Steep07.12.2016, Dieter Schmidt

Im Test: Ich hab dich Steep

Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse mich, ich … geschafft! Oh Gott, wie ich dich liebe! So ähnlich fluchen und jubeln die Tiefschnee-Fahrer ihre Worte spätestens am Matterhorn gen Fernseher, denn Steep (ab 4,25€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) ist seit den Schatzkistenrennen von Rayman Origins das mit Abstand härteste Ubisoft-Spiel.

Drei Sportarten, zahlreiche Variationen

Wenn man Snowboard und Ski zusammenfasst, da man mit beiden Sportgeräten das exakt Gleiche ausführt, kommt man mit Wingsuit und Paragliding auf drei Sportarten. Dennoch bieten die französischen Entwickler aus der alpinen Stadt Annecy etliche Varianten an, was angesichts der über 100 Challenges wichtig ist, um nicht mit einem Spannungsabfall in einer Gletscherspalte zu landen. So bietet man Rennen an, vollführt waghalsige Sprünge über Klippen (Rockdrops),  ist in Funparks und Halfpipes unterwegs, sammelt Punkte im offenen Terrain, muss beim Paragliding mit den Aufwinden Ziele erreichen oder gegen die Zeit Sturzflüge vollführen, mit dem Wingsuit nahe an Felsen vorbeisausen oder Rennen fliegen. Das hört sich auch noch nicht viel an? Nun, das wird jedoch mit einer der abwechslungsreichsten und schönsten Winterlandschaften der Spielewelt gepaart, so dass ich nach über 20 Stunden zwar etwas gesättigt bin, aber keineswegs auf langweilige Strecken zurückblicke. Selbst das anfangs eher schnöde Paragliding wird im späteren Spielverlauf immer interessanter.

Ein erhabener Anblick

Der eigentliche "Held" in Steep ist die schöne Winterlandschaft.
Wer wie ich seit 20 Jahren in über 15 verschiedenen Orten in den Alpen mit dem Snowboard unterwegs war, wird beim Spielen nicht drum herumkommen, mit feuchten Augen der Sehnsucht nach den Bergen zu erliegen. Dass sich allerdings überhaupt meine Erinnerungen im Tiefschnee mit den Bergregionen von Steep verbinden, liegt an einer fantastischen Darstellung der Alpen: Flache Bergausläufer mit Tannen, Canyons und Wechten, Felsformationen, Gletscher, Wälder, Ziehwegebenen, wechselndes Wetter, Wind und vor allem der Tiefschnee werden nicht zuletzt durch die perfekte Soundkulisse zum Leben erweckt (kleine Randnotiz: Man hat sogar für weite Sprünge den Adler-Sound von Assassin’s Creed genutzt). Und da stört es mich auch nicht, dass hin und wieder die Framerate etwas nach unten rutscht und Popups auftauchen. Dafür genieße ich bei allen Rides die Aussicht auf die kristallklaren Berggipfel in der Ferne. Und auch wenn die sieben Gebiete Aravis, Schweiz, Tirol, Aiguilles, Aostatal und Mont Blanc als Alpengebiete Ähnlichkeiten besitzen, so hat man dennoch das Gefühl, in jedem Gebiet in einen etwas anderen Schwerpunkt einzutauchen.

