Deus Ex: Human Revolution10.05.2011, Benjamin Schmädig
Deus Ex: Human Revolution

Vorschau:

Wer ist Adam Jensen? Eine sanfte Stimme begrüßt mich, als ich sein Appartement betrete: "Willkommen zurück, Adam." Dunkle Wände, aufwändiger Stuck, Bücher, ein großer Flachbildschirm. Die Jalousien fahren automatisch nach oben, als ich in das große Zimmer trete. Mattes Licht bricht durch die Lamellen in den fahlen Dunst. Die Wohnung wirkt beinahe pragmatisch leer. Umzugskisten stehen in den Ecken, vor dem Tisch, selbst in der Küche. Im Bad hängt der einzige Spiegel - aber in dem zerbrochenen Glas kann ich nichts erkennen. Wer ist dieser Adam Jensen?

Deus Ex, die Dritte

Als wir Deus Ex: Human Revolution (ab 6,61€ bei kaufen) vor einem knappen Jahr nur gesehen hatten, war uns das bereits eine Vorschau wert. Damals konnten wir allerdings nur hoffen, dass der Science-Fiction-Thriller auch halten wird, was Square Enix vollmundig versprach. Anfang dieses Jahres durften wir das Spiel schließlich zum ersten Mal selbst erleben - doch wozu heute schon die dritte Vorschau? Weil wir zuletzt noch in den begrenzten ersten Abschnitten unterwegs waren, das große Ganze aber noch nicht überschauen konnten. Denn Deus Ex ist viel mehr als aneinander gereihte Levels. Es ist ein Rollenspiel in einer offenen Welt.

Nein, mit offener Welt sind nicht die gigantischen Spielwiesen eines Fallout 3 oder Grand Theft Auto gemeint. Vielmehr besteht die nahe Zukunft des Jahres 2070 aus Arealen mit dem Ausmaß großer Stadtviertel. "Offen" bedeutet für ein Deus Ex-Spiel nicht das Auseinanderziehen geografischer Grenzen, sondern das Erweitern der spielerischen Möglichkeiten. Detroit ist der erste Schauplatz, an dem Adam Jensen operiert und diesmal konnten wir alles sehen, was er dort erlebt.

Wütende Bürger

Adam ist Sicherheitschef eines Konzerns, der künstliche Gliedmaßen entwickelt und verkauft. Nach einem Überfall wurde er selbst mit künstlichen Armen, Beinen, Augen sowie anderen Organen ausgestattet - nicht nur, weil seine Freundin bei diesem Überfall ums Leben kam, hadert er deshalb seit diesem Tag mit seinem Schicksal. Dank der künstlichen Körperteile ist Jensen effektiver im Kampf: Er kann mehr Schaden einstecken, tödliche Klingen ausfahren, durch Wände sehen, sich unsichtbar machen oder stark gesicherte Computer hacken. Wie er sich diese Fähigkeiten schon im ersten Einsatz zunutze macht, beschreibt unsere vorherige Vorschau. Doch was erwartet ihn, wenn er sich endlich frei in der offenen Welt bewegen darf?

Warum darf Jensen nicht die gesamte Metropole, sondern nur einen kleinen Teil erkunden? Es sind Proteste gegen den Fortschritt der Biomechanik, die einen Teil der Bevölkerung so sehr in Aufruhr versetzen, dass die Polizei ganze Stadtteile abriegeln muss. Proteste? Sind die so genannten Augmentations nicht ein Fortschritt, mit dem körperlich Benachteiligte ihre volle Bewegungsfreiheit zurückerlangen? Natürlich! Augmentations gehen allerdings weit über den Ersatz verlorener Körperteile hinaus, denn sie machen den Menschen stärker und widerstandsfähiger. Sie machen aus ihm eine Art Maschine. "Warum hast du das getan? Du warst wunderschön, so wie du warst!", sagen einige Passanten, wenn Adam sie anspricht. Sie fürchten, dass die Menschheit von ihrem natürlichen Weg abkommt - Gegenbewegungen wie "Purity First" gewinnen immer mehr Anhänger.

