11-11: Memories Retold16.11.2018, Jörg Luibl
11-11: Memories Retold

Im Test: Erinnerungsgemälde

Kürzlich haben Angela Merkel und Emmanuel Macron dem Ende des Ersten Weltkriegs (1914 - 1918) gedacht. Im Gegensatz zu Deutschland ist diese humanitäre Katastrophe in Frankreich als "la Grande Guerre" wesentlich stärker im Bewusstsein, weil es vor allem links des Rheins die größten Zerstörungen und Opfer gab. Auch Bandai Namco will mit einem "emotional ergreifenden Abenteuer" einen Beitrag leisten, indem man alles andere als klassische Helden zu Protagonisten macht. Was hat das Anti-Kriegsspiel vom Animationsstudio Aardman und dem französischen Entwickler DigixArt zu bieten? Mehr dazu im Test für PC, PS4 und One.

Fast vereinte Feinde

Zu den elegantesten Regiemomenten dieses historischen Adventures gehören Szenen wie diese: Der deutsche Soldat Kurt hört gerade in einem unterirdischen Stollen mit einem Stethoskop die Besprechung der britischen Offiziere über ihm ab, die den nächsten Angriff planen, was alle nervös macht. Dann schwebt die Kamera weiter nach oben und man übernimmt die Rolle des kanadischen Soldaten Harry, der an der Oberfläche als Fotograf des Heeres unterwegs ist. Die beiden zunächst nur getrennt spielbaren Protagonisten sind zwar ab November 1916 als Feinde auf unterschiedlichen Seiten der Front aktiv, aber treffen hier schon fast zusammen. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie mal aufeinander schießen würden, denn die beiden sind alles andere als Hurra-Patrioten. Die Entwickler bauen auch innerhalb dieser Charaktere nicht die typischen Feindbilder auf, dämonisieren also keinen Deutschen in Pickelhaube, sondern wollen den Menschen darunter zeigen.

Der kanadische Fotograf Harry ist im Schützengraben unterwegs.
Was sie vereint ist also, dass keiner ein klassischer Befehlsempfänger ist, der gerne wild um sich schießt: Der junge Harry aus Toronto ist noch grün hinter den Ohren und hat sich nur deshalb zum Krieg gemeldet, weil er seinem Schwarm Julia mit Uniform & Co imponieren will. Während er für seinen eitlen Major ein tolles Propaganda-Foto nach dem anderen schießen muss, merkt er jedoch bald, dass die Wirklichkeit in Frankreich eine andere ist als jene in den heimischen Zeitungen. Der wesentlich ältere Kurt ist Zeppelin-Ingenieur, schon verheiratet und hat nicht nur eine achtjährige Tochter. Er meldet sich freiwillig, weil sein Sohn Max als deutscher Soldat vermisst wird - er will ihn unbedingt finden. Beide Protagonisten wollen jedenfalls aus unterschiedlichen Gründen immer näher ran an die Front. Man folgt also "normalen" Menschen in das Epizentrum dieses Krieges.

Zaghaftes Anti-Kriegsspiel

Das ist eine interessante Ausgangslage, zumal die prominenten Sprecher wie Eliah Wood und Sebastian Koch hervorragende Arbeit leisten, indem sie Harry und Kurt lebendig werden lassen - der eine jugendlich naiv, der andere nachdenklicher und reifer. Es gibt zwar nur englischen Originalton mit Untertiteln, aber es wird zwischendurch auch Deutsch gesprochen; leider nicht konsequent, denn Kurt ist manchmal Englisch zu hören. Die orchestrale Untermalung stammt von keinem Geringeren als Oliver Derivière: Der renommierte französische Komponist hat schon für Vampyr, Remember Me, Obscure oder Alone in the Dark die Musik entworfen und steuert hier

Auch Briefe spielen eine Rolle: Harrys Schwarm reagiert unterschiedlich auf seine Fotos.
einige gefühlvolle Stücke bei. Aber für ein Anti-Kriegsspiel ist mir die akustische Begleitung manchmal nicht prägnant genug, fast schon gemütlich. Das passt allerdings zu einer die Regie die lange Zeit zu zaghaft ihre Figuren und Schauplätze inszeniert und zu einer Spielmechanik, die teilweise zu seicht und manchmal nervig sein kann, weil sie wild zwischen Point&Click- und Queststrukturen, Pseudo-Reaktionstests und Action light wechselt.

Es gibt also viel zu tun! Ich hatte aber über lange Phasen das Gefühl, dass ich künstlich beschäftigt werden soll: Man sammelt hier was, verschiebt da was, schießt Fotos, muss mal kleine Rätsel lösen, etwas abholen und wegbringen, in Deckung zum nächsten Graben huschen, im Takt mit der Musik spielen - aber fast alles bleibt auf Minispielniveau. Zwar ist zumindest die thematische Vielfalt lobenswert und der Anspruch höher als z.B. bei typischen Telltale-Abenteuern, aber einiges wirkt arg konstruiert oder statisch. Da besorgt man Zigaretten, weil ein Symbol beim Händler sie anzeigt, aber kaum legt man sie dorthin, passiert...nichts. Etwas besser wird es allerdings, wenn man Harry und Kurt zusammen spielt.

