Vampyr07.05.2018, Marcel Kleffmann

Vorschau: Blutdurst und Moral

In Vampyr (ab 7,60€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) von Dontnod Entertainment (Remember Me und Life is Strange) und Focus Home Interactive sucht ein Vampir nach seinem Schöpfer und wird zugleich mit allerlei moralischen Fragen konfrontiert. Wer hat es verdient als Blutopfer zur Stärkung der eigenen Fähigkeiten verwendet zu werden? Und wem kann man im apokalyptischen London des Jahres 1918 überhaupt trauen? Wir haben das Action-Rollenspiel angespielt …

Ein Vampir in London

Vor dem Hintergrund einer seltsamen Mordserie und einer um sich greifenden Krankheit wacht Dr. Jonathan Reid in den schattenumwobenen Gassen der Großstadt auf. Getrieben von einem wahnsinnigen Durst nach Blut entsteigt er einem Massengrab, packt im Delirium die nächstbeste Frischblutquelle und beißt herzhaft zu. Während das Leben langsam aus dem Opfer weicht, gewinnt Jonathan an Stärke. Allerdings ist er bei seiner Bluttat nicht alleine. Er wird in flagranti erwischt und flieht vor den selbsternannten Vampirjägern quer durch London.

Dr. Reid, der sowohl den Ersten Weltkrieg als auch die Spanische Grippe überlebt hat, versucht nun erstmal einen sicheren Unterschlupf zu finden und macht sich danach auf die Suche nach der Person, die ihn gegen seinen Willen in einen Vampir verwandelt hat.

In den düsteren Gassen von London trifft man auf zwielichtige Gestalten, Amateur-Vampirjäger und andere Kreaturen aus dem Untergrund.
Dazu muss der aus der Verfolgerperspektive (Third-Person-Perspektive) gesteuerte Vampir erstmal Nachforschungen anstellen und dabei hilft die zuschaltbare Schwarz-Weiß-Detektivsicht mit blutroter Hinweisspur ...

Dieses finstere London, das von übernatürlichen Kreaturen, sinisteren Geheimgesellschaften und zwielichtigen Menschen bevölkert wird, war in den ersten beiden Stunden, die ich anspielen konnte (Preview-Version: Februar-Build), der eigentliche Star des Spiels. Die düsteren und nebelumwobenen Gassen der Großstadt versprühten eine enorm dichte und trostlose Stimmung, die gekonnt vom Soundtrack von Olivier Deriviere (Remember Me und Get Even) untermalt wird. Schön ist auch, dass mit London im Jahr 1918 ein ziemlich unverbrauchtes Szenario gewählt wurde. Da fällt es nicht so stark ins Gewicht, dass die Figuren/Kreaturen (Vampire etc.) und ihre Eigenarten weitgehend bekannt sind - und nein, Vampire glänzen nicht im Sonnenlicht.

Menschliche Abgründe

Nach dem weitgehend linearen Auftakt bzw. dem Tutorial öffnet sich Stück für Stück die in mehrere Distrikte unterteilte semi-offene Spielwelt.

Töten oder Verschonen? Welche Charaktere man aussaugt, bleibt dem Spieler überlassen. Konsequenzen soll es reichlich geben ...
Auf die Suche nach seinem mysteriösen "Vampirvater" nimmt er als Tarnung einen Job in einem Krankenhaus an und beginnt Informationen zusammenzutragen. Hierzu interagiert er mit zahlreichen Charakteren, die in dieser fast schon apokalyptischen Welt ihr Dasein fristen. In schick inszenierten Dialogsequenzen, in denen sich sogar die Kamera bewegen lässt, sucht der Vampir nach Hinweisen, Hintergründen, menschlichen Abgründen und praktischen Informationen, um andere Personen zu überreden oder gegeneinander ausspielen zu können.

Die bisher mitgehörten Gespräche waren durchweg interessant, gut geschrieben und verleiteten mich nicht dazu, sie einfach durchzuklicken, um schnell weiterzukommen - ganz im Gegenteil. Und natürlich darf man in den Dialogsequenzen zwischen mehreren Antwortmöglichkeiten auswählen. Obgleich der englische Sprecher von Dr. Reid positiv im Gedächtnis hängen blieb, fehlte es vielen Gesprächspartnern an überzeugenden Animationen (Mimik). Ob die Entwickler dieses Manko bis zur Veröffentlichung am 5. Juni 2018 noch aus der Welt schaffen können, bleibt abzuwarten.

Ein übernatürlicher Kämpfer

Im Zuge seiner Nachforschungen trifft Dr. Vampir auf allerlei Gestalten, die sich (in Echtzeit) bekämpfen lassen, was ein bisschen an Dark Souls oder ELEX erinnert. Wenn es zum Kampf kommt, wird es blutig, wobei man auf drei Statusleisten achten muss: Gesundheit, Stamina und Blut.

Während die Gesundheitspunkte relativ selbsterklärend sind, braucht man Stamina zum Ausweichen, Sprinten und um im Nahkampf angreifen zu können. Stamina regeneriert sich langsam im Kampf. Blut wird als Ressource für die übermenschlichen Vampirfähigkeiten (zum Beispiel Blutstacheln oder Teleportation) und zur Selbstheilung benötigt. Der Blutpegel lässt sich praktischerweise direkt im Kampf auffüllen, in dem man zum Beispiel einen Gegner mit der Sekundärwaffe betäubt und dann kurz in den Hals beißt. Dieser "Zwischensnack" tötet den Gegner in der Regel nicht - und wenn zwischendurch kein Blutspender zu finden ist, kann eine Ratte ausgesaugt werden; zumal der Spieler ohnehin moralische Entscheidungen treffen soll.

