Mirror's Edge Catalyst04.05.2016, Benjamin Schmädig

Vorschau: Die große Freiheit?

Wenn in Mirror's Edge nur die ersten Töne erklingen, Faith einen Sims entlang klettert und einen Kran herunter schlittert, bin ich schon angekommen, bevor ich auch nur die Steuerung übernommen habe. Vor knapp acht Jahren fanden Spiel, Umgebung und Musik zu einem Erlebnis zusammen, das ich zu den schönsten meiner Spielevita zähle. Und was habe ich mich auf den Nachfolger gefreut! Angekommen bin ich in Mirror's Edge Catalyst (ab 3,07€ bei kaufen) allerdings noch nicht.

Minimalistisches Kopfkino

Ein paar Stunden war er lang: der Blick, den die geschlossene Beta in die Fortsetzung öffnete. Es war der Blick in eine von Kontrolle und Überwachung gezeichnete Welt, in der so genannte Runner als Postboten heimliche Nachrichten und Lieferungen zustellen – hoch über den Straßen der Stadt, wo sie vor Kameras und Staatsgewalt weitestgehend sicher sind. Das monotone Rauschen der Highways flieht dort aus Häuserschluchten. Die Kälte des Überwachungsstaats verläuft sich in den weißgrauen Fassaden von Wolkenkratzern, die sich ins Sonnenlicht strecken. Und mittendrin...

Mittendrin?

… rote Punkte, Markierungen, Pfeile, gelbe Leuchtspuren und Runner, die wie angewurzelt am Fleck verharren. Fremdkörper in einem Ökosystem, das ohne sie mehr Leben hatte. Wie ein Comic umriss Entwickler Dice damals das Szenario und inszenierte so ein famoses Kopfkino: Wo im Vorgänger meine Fantasie die wenigen Pinselstriche der

Symbolträchtig: Leider sind die meisten Markierungen ständiger Bestandteil des Spiels.
vergleichsweise engen Levels zu einem faszinierenden Szenario ergänzte, ist die offene Welt des neuen Mirror's Edge ein kompletter Schauplatz. Sie ist allgegenwärtig, man muss sie nehmen, wie sie ist. Ich kann wenig ergänzen, weil alles da ist. Und dieses Alles ist einfach nicht überzeugend.

Mich stören vor allem dutzende Dinge, deren Vorhandensein kaum einen Sinn ergibt. Die nur dazu da sind, damit ich per Knopfdruck bestätigen kann, da gewesen zu sein. Man tut es, weil es angezeigt wird, nicht weil es in die Welt gehört. Selbst die Herausforderungen anderer Spieler, Rennen auf Zeit, sind ständig sichtbar; es gibt keine Möglichkeit sie auszublenden. Anders als im Vorgänger klettere ich also nicht über beinahe leere Dächer – eine Community, die außerhalb des Spiels existiert, rückt mir ständig auf die Pelle.

Warum muss ausgerechnet das elegante Mirror's Edge zur profanen Sammel- und Aufgabenwüste verkommen?

Greifen, ächzen, wuchten

Dabei gefällt es mir grundsätzlich, dass Faith nicht mehr Level für Level abspult, sondern sich überall auf den Dächern ihrer Stadt bewegen kann! Im Zusammenhang mit dem freien Laufen, Klettern und Springen ist der Übergang in die offene Welt eine logische Weiterentwicklung. Faith beherrscht die akrobatische Bewegung ja nach wie vor besser als all ihre Kollegen: Dying Light ist auch etliche Jahre nach ihrem ersten Auftritt weniger eingängig und flexibel. Und

Grundsätzlich eine gute Idee:

Man kann jederzeit eine Herausforderung erstellen, selbst eine Bestzeit laufen oder verbessern und das Zeitrennen wahlweise allen Onlinespielern oder nur Freunden zur Verfügung stellen.

Per Knopfdruck setzt man dabei Start- sowie Zielpunkte und legt Checkpunkte fest. selbst jenen Spielen, die ihre Helden mit ähnlichen Mitteln physisch greifbar machen, geht die Körperlichkeit der jungen Asiatin ab.

Kein Wunder also, dass Dice nur winzige Änderung an Spielgefühl und Steuerung vorgenommen hat. Manche Techniken wie die schnelle Drehung um 180 Grad muss sie jetzt zwar erst lernen, aber die dafür notwendigen Erfahrungspunkte hat sie schnell in der Tasche. Schade, dass die Akrobatin jetzt abrupter anläuft, gefühlt ungleich höher springt und z.B. das Abrollen nach einem hohen Fall stark vereinfacht wurde – die Simulation des Physischen wurde zugunsten einer Arcade-Zugänglichkeit geopfert. Noch immer ist es aber ein erhebendes Gefühl, Wege zu erklimmen, die man erst finden muss, und sich schnaufend an Vorsprüngen hochzuziehen. Wird Faith nach einem Absturz an einen Punkt davor zurückgesetzt, atmet sie zudem ruhig und tief durch, bevor sie es noch einmal versucht – ein schönes Detail!

"Klick mich, ich bin rot!"

Erfahrung sammelt sie durch das Erledigen kleiner und großer Aufgaben, wozu Haupt- und Nebenmissionen ebenso zählen wie das Auflesen belangloser Chips und ähnlich wie in Assassin's Creed das unsägliche Einfangen zahlloser in der Luft schwebender Datenpakete, deren ständiges Sichtbarsein durch ein hanebüchenes Kauderwelsch erklärt wird.