Kooperative Feinde

Zwar wirkt es komplett übertrieben, dass der Deutsche ein "I am Harry" nicht verstehen soll, aber diese Darstellung der Verständigungsprobleme soll natürlich auch zeigen, dass nicht die Worte, sondern die Taten beide davon überzeugen, gute Menschen zu sein - man fühlt sich fast an "Enemy Mine" (Geliebter Feind, 1985) von Wolfgang Petersen erinnert. Außerdem gilt es zumindest mal, die Charaktere geschickt zu wechseln, damit z.B. der Schlüsselträger an die Tür kommt; und es kommen kooperative Aktionen hinzu, in denen der eine den Hebel bedient und der andere in den Aufzug steigt. Obwohl das also den spielerischen Unterhaltungswert erhöht, gibt es weiter ärgerliche Inkonsequenzen oder kleine Bugs: Da soll man Sprengstoff zu einer porösen Mauer fahren, aber nach dem offensichtlichen Weichenwechsel kann man die Lore nicht mehr bedienen? Nicht nur die beiden sind spielbar, es gibt auch Passagen, in denen man mit einer Katze einem Vogel hinterher jagt, und so eine Speisekammer findet; auch der Piepmatz ist spielbar. All das sorgt für charmante Perspektivwechsel, aber eben auch für ein etwas kindliches Flair in der ernsten Thematik.

Hinzu kommen jedoch einige interessante Ansätze, die auf lange Sicht motivieren: Die Wahl der Foto-Motive, die Harry nach Hause schickt, wirkt sich z.B. auf die Antwort seiner Julia aus. Und Kurt kann die Briefe an seine achtjährige Tochter auf mehrere Arten schreiben, kann die

Irgendwann sind Harry und Kurt auch gemeinsam unterwegs.
Wahrheit erzählen oder lügen, kann ihr Hoffnung machen oder sie eher ernüchtern - all das wirkt sich ebenfalls auf eines der sechs möglichen Enden aus. Schön ist auch, dass man beim Vervollständigen seiner Sammlungen authentisches historisches Material der Zeit betrachten kann - originale Fotos, Zeichnungen und Schaubilder. Außerdem gelingt es der Regie über die Kommentare der anderen Soldaten schrittweise, die vielen Perspektiven auf diesen Krieg hörbar zu machen - die Hoffnung auf ein schnelles Ende, die Frustration über die Sinnlosigkeit, den Hass auf den Feind, auf "Fritz" oder "Tommys", die Wut auf die Offiziere, die Kameradschaft untereinander, aber eben auch auf beiden Seiten die Sehnsucht nach Frau und Familie.

Valiant Hearts lässt grüßen

Trotzdem empfinde ich das ästhetisch gelungene Artdesign mit seinem Impressionismus inhaltlich kontraproduktiv. Ich fühle mich fast wie in einem Gemälde von Claude Monet (1840-1926), wenn ich durch diese flüchtig verschwommene Welt der Farbtupfer spaziere. Ja, das soll auch so sein, aber aber die Kulisse trägt mit ihrem freundlichen Stil, der harte Konturen verwischt, nicht gerade dazu bei, die Schrecken dieses Krieges aufzuzeigen - das Idyllische und Malerische überwiegt. Obwohl es auch sehr ernste Szenen wie die Erschießung eines gefangenen Soldaten oder das Stürmen durch Schützengräben bei Opfern links und rechts gibt, wirken diese emotional nicht stark genug, weil z.B. Trümmer, Blut & Co wie Konfetti aussehen. Und damit scheitert man an einem wesentlichen Aspekt dieses Ansatzes, weil man auf diese Art eher pädagogisch wertvoll als dramaturgisch schonungslos inszeniert. Manchmal fühlte ich mich fast wie in einem interaktiven

Bandai Namco veröffentlicht in Kooperation mit War Child UK einen Charity-DLC. Die Einnahmen gehen an eine gemeinnützige Organisation, die Kindern in Kriegsgebieten helfen will.
Kinder- oder Jugendbuch. Dabei müsste eine gute Regie den Finger viel stärker in die Wunde legen, denn hier wird immerhin die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" thematisiert, die mit ihren Verstümmelten, Verstörten und hundertausenden Toten in Schützengräben für kaltes Grausen sorgte.