Simple Steuerung, harte Umsetzung

Warum ich mir dennoch von den Kollegen anhören muss, dass ich in den letzten Tagen Pipi in den Augen habe (als ob Snowboarder weinen würden!), liegt neben dem erhabenen Anblick der Natur auch an der Steuerung. Da wäre zum einen die überschaubare Trickkiste: Rotationsbewegungen lassen sich sehr simpel auflösen. Wer es schlicht mag, vollführt einfache Frontside-Drehungen mit einem Grab oder kann seine geraden Sprünge durch ein Tweaken (Verdrehen des Körpers) verfeinern. Wer mehr Punkte reißen will, kann mit dem Analogstick schräge Rotationen einleiten und Rodeos mit multiplen Grabs ansetzen. Die Schwierigkeit liegt in einem ganz anderen Bereich: Der Anfahrt. Denn in den späteren Challenges muss man Anfahrtswinkel und Geschwindigkeit regulieren, um nicht auf Steinflächen zu landen oder an einem Ring vorbeizufahren, die man z.B. in Rennen durchfahren muss. Zusätzlich wird ein gewisses Timing beim Absprung am Kicker (Rampe) abverlangt: Wer hier das
Beim Freestyle ist oftmals das Timing und die Anfahrt wichtig.
Zeitfenster verpasst, wird sich nur langsam drehen oder entwickelt keinen Pop (Sprungenergie). Kurz gesagt: Jeder kann hier was reißen. Aber verbissene Naturen auf Goldmedaillenjagd werden sich ihre Zahnwurzeln an den Vorgaben ausbeißen und das Zahnfleisch anschließend abraspeln. Zudem wirken G-Kräfte: Wer unsauber landet oder zu krasse Sprünge einleitet, wird quasi „angezählt“ und darf in den nächsten Sekunden keine Fehler machen. Diese zusätzliche Ebene wird auf den Anforderungsstapel für Perfektionisten ebenfalls draufgelegt. Goldmedaillen sind nur mit hohen Multiplikatoren zu erreichen, die bei jedem Sturz auf null zurückgesetzt werden. Spätestens hier trennt sich nicht der Pro vom Noob, sondern eher der Geduldige vom ADHS-ler, wenn der perfekte Lauf mindestens 30 Anläufe erfordert.  Dafür ist die Freude aber umso größer, wenn etwas gelingt!  Vor allen Dingen muss man hierfür auch in dem offenen Terrain die richtigen Absprungstellen aneinanderreihen. 

Mit dem Wingsuit durch Felslöcher

Auch in der Luft an man eine stimmige Steuerung eingebaut.
Auch in der Luft wird dank der Steuerung ein stimmiges Gefühl vermittelt.  Besonders bei den Wingsuit-Herausforderungen  muss man mit dem Analogstick den „Sweet-Point“ für eine ruhige Fahrt treffen. Dieser liegt aber zwischen dem Ruhepunkt des Sticks und dem Anschlag. Nicht selten braucht man anfangs etliche Versuche, um einige Challenges zu meistern. Wer Steep spielt, wird die Dreieck-Taste, die einen sofort an den Startpunkt zurückbringt, derart abnutzen, dass man das Symbol nicht mehr erkennen wird. Dafür sind die Fahrten aber derart kurz, dass man sofort wieder drin ist. Und auch wenn sich ein Lerneffekt einstellt, hat man es meiner Ansicht am Ende leider übertrieben. Hier lauern unfassbar schwierige Wingsuit-Herausforderungen durch schnell aufeinander folgende Felslöcher, wobei man sich um die eigene Achse drehen muss, während gefühlt eine Armlänge als Platz reichen soll. Hier hat man entweder pures Glück oder besitzt die Reaktionsschnelligkeit von Fledermäusen. Wer „La Fieuse“ geschafft hat, möge doch einen Eintrag in den Kommentaren hinterlassen.

Nicht selten braucht man über 50 Versuche, um beim Wingsuit die Ziellinie zu überqueren.
Aber nicht selten hat die eigene Qual nach über 50 Versuchen zu dem anfangs erwähnten Schrei geführt, der all die vorherige Konzentration und den Druck mit einer erleichternden Freude entweichen lässt. Und auch in der Luft hat man sich wirklich alle Mühe gegeben, abwechslungsreiche Kurse zu gestalten. Überhaupt wirkt das Leveldesign angesichts der einschränkenden Umgebungen stets durchdacht. Ob Rennen durch Wälder, Freestyle-Punktejagd in engen Eisformationen, einer Abfahrt in einer stillgelegten Bobbahn, der Nordwand-Abfahrt vom Matterhorn, Halfpipe-Events, den Herausforderungen an Steilhängen, dem Balancieren auf Eisflächen, den Funparks, dem Red Bull Ultra Natural-Contest,  dessen Strecke in einem von Tannen bewachsenen Hang gehämmert wurde, dem Überleben in Canyons oder den Rennen durch Dörfer: Steep ist wirklich abwechslungsreich.  Und Steep treibt den Puls nach oben. Zusätzlich lockern immer wieder Bergaufgaben den Spielverlauf auf und beanspruchen im positiven Sinn sehr viel Spielzeit. Mal muss man per GPS-Daten Orte aufsuchen, mit schwierigen Sprüngen auf Dorfdächer gelangen, Schneemänner zerstören, eine singende Tanne finden oder schwierige Sprünge durch Ringe meistern. 

Take me home, Backcountry Road!

