Space Giraffe02.09.2007, Jan Wöbbeking
Space Giraffe

Im Test:

Lust auf eine Grenzerfahrung? Rez, Geometry Wars und Konsorten sind euch zu blass, zu gewöhnlich? Dann nichts wie ab auf Xbox Live, denn dort wartet der neue Trip von Kult-Programmierer und Zotteltier-Fan Jeff Minter auf euch. Aber Vorsicht: Dieses Spiel ist bestimmt nicht für jedermann geeignet. Der Sinn hinter dem aberwitzigen Farbspektakel erschließt sich erst auf den zweiten Blick.

Traum oder Wirklichkeit?

Ein Piepsen erfüllt den Raum. Ich höre ein Kind, wie es in regelmäßigen Abständen einen Code aus undefinierbaren Wortfetzen herunterbetet. Vor mir bewegt sich der verschwommene Kopf einer knallbunten Giraffe auf und ab...auf und ab...auf und ab. Träume ich noch? Nein, ich bin zwar noch etwas schlaftrunken, aber diese verstörende Szenerie ist lediglich das Hauptmenü von Jeff Minter's neuem Shooter Space Giraffe, den ich soeben vom Xbox Live-Marktplatz heruntergeladen habe.

Alles so schön bunt hier... Das Spiel nutzt die Engine des Neon-Visualizers, der auch im Musik-Player der Xbox 360 Musikstücke untermalt.
Wie lange habe ich auf dieses Spiel gewartet? Wie lange ist es her, dass ich so viel Spaß mit dem Vorgänger Tempest 2000 auf der Jaguar-Konsole von Atari hatte? Auf jeden Fall viel zu lange. Die Episode Tempest 3000 durfte ich nie spielen, da sie nur für den seltenen Nuon-Chip programmiert wurde. Die Hardware wurde in nur wenige US-DVD-Player eingebaut wurde, an die man als Deutscher gar nicht so leicht herankommt. Und der lange angekündigte Titel »Unity«, den Minter zusammen mit Lionhead für den Gamecube herausbringen wollte, wurde letztendlich komplett eingestellt.

Doch Space Giraffe habe ich tatsächlich vor mir - wie hypnotisiert starre ich auf die auf- und abwärts schwebende Giraffe. Als ich das Spiel starte, bin ich geschockt. Als Minter-Fan bin ich durchgeknallte Grafik gewohnt, aber diesmal ist der Brite wirklich bis ans Limit gegangen. Der Hintergrund und die im Grunde einfachen, geometrischen Gitterkonstrukte werden von durch das Weltall schwebende Farben durchflutet und teils bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sogar die Anzeigen flattern im Takt herum - ganz so wie man es von einem Röhren-Bildschirm kennt, den man auf einer Techno-Party zu nah an einen riesigen Subwoofer gestellt hat. Ich habe Mühe überhaupt zu erkennen, was sich vor meinen Augen abspielt. Offenbar ein Tempest-Klon, aber die Feinheiten wollen sich mir nicht auf Anhieb erschließen. Auch nach dem Durchspielen des Tutorials wird mir noch nicht ganz klar, wann und warum ich die heranrückenden Gegner seitlich vom oberen Ende des geometrischen Konstruktes rammen soll. Enttäuschung macht sich breit. Das soll also das Minter-Spiel sein, auf das ich so viele Jahre gewartet habe?

Space Giraffe ist nicht Tempest

Doch glücklicherweise tat ich dann etwas, das ich auch jedem von euch wärmstens ans Herz lege: Ich habe mir die ausführlichen Spieltipps in Jeff Minters Blog vom 20. August auf der Llamasoft-Homepage durchgelesen, in welchen der Entwickler die Einzelheiten der Spielmechanik deutlich genauer erklärt als in der kurzen Anleitung.

Gehirn bitte an der Garderobe abgeben.
Denn auch wenn es zunächst nicht so wirkt: Space Giraffe ist nicht Tempest! Lediglich das Grundgerüst wurde übernommen. Wie anno Dazumal fahrt ihr auf der oberen Kante eines geometrischen Gerüsts mit eurem Raumschiff - pardon - mit eurer Giraffe von links nach rechts und zurück und ballert auf die anrückenden Feinde. Doch davon abgesehen gibt es nur wenig Gemeinsamkeiten. Minter und sein Kollege Ivan Zorzin, die das Spiel übrigens beinahe im Alleingang entwickelten, haben Space Giraffe eine frische Spielmechanik verpasst, die sich dem Spieler erst nach einer längeren Eingewöhnungszeit voll und ganz erschließt.

