Test: The Old City: Leviathan (Adventure)

von Jörg Luibl



The Old City: Leviathan (Adventure) von PostMod Softworks
Ein philosophischer Spaziergang
Entwickler:
Publisher: -
Release:
03.12.2014
Erhältlich: Digital (Steam)
Spielinfo Bilder Videos
Egal ob Dear Esther, Gone Home, 4PM, Journal oder The Vanishing of Ethan Carter: Vor allem auf dem PC findet man viele Storytelling-Experimente. Seit einigen Jahren trauen sich immer mehr Entwickler auf andere Art oder aus anderer Perspektive eine Geschichte innerhalb des Mediums Spiel zu erzählen. Wie schlägt sich The Old City: Leviathan von PostMod Softworks? Mehr dazu im Test.

Malerischer Surrealismus

Ist das alles nur ein Traum? Erkundet man eine postapokalyptische Welt? Eine alternative Realität? Oder betritt man gar eine Wahnvorstellung? Diese Fragen stellen sich, wenn man als Namenloser in Egosicht die unwirklichen Schauplätze erkundet. Über elf Kapitel geht man ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nach, während man beim langsamen Spazieren durch die labyrinthischen Gänge oder idyllischen Anlagen auf wundersame bis verstörende Zeichen, Zettel, Szenen und Namen trifft.

Man beginnt das Spiel in einem schnöden Keller. Kaum geht man hinaus, öffnet sich ein Labyrinth aus Gängen und Gedanken.
Man beginnt das Spiel in einem schnöden Keller. Kaum geht man hinaus, öffnet sich ein Labyrinth aus Gängen und Gedanken.
Die Kulisse erreicht zwar bei weitem nicht die grafische Klasse eines Dear Esther oder gar The Vanishing of Ethan Carter, aber lockt hier und da mit malerischem Surrealismus – da umarmt ein bunter Riesenvogel schon mal schlafend ein Haus. Die Stimmung schwankt zwischen märchenhaft, dekadent und verrückt. Dabei fängt alles in einem schnöden Keller an, in dem wirre Tagebucheinträge an der Wand von Moses, Leviathan und Minotauren künden. Dann meldet sich eine Stimme. Ist das ein hilfreicher Mentor? Ein anderes Ich? Mein Ich? Jedenfalls dürfte man ohne sehr gutes Englisch ohnehin nur die Hälfte verstehen - immerhin sind Untertitel einblendbar.

Philosophische Fragen, kryptische Antworten

Das Wesen klinkt sich immer wieder als Erzähler ein. Während ich ahnungslos durch Keller und Anlagen irre, redet er an bestimmten Stellen über Gott und die
Was hat es mit diesem riesigen schlafenden Vogel auf sich?
Was hat es mit diesem riesigen schlafenden Vogel auf sich? Alles nur ein Traum mit Symbolcharakter?
Welt. Er stellt philosophische Fragen und gibt kryptische Antworten. Diese Monologe wecken durchaus das Interesse, weil es um Glauben und Gewalt, um Erlösung und Selbstzerstörung geht. Um all das, was die Menschheit so bewegt. Aber einen Reim darauf kann man sich lange Zeit nicht machen, man wird auch nicht gefragt oder zu Antworten animiert.

Es geht also einzig und allein um das Begreifen und Verstehen  Und dazu gehen die Stimme und die Kulisse als Elemente des Storytellings eine Symbiose ein, indem sie parallel erzählen. Während man zuhört erkennt man beim Spazieren, wie die Kulisse mit ihren Symbolen und Stimmungen mitplaudert – man sieht Waffen oder Blut, einen Toten oder Statuen, ein Schloss oder einen Strand.

Kein klassisches Spielerlebnis

Die Idee ist theoretisch gut, aber praktisch werde ich viel zu selten von der dieser doppelten Erzählführung so gepackt,
Spazieren, zuhören, zusehen - und lesen. Es gibt keine klassischen Interaktionen wie Rätsel, Kampf & Co.
Spazieren, zuhören, zusehen - und lesen. Es gibt keine klassischen Interaktionen wie Rätsel, Kampf & Co.
dass ich wirklich abtauchen kann. Vielleicht liegt es daran, dass die Inszenierung letztlich zu bieder und statisch, zu wenig verstörend und damit wirklich surreal ist. Obwohl es Ansätze dafür gibt, vermisse ich wirklich verstörende Effekte oder dramatische Zuspitzungen. Und genau deshalb wirkt sich die eigene Passivität hier negativ aus.