Das Freeriden macht richtig Spaß und vermittelt das Gefühl grenzenloser Freiheit.
Auch Tiefschnee-Fahrer (Backcountry) und Entdecker kommen voll auf ihre Kosten. Da stehe ich auf dem Gipfel, sehe irgendwo in weiter Ferne nur eine leuchtende Säule. Mein Auftrag: Unter fünf Minuten das Ziel erreichen - ohne irgendeine Vorgabe. Das Terrain wechselt. Tiefschneeebenen, dann Wechten mit Felsen, zum Schluss Wälder. So rausche ich durch ein winterliches Gemälde und ergötze mich an der gewaltigen Naturdarstellung. Und wer schon mal beim Tiefschneefahren die Abfahrt verpasst hat, nicht mehr über einen wichtigen Hang kommt und unten im Tal per Anhalter zum Lift mitgenommen werden  muss, weiß, dass man in diesem Fall die Spielfläche genau lesen muss. Und was mich anfangs kalt gelassen hat, entpuppte sich dennoch als kleine spaßige Abwechslung: Einen Ort auf der Karte heraussuchen, Markierer setzen und dann einfach mit dem Brett vom Gipfel runterdüsen. Hier vermisse ich auch ehrlich gesagt schmerzlich Lawinen – so krude sich das auch anhören mag. Denn wer mit 300 Sachen im Wingsuit gegen eine Felswand rast, kann moralisch gesehen auch andernorts von einer Lawine verschüttet werden. Ist ja nur ein Spiel. Dann muss man halt wieder auf das Dreieck drücken. Dennoch hätte optisch das Wegtreten eines Schneebretts oder das dunkle Grollen der bewegenden Schneemassen hinter einem den Herzschlag weiter angeregt. Und wenn man dann geradeaus mit Schuss runterdüsen muss, würde sich die interessante Frage stellen, wann man zur Seite abdriften sollte und ob das Terrain dies zulässt.

Verschenktes Potenzial

Das Wetter wechselt häufig und auch Nachtfahrten sind möglich.
Zwar hat man wie angekündigt das Laufen der Sportler eingebaut, was die Erkundung ungemein erleichtert, dafür hat man aber das Freischalten der Spots leider unverändert gelassen: Diese zu entdeckenden Startziele, die meist auch neue Herausforderungen offerieren, können ganz simpel aus etlichen hundert Metern per Fernglas freigeschaltet werden. Das ist für meinen Geschmack etwas zu simpel. Hier hat man exploratives Potenzial verschenkt, indem man den Spieler eben nicht vorgibt: Spot X ist nur per Snowboard zu erreichen, wobei man auch wirklich bis zu jenem Gebiet fahren und das Terrain meistern muss. Das wäre auch gar nicht frustig, kann man doch beim offenen Fahren jederzeit über die Karte ganz bequem an einem anderen Punkt wieder einsteigen. Steep zeichnet nämlich den gesamten Abfahrtsverlauf auf. Stattdessen öffnet man den Wingsuit und rauscht schnell runter oder schaltet die Spots nebenbei einfach frei, wenn man zufällig in der Gegend ist. Auch die sechs Arten Erfahrungspunkte zu sammeln (Explorer, Freerider, Bone Collector, Freestyler, Exreme Rider, Pro Rider) helfen einem zwar, sehr schnell das finale Level 25 zu erreichen, sind aber sonst nicht wirklich wichtig, außer dass man darüber einige Herausforderungen freischaltet, die nicht wirklich im Gedächtnis blieben. Aber hey: Es ist ein Ubisoft-Spiel, also muss ständig was aufploppen. Das ist auch für den nächsten Punkt eher hinderlich.

Lasst mich einfach in Ruhe!

Die zusätzlichen Spieler nerven eher, als dass sie einen erfreuen.
Warum man den Multiplayer-Part in Steep nicht ausschalten kann, dürfte vielleicht damit zusammenhängen, dass man über Ingame-Währung die Kostüme verkaufen möchte. Und wer kauft schon gerne Klamotten, wenn es niemanden gibt, der sie wahrnimmt? Es interessiert mich einen Scheiß, was „Hansdampf93“ mit Level 14 in 4536 Metern Entfernung macht und es kann ganz schön nerven, wenn neben den KI-Gegnern, die als Vorlage für die Bronze-, Silber- und Goldmedaillen dienen, auch noch drei andere Spieler meinen Weg kreuzen und ich nicht mehr die Strecke erkennen kann. Das kommt nicht so häufig vor und ab und zu dient es auch der eigenen Belustigung, wenn Hansdampf93 mit voller Geschwindigkeit gegen eine einsame Tanne rast. Dennoch hätte man sich das sparen können, zumal man ausreichend Steep-Credits verdient, um sich das ein oder andere Kostüm zu leisten. Die Möglichkeit hingegen, eigene Herausforderungen zu kreieren und diese den Freunden zukommen zu lassen, kann nur positiv bewertet werden, zumal viele schön ausgearbeitete Plätze überhaupt nicht in den Herausforderungen genutzt werden.