Wenn ihr die Levels nur überleben möchtet, ballert ihr nach wie vor auf alles, was auch auf die Pelle rückt. Wollt ihr eine hohe Punktzahl und dadurch auch Extraleben einsacken, müsst ihr allerdings eine andere Strategie anwenden als in Tempest. Im Wesentlichen geht es darum, möglichst viele Gegner an euch herankommen zu lassen, um sie danach in einem Rutsch von der oberen Kante herunterzurammen. Dann ertönt ein ohrenbetäubendes Muhen und euer Punkte-Multiplikator steigt um einige Zähler.                   

Die alles entscheidende Power Zone

Doch dieses »Bulling« genannte Rammen könnt ihr nur dann anwenden, wenn eure schützende Power Zone aktiv ist. Ohne dieses Hilfsmittel drehen die Gegner den Spieß um und reißen euch in den Tod. Wie groß eure Power Zone gerade ist, seht ihr an der weißen Begrenzungslinie, die sich ununterbrochen auf euch zubewegt, bis der sichere Bereich schließlich komplett verschwindet.

»Bulling« für Anfänger: Ballert nur links alle gelben Feinde über den Haufen, bis rechts eine Herde ihrer Artgenossen herumwuselt..
Aber keine Panik: Ihr könnt die Zone wieder aktivieren und vergrößern, indem ihr Gegner abschießt. Jeder eurer Treffer verschiebt die rettende weiße Linie ein gutes Stück weiter nach hinten.

Wird es zu hektisch, könnt ihr eine Smartbombe einsetzen. Oder ihr sammelt eine leuchtende Kapsel ein, springt vom Gitter und erledigt die Feinde aus sicherer Entfernung. Der Sprung hat außerdem den Vorteil, dass die Power Zone komplett wiederhergestellt wird. Besonders hartnäckig sind die schnell wachsenden Blumen. Es braucht schon eine Menge Schüsse, bis dieses Unkraut endlich vergeht. Doch genau das könnt ihr auch zu eurem Vorteil ausnutzen: Jeder Treffer auf das Blütenblatt lässt eure Power Zone ein Stückchen wachsen. Also könnt ihr den lebensrettenden Bereich mit Hilfe der Blume schön geräumig halten, während sich die anderen Gegner neben euch sammeln. Dann braucht ihr nur noch einmal im Kreis zu fahren, die Gegner-Herde vom Rand zu rammen und der Neunfach-Multiplikator ist euer!

Kleinkunst im Weltall

Ein weiteres zweischneidiges Schwert sind auch die Schüsse eurer Gegner: Wenn diese euch treffen, ist ein Leben futsch. Aber andererseits könnt ihr sie mit euren eigenen Projektilen in die entgegengesetzte Richtung zurück bugsieren. Dann drehen sie eine Runde durch das Weltall im Hintergrund und erscheinen nach ein paar Sekunden wieder auf dem Gitter.

..mit einer schwungvollen Bewegung nach rechts räumt ihr die komplette Baggage ab und genießt den inbrünstigen Brunftschrei einer ganzen Bullenherde.
Schafft ihr es, immer mehr gegnerische Schüsse auf diese Weise im Spiel zu halten, also zu »jonglieren«, ist euch nach Ende des Levels ein dicker Bonus sicher. Als besonders nützlich erweist sich dabei der Umstand, dass ihr mit dem rechten Analogstick schräg zur Seite schießen könnt. So erreicht ihr auch die gegnerischen Projektile neben euch und schleudert sie zurück ins All.

Das Schöne an Space Giraffe ist, das die Levels sich nicht nur vom Aussehen her unterscheiden, sondern auch recht unterschiedliche Spieltaktiken erfordern. Mal müsst ihr möglichst lange auf die widerstandsfähigen Gegner einschießen, um die besonders schnell schrumpfende Power-Zone zu erhalten. Ein anderes mal könnt ihr unheimlich viele gegnerische Schüsse zurück ins Weltall »jonglieren« und eine Menge Punkte abräumen usw. Deutlich getrübt wird der Spielspaß allerdings vom unausgewogenen Schwierigkeitsgrad. Durch manch ein Level bin ich im ersten Anlauf durchmarschiert, für andere habe ich mehr als zwanzig Versuche gebraucht.

Vertrau deinen Ohren!

Ihr könnt das Spiel übrigens in jeder zuvor erreichten Stufe neu starten. Am meisten Spaß macht es aber, im ersten Level zu beginnen, bereits die einfachen Levels jedes mal ein bisschen besser abzuschließen und den Highscore in die Höhe zu treiben. Manchmal müsst ihr euch dabei auf eure Ohren verlassen, weil das visuelle Chaos auf dem Bildschirm euch die Sicht nimmt. Prägt euch die Soundeffekte ein, die die unterschiedlichen Gegner beim Erscheinen abgeben. Je mehr Erfahrung ihr sammelt, desto besser könnt ihr abschätzen, wie ihr die kaum sichtbare Bedrohung am besten bekämpft.            

