karte und des Kampfsystems fühlt sich das wiederum sehr modern an. Falls ihr Abenteuer-Spielbücher mögt und des Englischen mächtig seid, wird euch Sorcery! schnell in seinen Bann ziehen. Ihr habt ein Androidgerät? Bis Jahresende will Inkle das Abenteuer umsetzen. Alle anderen müssen sich für den dritten der auf vier Teile ausgelegten Saga bis April 2014 gedulden. Aber das macht nichts, denn erst wenn man das hier mehrmals durchspielt, wird man alle Geheimnisse der Stadt gelüftet haben.

Pro

märchenhaft-exotische Fantasy
freie Routenwahl
neu: weiblicher Charakter wählbar
neu: Kanalisation
stimmungsvolle Präsentation
keine Sackgassen dank Rückspulfunktion
wunderschöne Weltkarte mit Geräuschkulisse
interessantes taktisches Kampfsystem
tolle Beschreibungen der Gefechte
leicht verbessertes Magiesystem mit 48 Sprüchen
Entscheidungen & Konsequenzen
Original-Artworks der Buchvorlage
interessante bis skurrile Rollenspielsituationen
kleine Rätsel und elegante Alternativen
gute Dialoge
Spielstand aus Teil 1 wird übernommen

Kontra

nur auf Englisch
keine Tagebuch/Notizbuchfunktion
Rucksack-Gegenstände nur als Notizen

Wertung

iPad

Falls ihr Fantasy und Abenteuer-Spielbücher mögt, wird euch Sorcery! schnell in seinen Bann ziehen - ein ausgezeichnetes Erlebnis.

iPhone

Nicht ganz so komfortabel auf dem kleinen Bildschirm - trotzdem ein tolles Abenteuer.

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