Trotz des Nahkampffokus wird Dr. Reid auch Fernkampfwaffen einsetzen können. Die Gegner setzen ebenfalls auf Attacken aus der Entfernung.

Ansonsten kann man mit unterschiedlichen Primärwaffen im Nahkampf um sich schlagen, was bei mehreren Gegnern, die oftmals über Fernkampf-Fertigkeiten verfügen, gar nicht ohne ist. In der angespielten Version fühlten sich die Kämpfe noch etwas hakelig und nicht so richtig rund an, aber besser als bei ELEX. Die Wucht und die Stärke der Vampirfertigkeiten haben die Entwickler gut eingefangen, wobei einige schnelle und mächtige Fähigkeiten nicht so recht in das Szenario passen wollen, weil sie etwas zu abgehoben wirkten.

Zubeißen oder nicht?

Seine Vampirfähigkeiten erlernt und verbessert Dr. Jonathan Reid, wenn er Blut von Menschen in London trinkt und sie dadurch umbringt. Je mehr Informationen und Hintergründe man über die einzelnen Personen herausgefunden hat bzw. je näher man einer Person stand und vielleicht sogar ihr Vertrauen erlangt hatte, desto mehr Erfahrungspunkte erhält man durch das Bluttrinken. Hieran schließen sich mehr und mehr moralische Fragen an, ob diese Person zum Beispiel den Tod aufgrund ihrer Taten in der Vergangenheit "eher verdient hätte" als ein anderes potenzielles Opfer.

Mit den übernatürlichen Vampirfähigkeiten lassen sich manche Gegner schnell aus dem Verkehr ziehen, allerdings kostet der Einsatz "Blut".
Die Tode von Menschen aus London haben außerdem einen direkten Einfluss auf ihren Distrikt/Stadtteil, in dem sie lebten. Schaltet man zu viele Personen aus, gewinnt man zwar enorm an Stärke, es könnte aber sein, dass ein Stadtteil im Chaos versinkt oder sich eine Krankheit dort weiter ausbreitet. Wie stark diese Konsequenzen letztendlich ausfallen, bleibt abzuwarten.

Mit den Erfahrungspunkten und den Stufenaufstiegen kann man seine Fertigkeiten in den Bereichen Defensive, Offensive, Körper, Blut, Beißen, Wissenschaft etc. weiterentwickeln, wobei jeder aufgeführte Unterpunkt über einen eigenen kleinen Skilltree verfügt. Zu den Fertigkeiten gehört zum Beispiel "Koagulation" als eine Art kurzzeitige Betäubung. Laut den Entwicklern soll es möglich sein, das Spiel abschließen zu können, ohne eine Person (außer den Tutorial-Leuten) zu töten, aber die vampirischen Fertigkeiten sollen zugleich eine "Verlockung" darstellen, der man widerstehen kann oder nicht.

Waffen, Heilmittel und Serum

Ein Crafting-System darf auch in Vampyr nicht fehlen. Mit gefundenen Gegenständen können zum Beispiel die Waffen aufgewertet oder verbessert werden, was zwingend notwendig ist, da manche Feinde über bestimmte Widerstände verfügen (Nahkampf, Fernkampf, Blut, Schatten). Des Weiteren kann man in seinem Labor im Hinterzimmer des Krankenhauses mit gesammelten Serumproben experimentieren, um sich selbst (kurzfristig) zu stärken oder medizinische Güter für die Bevölkerung herzustellen. Letzteres hilft gegen die Krankheit in London und gegen den steigenden Chaospegel. Im Labor können zusätzlich Blutproben von anderen Kreaturen oder besonderen Vampirformen untersuchen werden, die in London ihr Unwesen treiben.

Ausblick

Die ersten zwei Stunden als Vampir in London haben mir schon sehr zugesagt. Die mindestens so düstere wie originelle Kulisse und die moralischen Zwickmühlen wirkten in der angespielten Anfangsphase packend und einmalig, zumal die Dialoge weitgehend gut geschrieben und ansehnlich inszeniert waren. Trotz erstklassigem Sprecher des Hauptcharakters gibt es bei den Gesichtsanimationen aber Abzüge in der B-Note. Einen guten, jedoch nicht überragenden Eindruck hinterließen die Kämpfe, die sich noch nicht so richtig rund anfühlten und aufgrund der übermenschlichen Vampirfähigkeiten nicht so gut in das geerdete Szenario passen wollten, was sich im weiteren Verlauf der Geschichte noch ändern könnte. Gespannt bin ich jedenfalls auf die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten des Vampirs und die sich daraus ergebenden Spielstile. Außerdem müssen die Entwickler noch unter Beweis stellen, dass die ganzen unterschiedlichen Spielsysteme rund um die Einwohner, die Entscheidungen und die Auswirkungen auf die Distrikte nicht nur oberflächlich sind, sondern relevant und spannend bleiben. Doch trotz gewisser Bedenken freue ich mich schon auf den nächsten Abstecher in die finsteren Gassen von London und in die menschlichen Abgründe...

Einschätzung: gut

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