Spielerische Elemente gibt es nicht, also weder Rätsel noch Akrobatik oder Kampf. Zwar kann man theoretisch auch springen, zoomen und Dinge benutzen. Aber das wird nur sehr rudimentär eingesetzt: Entweder um sich in Abgründe zu stürzen, damit es endlich weiter geht, oder tatsächlich mal eine der grün leuchtenden Kisten zu öffnen - darin finden sich dann Solomons Notizen. Und die sind ein überflüssiger Fremdkörper.

Gerade dieses einzige interaktive Element zwingt nämlich erneut in die Passivität, indem man seitenlange Lektüre vorgesetzt bekommt. So kann man sich zwar noch tiefer in die Gedankenwelt hineinlesen, aber so verliert mich die Spielwelt auch noch mehr als Teilhaber. Zumal dieser einzige Sammelaspekt eine unnötige dritte Erzählebene neben der Kulisse und der Stimme aufbaut. Die gesellschaftlichen Konturen einer utopischen Zukunft, in der Theisten, Agnostiker und Atheisten eine Rolle spielen, hätte ich auch so deuten können. Auch die Minotauren werden ohne den wirklich überflüssigen Lesewust verständlich. So sind zwar all die Zeichen von Augen und Labyrinthen sowie die Überbleibsel von Krieg und Tod irgendwann komplett deutbar, aber nach zwei Stunden fühle ich mich sehr ernüchtert. Dieses Storytelling hatte gute Ansätze, mich auch emotional in die Spielwelt zu ziehen, aber ich bleibe ein überinformierter Zuschauer, der durch einen surrealen Park spaziert. Schade, da war so viel mehr drin.