Diese hässliche Fratze des Ersten Weltkrieges wurde schon 2007 in The Darkness gezeigt, als alptraumhafte Form der Hölle. Und selbst wenn man nicht so explizit draufhalten will, hätte man die Story wesentlich bedrückender inszenieren können: Man denke an das gelungene Anti-Kriegsspiel This War Of Mine. Hier fühle ich mich eher an den halbgaren Ansatz des gut gemeinten, aber ebenfalls zahnlosen Comic-Adventures Valiant Hearts: The Great War von Ubisoft erinnert. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass dieses Spiel von der britischen Filmproduktionsgesellschaft Aardman (Wallace & Gromit, Shaun das Schaf) sowie dem französischen Studio DigixArt entwickelt wurde, das 2015 von Yoan Fanise gegründet wurde - er arbeitete zuvor bei Ubisoft an Valiant Hearts.

Fazit

11-11: Memories Retold ist ein gut gemeintes Erinnerungsgemälde, aber über weite Strecken kein packendes Anti-Kriegsspiel. Obwohl Eliah Wood und Sebastian Koch als Sprecher überzeugen und die Regie einige elegante Überleitungen in petto hat, die die Nähe der Feinde wunderbar aufzeigen, will der emotionale Funke nicht überspringen. Der erzählerische Ansatz ist interessant, denn zwei ganz unterschiedliche Charaktere werden spielbar gemacht, man wechselt quasi zwischen Feinden - und beide werden immer tiefer in diesen Krieg verwickelt. Auf dem Weg dorthin hört man, was einfache Soldaten davon halten und beginnt zwischen Schützengräben und Familientrauer das tragische Ausmaß dieser "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" zu erahnen - hier wird nicht das Soldatische heroisiert, sondern das Menschliche thematisiert. Aber ich hätte das Grauen dieses Krieges noch deutlicher spüren müssen! Zu zaghaft ist die Inszenierung, zu idyllisch das impressionistische Design mit seinen Farbtupfern, als dass ich emotional so ergriffen werden würde wie z.B. in This War Of Mine. Über allem weht ähnlich wie bei Valiant Hearts ein Hauch von pädagogisch wertvoll. Aber auch diese Geschichte hat starke Momente, die einen nachdenklich stimmen, zumal nicht nur die kooperativen Aktionen sowie tierische Begleiter für Abwechslung sorgen, sondern man je nach Entscheidungen ein anderes Ende erlebt. Leider gibt es einige Inkonsequenzen im statischen Design und die meisten interaktiven Anforderungen befinden sich auf Minispielniveau. Trotzdem sind einige Rätsel anspruchsvoller als etwa das, was Telltale zuletzt angeboten hat. Unterm Strich sorgt weniger die Spielmechanik, sondern vor allem die Thematik dafür, dass man ein angenehm ungewöhnliches historisches Adventure erlebt.

Pro

Anti-Kriegsspiel erinnert an Ersten Weltkkrieg
man spielt abwechselnd zwei Charaktere
einige kooperative Interaktionen zu zweit
auch tierische Begleiter (Katze, Vogel) spielbar
Sicht einfacher Soldaten auf den Krieg wird deutlich
keine Dämonisierung von Deutschen
einige elegante Überleitungen
Entscheidungen mit Konsequenzen
einiges authentisches Material sammelbar
sehr gute englische Sprecher (Eliah Wood etc.)
tolle Kompositionen von Oliver Derivière
Charity-DLC hilft Kindern in Kriegsgebieten
mehrere Enden je nach Entscheidungen

Kontra

emotional nicht stark genug inszeniert
Interaktionen nur auf Minispiel-Niveau
sehr begrenztes Leveldesign
einige nervige Hol-und-Bring-Dienste
teilweise keimnerlei Reaktion auf Aktionen
unpassende idyllische Wasserfarben-Kulisse
lediglich deutsche Untertitel
kein manuelles Speichern

Wertung

PlayStation4

Das ist ein spielbares Erinnerungsgemälde an den Ersten Weltkrieg. Der Anspruch ist gering und für ein packendes Anti-Kriegsspiel fehlt mir die Schonungslosigkeit, aber dafür gibt es kooperative Szenen und mehrere Enden.

PC

Das ist ein spielbares Erinnerungsgemälde an den Ersten Weltkrieg. Der Anspruch ist gering und für ein packendes Anti-Kriegsspiel fehlt mir die Schonungslosigkeit, aber dafür gibt es kooperative Szenen und mehrere Enden.

XboxOne

Das ist ein spielbares Erinnerungsgemälde an den Ersten Weltkrieg. Der Anspruch ist gering und für ein packendes Anti-Kriegsspiel fehlt mir die Schonungslosigkeit, aber dafür gibt es kooperative Szenen und mehrere Enden.

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  • Bandai Namco Entertainment Europe wird in Kooperation mit War Child UK einen Charity-DLC für vier Euro veröffentlichen. Die Einnahmen aus dem DLC sollen an die gemeinnützige Organisation, die Kindern in Kriegsgebieten helfen will, gespendet werden.
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