Holprige Animationen

Auf dem Boden wirken die Animationen manchmal etwas abgehackt.
Viele Animationen sind per Motion Capturing gut umgesetzt und selbst das Fahren in der Halfpipe wurde angesichts der Tatsache, dass sich die vertikale Trickdarstellung etwas schwieriger gestaltet, ganz gut umgesetzt. Dennoch wirken die Animationen der KI-Gegner häufig sehr ruppig und abgehackt und auch die eigene Zuordnung zu dem Boden kann aufgrund der unterschiedlichen Winkel, Kanten und Spitzen zu komischen Bewegungsverrenkungen führen.  Zudem nerven etwaige Clippings, wenn man in den Herausforderungen in einem Lawinenschutz oder in Dorfwänden steckenbleibt und nicht einfach gehen kann, da die Challenge ansonsten abgebrochen wird. Dass man allerdings durch die Zweige der Tannen rasen kann, macht aus Spaßgründen durchaus Sinn. Und dass man nach wie vor keine Rail-Mechanik einbauen konnte, schmerzt das  Freestyler-Herz ungemein. Und auch der Soundtrack ist etwas lasch. Hier fehlen einfach pushende Tracks aus dem Bereich Punk und Drum and Bass.

Fazit

Wer bei Titeln wie skate oder Super Meat Boy nicht die Geduld aufbringen kann, auch mal 50 Versuche durchzuführen, ist bei Steep absolut fehl am Platz. Der Schwierigkeitsgrad steigt schon nach dem dritten von sieben Gebieten rasant an, auch wenn man immer wieder leichte Aufgaben einstreut. Und Steep ist auch kein Spiel, das man wie andere Open-World-Titel etliche Stunden am Stück durchzocken kann. Aber die Entwickler machen bis auf ein paar Kleinigkeiten wirklich alles richtig: Die Sportarten wechseln sich ab, die Herausforderungen besitzen zig Zielvorgaben, das Missionsdesign ist klasse, man hat Bergaufgaben eingebaut und obendrauf ist die Alpenlandschaft ebenso wie ansehnlich. Obgleich man über 20 Stunden sich immer wieder motiviert den Hang herunterstürzt, hat man es aber am Ende übertrieben. Hier wandelt sich das „Challenge accepted“ schnell in Frust um, da man die Vermutung besitzt, dass nur Roboter in die Ziellinie steuern können. Dennoch habe ich es genossen,  welche Liebe zum Wintersport  hier zu spüren ist. Steuerung und Darstellung sind stimmig. Und auch ohne eine Fantasiewelt eines SSX schafft man es, mit einer Realvorlage durchweg zu unterhalten. Mich konnte zwar die eisige Welt sofort erwärmen. Allerdings wurde bezüglich der fehlenden Rail- oder Lawinen-Mechaniken sowie Erkundung einiges an Potenzial verschenkt. Trotzdem ist Steep für mich ein absoluter Überraschungshit und ein gelungenes Erstlingswerk.

Pro

abwechselnde Sportarten mit unterschiedlichen Anforderungen
variationsreiche Herausforderungen
abwechslungsreiche offene Welt
üppiger Inhalt mit über 20 Stunden Spielzeit
Gratis-DLC Alaska
stimmige Steuerung
sehr gutes Missionsdesign
absetzen des Sportler auf der Karte ohne Ladezeiten
auflockernde Bergaufgaben
explorative Anreize
viele gute Spots für eigene Herausforderungen

Kontra

zum Ende hin sehr frustrierende Challenges
Mulitplayer-Fahrer können bei Abfahrten nerven
manchmal abgehackte Animationen und nervige Clippings
keine Lawinen
keine Rail-Mechaniken
zu wenige Erkundungsreize

Wertung

PlayStation4

Abwechslungsreiche Missionen und eine fantastische Berglandschaft: Steep macht sehr vieles richtig, verschenkt aber auch Potenzial.

XboxOne

Abwechslungsreiche Missionen und eine fantastische Berglandschaft: Steep macht sehr vieles richtig, verschenkt aber auch Potenzial.

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