Kommentare

monotony schrieb am
holydürüm hat geschrieben:Ich weiss Wertungsdiskussionen sind völlig sinnlos............ daher tut es mir sehr leid..... aber ich kann's mir nicht verkneifen :mrgreen: Was ist nun der Unterschied zwischen einem 90% Dear Esther und diesem 50% Game? Keine Trollerei sondern wirklich eine ernste Frage! [...]
es sind zwar seit dem test nun gut vier monate vergangen, aber ich habe das spiel gerade durch und möchte nachgehend versuchen deine frage zu beantworten.
zum einen ist dear esther deutlich kürzer, was hier tatsächlich ein vorteil ist. das pacing (die schnelligkeit des spielflusses) ist, wobei trotzdem nicht hoch, dennoch deutlich höher als bei the old city: leviathan wodurch letzteres sich sehr viel mehr zieht und hart an der konzentrationsfähigkeit des spielers zehrt.
beide spiele funktionieren in etwa so, dass mehrere, zum teil ineinander verwobene geschichten audiovisuell erzählt werden. also durch das erkunden und einem erzähler. bei leviathan vor allem aber durch texte. und davon gibt es reichlich. nicht nur die ellenlangen sammeltexte, auch findet man alle nase lang mit tagebüchern oder dokumenten geschmückte wände oder offene bücher.
und in der geschichte kommt nun der eigentliche knackpunkt beider spiele: wo dear esther noch herrlich interpretierfreudige, aber dennoch stringend erzählte stories bot, verirrt sich der autor oder die autoren von leviathan in philosophischen ergüssen. die verschiedenen figuren sind innerhalb der handlung schwer zu verorten, bedienen sich zum teil ausufernder rhetorik, springen in ihren gedanken hin und her und machen entwickungen durch, die zum teil nur sehr schwer nachvollziehbar sind. um die sache komplett konfus zu machen, baut man elemente und symboliken aus religion und historischer mythologie ein. etwa die minotauren, moses oder könig salomon.
die eigentlich interessante, dystopische rahmenhandlung wird dann zum ende hin komplett fallengelassen und verliert sich in unnötig angeschwollene, existenzielle fragen in verbindung mit...
Vinterblot schrieb am
Allein der Titel weckt bei mir Assoziationen. Ich denke an Lovecraft, natürlich an Moby Dick, an die Doom-Metal-Band Ahab (die sich ebenfalls mit Moby Dick beschäftigt haben), an dunkle, vergessene Orte und düstere Geschichten. Aber auch an eine gewisse Entschleunigung. An Brauntöne, an knisternde Schallplatten und verkratzte Filmaufnahmen. Thematisch rennt man bei mir mit solchen Sachen offene Türen rein. Insofern werde ich definitiv mal hereinschauen.
kamm28 schrieb am
@Grinder:
Ich hab das schon verstanden. Aber gerade deswegen, weil zwei kurze Spiele einmal schlecht und einmal gut bewertet werden, sowie längere Spiele ebenso die komplette Bandbreite zwischen meinetwegen 5 und 95 % abdecken, sollte man doch, in Verbindung mit den Argumenten, die hier schon wirklich oft geliefert wurden, langsam mal verstehen, dass die Spielzeit kein relevantes Kriterium ist. Und wenn doch, dann ganz klar auf das Genre/Spielprinzip bezogen.
Kajetan schrieb am
Sevulon hat geschrieben:Aber wenn er dann zusammen mit dem unstudierten Handwerker Hans Müller im Museum vor einer Skulptur von Da Vinci steht, hat er deswegen auch nicht zwingend mehr Ahnung, schließlich fällt weder die Bildhauerei, Italien noch der Künstler selbst in dessen Metier oder auch nur Interessengebiet.
Keine Frage. Aber er kann vielleicht ganz geschickt Bildung vortäuschen, in dem er Hans Müller jede Menge Bullshit mit viel Fremdwörtern an den Kopf wirft :)
Hatte im Studium ein Rethorik- und Freisprech-Seminar besucht. Da hat uns der Seminar-Leiter zu einem Termin ins Museum gebeten, wo wir dann vor ausgewählten Gemälden, von denen wir alle keinen blassen Schimmer hatten, aus dem Stehgreif einen gebildet klingenden Vortrag über das Werk halten sollten. Bedingung war, selbst bei zufällig vorhandenem Fachwissen NICHT auf dieses Wissen zurückzugreifen. Er wollte mit uns "gut klingenden Bullshit" üben. Dafür braucht man aber eine ganze Menge Allgemeinwissen und etwas Ahnung, ansonsten fehlen einem Begrifflichkeiten, um die Leere mit heißer Luft zu füllen. Der "Sieger" war ein Soziologe, der es überzeugend verstand irgendein Rennaissance-Bild mit dem Cargo-Cult der Ureinwohner auf Papua-Neuginea zu verbinden, ohne dass es lächerlich wirkte.
Hmm, ich warte sehnsüchtig auf den Kunstkritik-Simulator!
Sevulon schrieb am
darthslug hat geschrieben:Man sollte über den Kontext bescheid wissen, aber das hat nix wirklich mit gebildet sein zu tun. Ehrlich gesagt kann ich es auch nicht mehr hören dass man gebildet sein muss um Kunst zu verstehen, seid mir eine Museumsleiterin diesen Satz an den Kopf geworfen habe.
Bildung = Den Kontext kennen. Die Bildung muss natürlich schon in diesem Zusammenhang bestehen, alles andere macht ja keinen Sinn. Und diese Bildung kann man sich eben auch aneignen, wenn man mal den richtigen Artikel liest oder eine Doku im Fernsehen sieht.
Ich mein, wenn jemand bspw. amerikanische Geschichte studiert, dieses Fach seit 20 Jahren als Professor lehrt, mehrere Sprachen spricht, 10 Jahre in Asien lebte und sich Privat sehr für klassische Musik interessiert, ist das sicherlich ein sehr gebildeter Mensch. Ein Intellektueller. Aber wenn er dann zusammen mit dem unstudierten Handwerker Hans Müller im Museum vor einer Skulptur von Da Vinci steht, hat er deswegen auch nicht zwingend mehr Ahnung, schließlich fällt weder die Bildhauerei, Italien noch der Künstler selbst in dessen Metier oder auch nur Interessengebiet.
schrieb am