Big Sibyl is watching you
Ich lese sehr gerne Graphic Novels. Vor allem, wenn es um Science-Fiction geht. Und sowohl das Drehbuch als auch die dystopische Vision von
Psycho-Pass machen neugierig. Aber von einem Spiel verlange ich mehr als ständiges Umblättern. Bevor man in diesem Adventure von
5pb Games (die auch an
Steins;Gate arbeiten) irgendetwas anderes aktiv entscheiden kann, als eine weibliche oder männliche Ermittlerrolle anzunehmen, vergeht fast eine Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so passiven Einstieg in ein Spiel erlebt zu haben.
Man hat zwei Charaktere zur Auswahl: Inspektorin Nadeshiko Kugatachi oder Enforcer Takuma Tsurugi.
Und wie sieht dann die erste Aktion aus, als man einen Entführer auf die Schliche kommen soll? In einem schnöden Multiple-Choice-Menü darf man sich für "Inquire" oder "Track" entscheiden. Danach heißt es wieder: lesen, klicken, lesen, klicken, lesen, klicken. In diesen quälend langen Zuschauphasen wird man bei japanischem Originalton mit englischen Untertiteln zwar in eine interessante futuristische Gesellschaft eingeführt, in der ein Überwachungssystem namens Sibyl die Psyche jedes Menschen analysiert und zum Wohle aller die - scheinbar - besten Entscheidungen trifft. Außerdem sorgt eine mysteriöse Hacker-KI names "Alpha" in einem Cyborgkörper für einen dramaturgischen Gegenpol, zumal sie die Menscheit auf ihre Art glücklich machen will - mit teilweise dramatischen Konsequenzen. Das Drehbuch verknüpft auch biographisch das Schicksal des Protagonisten mit dem des Antagonisten. Man löst also nicht nur Fälle, sondern wird theoretisch in ein Drama verstrickt.
Aber die Präsentation ist schrecklich statisch, so dass diese Zukunftsversion von Tokyo lediglich Kenner des Animes zum Hinsehen oder Zuhören animieren dürfte, weil diese zumindest einige Déjà-vus erwartet. Die Zeichnungen können mit ihrem
Eine mysteriöse KI namens "Alpha" hackt sich in diesen Cyborg. Was hat sie vor? Die Menschheit glücklicher machen! Mandatory Happiness ist hierzulande mit japanischen Originalsprechern sowie englischen Untertiteln erhältlich.
eher dezenten und realistischen Stil vielleicht auch so manchen westlichen Geschmack treffen, aber es gibt in den vielen Dialogszenen nur einen Hauch von Mimik, meist keinerlei Bewegungen und von allen Gebäuden lediglich Standbilder. Auch Visual Novels können hier mehr leisten! Man kann auch keine Räume freier erkunden oder Gegenstände untersuchen, es gibt nicht mal ein Inventar oder eine Art interaktives Charaktermenü, sondern man wählt immer nur aus zwei bis vier möglichen Antworten aus - dagegen wirkt selbst das nur dezent inszenierte
Zero Time Dilemma wie ein actionreicher Blockbuster-Thriller. Das einzige Interaktive verbirgt sich im Menü unter Extras als Minispiel: Da kann man eine japanische Variante von
Threes! inkl. Highscore spielen.
Lesen, lesen, lesen
Man muss sich also komplett auf die zunächst verwirrende Geschichte konzentrieren und gute Englischkenntnisse einbringen, um nach den ausufernden Dialogen zwischen zahlreichen Charakteren die richtigen Entscheidungen zu treffen - die reichen von persönlichen und investigativen Fragen bis hin zur Wahl eines Stockwerks oder dem taktischen Vorgehen in Kämpfen. Man muss diese Science-Fiction-Welt mit ihren sprechenden Waffen, psychischen Analysen, farbigen
Lesen, lesen, lesen - dazu gibt es leider mehr Standbilder als animierte Szenen.
Darstellungen des Gemütszustandes und neuen Berufen aber erstmal verstehen. Schön ist, dass all die fremd anmutenden Begriffe wie Hue, Sibyl, Dominator & Co sowie die vielen beteiligten Charaktere bei der ersten Erwähnung umgehend mit einer Definition im Archiv landen. Wer vor einer Entscheidung nochmal etwas nachschlagen will, kann dies über L2 tun. Auch wenn man den Anime nicht kennt, kann man sich also in seine ambivalente Rolle einarbeiten. Wobei die Betonung auf "Arbeit" im Sinne von viel Lektüre liegt.
Es ist auch lediglich die Erzählung, die für einen Rest an Motivation sorgt. Die eigene Rolle z.B. als Takuma ist durchaus interessant, denn man spielt als "Enforcer" einen Polizisten zweiter Klasse, der als latent kriminell gilt und für jeden seiner Schritte bei einem "Inspector" um Erlaubnis fragen muss. Einerseits jagt
Die Waffe des Enforcers heißt "Dominator" und scannt Ziele auf ihr Verbrecherpotenzial - erkennt sie keines, entsichert sie auch nicht.
man also Verbrecher, andererseits wird man als potenzielles Risiko selbst überwacht. Das eigentliche Ziel von Takuma besteht z.B. darin, eine alte Jugendfreundin namens Yukari zu finden, die irgendwann spurlos verschwunden ist - und da könnte ihm der Job in der Behörde helfen. Nur kann man nie abseits des strengen Drehbuches etwas selbst riskieren oder recherchieren - es fehlen auch verschachtelte Dialoge zum Nachfragen, so dass auch aus der Kommunikation keinerlei investigatives Rätsel entsteht. Immerhin driften die meist gut geschriebenen Gespräche nicht so oft ins Kitschige ab.
Auch Beziehungen zu Kollegen entwickeln sich: Sehr angenehm ist, dass man seine Rolle innerhalb des Teams sowie gegenüber einzelnen Charakteren in vielen Situationen mit seinen Antworten prägen kann. Sehr schade ist, dass man nie selbst auf sie zugehen kann, sondern streng dem Ablauf folgen muss. Es sind die Konsequenzen, die bei Laune halten: Man kann z.B. seine Beruhigungspillen ablehnen und beobachten, wie der eigene Charaktere emotionaler und wütender auftritt. Entscheidungen wirken sich sowohl in kleinen Situationen als auch auf das Ende aus. Nur steckt man eben in einem statischen Korsett, in dem man all die interessanten technischen Aspekte dieser Welt einfach nicht aktiv ausprobieren kann. Auch eine Visual Novel könnte sich über interaktive Zusätze so weit öffnen, dass das Erlebnis unterhaltsamer wird.