Spaß macht mir nur das Aufspüren der aus dem Vorgänger bekannten und auf wenige Exemplare beschränkten Taschen, denn um die zu finden, muss man nicht nur die Umgebung sehr genau abzusuchen. Mitunter gehören auch ein gutes Auge, Einfallsreichtum und viel Geschick dazu, die gut versteckten Geheimnisse zu erreichen. Da ich das Hervorheben von Rohren und Rampen, die Faith benutzen kann, schnell abgeschaltet habe, musste ich mir die Wege zu solchen Verstecken selbst erarbeiten und das hat richtig Spaß gemacht. Darin liegt für mich der Spielsinn! Nicht im Abklappern irgendwelcher "Klick-mich-ich-bin-rot-Dinge"!

Gut und vor allem erzählerisch sinnvoll ist auch das Stilllegen staatlich kontrollierter Funktürme, die selbstverständlich gut bewacht sind. Die muss Faith also nicht nur finden, sie muss auch etwa eine Hand voll

Die Unterkunft der Runner ist auch Faiths wichtigster Anlaufpunkt.
Polizisten ausschalten. Und dafür wird sie im gesamten Spiel keine einzige Waffe in die Hand nehmen!

Mit Wucht oder Eleganz?

Der Kampf ist abseits der Umgebung der Aspekt, den Dice am stärksten überarbeitet hat und in diesem Fall hat es sich in jeder Hinsicht gelohnt! Denn die Zeiten, in denen Faith einen Wächter entweder per Knopfdruck entwaffnet oder ihn durch plumpes Malträtieren der Angriffstaste vermöbelt, sind vorbei. Stattdessen kombiniert sie Akrobatik und zwei Arten von Angriffen in einem kinetischen Flow. Mit leichten Schlägen setzt sie Gegnern dabei zu oder nimmt ihren Attacken ähnlich wie im Aikido den Schwung. Aus der Bewegung heraus, z.B. einem Sprung, nutzt sie den leichten Angriff außerdem, um das Ziel wie ein Hindernis schnell zu überwinden.

Starke Angriffe sind ebenfalls aus der Bewegung heraus am wirkungsvollsten, denn sie übertragen Faiths Bewegungsenergie in den Schlag oder Tritt, den sie in Abhängigkeit von ihrer Position zum Gegner ausführt. So lange sie in Bewegung ist, ist sie also am stärksten – zumal sie nach einigen Sekunden des ununterbrochenen Laufens, Kletterns und Springens so lange nicht getroffen werden kann, bis ihr Flow unterbrochen wird. Manches war im

Innerhalb der Gebäude geben große farbige Flächen stilvoll den Ton an.
Vorgänger zwar ähnlich, hier funktioniert das nahtlose Aneinanderreihen verschiedener Technikern aber wesentlich besser als damals.

Das alles braucht eine Weile, bis es in Fleisch und Blut übergeht. Passiert das, fühlt es sich großartig an!

Fahrstuhlsurfen

Und dann gibt es echte Höhepunkte auch im Leveldesign, meist abseits der offenen Welt, wenn Faith für verschiedene ihrer befreundeten Runner in Gebäude eindringt – in der Beta meist, um etwas zu stehlen. Ähnlich wie im Vorgänger läuft sie dann an plakativen einfarbigen Mauern vorbei, was die Innenräume auf markante Art von der Außenwelt trennt. Sie sucht sich einen Weg über Büros, Fahrstühle und klettert an verzierten Wänden hohe Lobbys empor.

Es versteht sich von selbst, dass das nicht immer gut geht, ihr bald Polizisten auf den Fersen sind und die Akrobatin durch ständigen Kugelhagel ins Freie flüchten muss – was einigen der besten Momente des Vorgängers in nichts nachsteht! In den ersten Stunden sind das die Höhepunkte ihres zweiten Abenteuer, das keine Fortsetzung ist, sondern die Vorgeschichte dessen erzählt, was sie in Mirror's Edge erleben wird.

Ausblick

Wenn ich an Mirror's Edge zurückdenke, erinnere ich mich an eine Stadt, eine Geschichte, ein einzigartiges Erlebnis – wenn ich an Catalyst denke, dann sehe ich weiße Wände und rote Symbole. Der prägende Eindruck der ersten Stunden ist eine offene Welt, in der man sich artistisch zwar voll entfalten kann, die spielerisch aber wenig mehr bietet als das Abklappern rot markierten Sammelwerks. Würden andere Runner wenigstens über die Dächer sprinten, müsste Faith auf Feinde Acht geben, die nicht nur an festen Punkten Wache schieben... doch so bleibt ein ernüchternder erster Eindruck. Völlig gegensätzlich steht dem allerdings ein Spielgefühl gegenüber, das fast acht Jahre nach seiner Einführung nichts von seiner Faszination verloren hat! Denn obwohl Steuerung und Spielfluss beinahe unverändert aus dem Vorgänger übernommen wurden, ist das freie Bewegen und Klettern ein nach wie vor tolles Erlebnis. Das kommt spätestens dort zum Tragen, wo Faith in Gebäude eindringt und auf unkonventionellen Wegen fremde Büros ausfindig macht. Wird sie entdeckt, ist sie dabei nicht mehr auf starre Reaktionsspiele angewiesen, sondern kämpft sich mit akrobatischer Action an ihren Widersachern vorbei. Selbst wenn Dice kein so großer Wurf gelingen sollte wie mit dem Vorgänger, ist Mirror's Edge Catralyst deshalb das Spiel, dem ich derzeit am stärksten entgegen fiebere!

Einschätzung: gut

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