Fazit

Wer bin ich? Wo bin ich? Und was zum Kuckuck mache ich hier überhaupt? Space Giraffe konfrontiert euch gleich zu Beginn mit den elementarsten Fragen eures menschlichen Daseins. Jeff Minter zieht alle Register und verzerrt das wild im Takt der Musik blitzende Chaos auf dem Bildschirm bis zur Unkenntlichkeit. Doch dieses Durcheinander, diese exzessive Farborgie ist nicht nur ein Grafik-Gimmick, sondern ein grundlegendes Element des Spieldesigns: Erkenne das Muster im Chaos! Traue nicht nur deinen Augen, sondern höre auch auf deine Ohren. Oder, wie Obi-Wan Kenobi es ausdrücken würde: "Lass dich von deinen Gefühlen leiten!" Das Star-Wars-Zitat mag zwar esoterisch klingen, doch im Grunde ist es nicht weniger als die Quintessenz auf diesem Trip: Mit der Zeit entwickelt ihr - beinah unterbewusst - ein Gespür dafür, wo im undurchsichtigen Durcheinander Gefahr lauert und wo die Chance auf einen dicken Bonus wartet. Doch bis dahin viel lernen ihr müsst. Mindestens eine Stunde wird vergehen, bevor ihr einigermaßen versteht, was wirklich auf dem Bildschirm abgeht. Wer diese Geduld nicht aufbringt und nur schnell die Demo anschmeißt, wird zwangsläufig enttäuscht. Doch wer die zähe und langwierige Lernphase durchsteht, wird mit einem innovativen, knackigen und motivierenden Score-Shooter belohnt - und natürlich mit einer einzigartigen Reise durch eine aberwitzig verfremdete Cyber-Welt.

Update zur PC-Version vom 23.12.2008:

Pünktlich zum Weihnachtsfest dürfen sich jetzt auch PC-Besitzer in den britischen Farbrausch stürzen. Die PC-Version gibt es auf der Llamasoft-Homepage  für rund 15 Euro zum Download. Das Entwickler-Duo Jeff Minter und Ivan Zorzin hat der hauseigenen Grafik-Engine Neon ein paar neue Shader spendiert. Das Ergebnis bekommt ihr im grafisch überarbeiteten »NUXX«-Modus zu Gesicht. Dank weniger verwirrender Effekte und einer weiter entfernten Kamera fällt der Einstieg in das ungewohnte Spielprinzip jetzt ein Deut leichter aus. Die Hintergründe sind weniger verzerrt und erinnern mit ihren hübsch von hinten durchleuchteten Wänden an die Level-Röhren von Microcosm. Auch die neue Power-Zone-Leiste sorgt in den ersten Abschnitten für mehr Übersicht. Wenn euch das alles zu bieder ist und ihr die volle Packung Synapsen-Terror wollt, könnt ihr weiterhin in der Original-Grafik aus der Xbox-360-Fassung zocken: Die mitgelieferten 100 Levels lassen sich in beiden Varianten starten. In der Zukunft soll es außerdem kostenpflichtige Level-Packs geben. Weniger schön ist der Umstand, dass die Leaderboards komplett gestrichen wurden und es nur noch zwei lokale Highscorelisten gibt. Gerade bei einem derart auf das Score-System ausgelegten Spiel ist das ein schmerzlicher Verlust. Trotzdem bleibt Space Giraffe ein außergewöhnlich buntes und äußerst kurzweiliges Arcade-Erlebnis. Nehmt euch am besten ein wenig Zeit, um den spielerischen Sinn hinter dem farbigen Chaos zu entdecken. 

Pro

durchgeknalltester Farbenrausch seit Rez
innovative Spielmechanik
großer Langzeitspaß dank 100 Levels
jeder davon erfordert eine eigene Strategie
auf Highscore zu spielen ist besonders motivierend
euphorischer Rave- und verstörender Ambient-Soundtrack
typisch krachende Soundeffekte und alberne Sprachsamples
günstiger Preis von nur 400 Punkten (Xbox 360)
leichterer Einstieg durch zusätzlichen Grafik-Remix und Power-Zone-Leiste (PC)

Kontra

zäher Einstieg erfordert viel Geduld
kurze Anleitung lässt einige Fragen offen
unausgewogener Schwierigkeitsgrad
statt Leaderboards nur lokale Highscorelisten (PC)
nur wenige Musikstücke
kaum Bass und Dynamik in der Sound-Abmischung

Wertung

360

Krank aber gut: Irrwitzig verzerrter Cyber-Shooter mit zähem Einstieg, aber innovativer Spielmechanik.

PC

PC-Besitzer bekommen zusätzlich einen ruhigeren Grafik-Remix, müssen aber auf die Leaderboards des Konsolen-Originals verzichten.

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