Die Gesellschaft ist gespalten, die ersten nanotechnischen Erweiterungen sind längst in Planung. Serienkenner werden oft aufhorchen, wenn sie Gespräche belauschen, Zeitungen lesen, digitale Notizbücher studieren oder in fremden E-Mails stöbern. Namen wie Manderley tauchen dort auf, im Radio läuft Musik aus den Vorgängern. Im Spiel habe ich Artikel zur Geschichte der Augmentations gelesen, ich kenne die Zukunftsvisionen ihrer Macher und die Ängste, die sie beschwören. Alle Informationen, die er aufnimmt, werden in Jensens Datenbank gespeichert. Genau wie in den Vorgängern wird das Puzzle Deus Ex dabei immer größer, je aufmerksamer man es betrachtet. Es ist kein Krimi, der in packenden Filmszenen vorangetrieben wird. Wichtige Ereignisse werden natürlich entsprechend inszeniert, ein Großteil der Welt öffnet sich aber für den, der sie wie einen Beweisgegenstand "anfasst" und sorgfältig in der Hand wiegt. Für den, der in den Spiegel schaut.

Strahlender Schmutz

Adams direkter Draht zur Story sind die Funksprüche seines Auftraggebers Sarif; immerhin flaniert Jensen nicht zum Vergnügen durch Detroit. Er ist Eindringlingen auf der Spur, die in Sarfis Fabrik eingedrungen sind. Ohne die Handlung vorweg zu nehmen:

Von hoch oben blickt Adam aus seinem Appartement über das futuristische Detroit.
Von hoch oben blickt Adam aus seinem Appartement über das futuristische Detroit.
Adam soll Beweise sichern, die sich in einer Polizeistation befinden. Hätte ich alleine das gewollt, wäre ich also schnurstracks in die Polizeistation gerannt, hätte einen ehemaligen Partner am Empfang überredet und wäre so fast mühelos an die Beweise gekommen.

Doch ich konnte nicht rennen. Denn als ich das Hauptquartier von Sarif Industries zum ersten Mal verließ, habe ich minutenlang jeden langsamen Schritt mit vollen Zügen genossen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Human Revolution setzt keine technischen Maßstäbe. Sein futuristisches Detroit verbindet allerdings die Eleganz einer Star Trek-Zukunft so nahtlos mit einer schmutzigen Bodenständigkeit, dass Syd Mead anerkennend applaudieren dürfte. Hundert Jahre alte Gebäude drängen sich zwischen kaltem Glas, Nebelschwaden ziehen aus der Kanalisation, Punks tummeln sich vor Backsteinmauern, matte Leuchtreklame wirbt auf breiten Tafeln und alle paar Minuten kriecht die Hochbahn an einem dicken Pfahl durch enge Gassen. Ich bin mit Leib und Seele Science-Fiction-Fan – und in Human Revolution fühle ich mich wie Zuhause!

Ein modernes Gemälde

Ein wenig wirkt Detroit aber auch wie ein Stillleben, wie ein modernes Gemälde. Weil es so edel scheint? Leider nicht. Vielmehr fällt spätestens beim dritten Betreten einer Gasse oder Straße auf, dass sich die Figuren kaum vom Fleck bewegen. Mag sein, dass ein Punk mal zum Pinkeln an die Ecke schlurft oder eine Streife ihre Runde absteckt. Von solchen Kleinigkeiten abgesehen, wirken die Charaktere aber ungewöhnlich leblos. Selbst nach 20 Stunden besprühte ein Sprayer ein und dieselbe Stelle derselben Wand. An einer anderen Stelle hört man stets denselben Schrei. Ich habe heimlich gelauscht, wie sich ein Ehepaar hinter verschlossener Wohnungstür stritt, viele Passanten unterhalten sich und einige haben ein Wort für Adam übrig - das sind stimmungsvolle Höhepunkte! Zeitgemäß wirken die Figuren trotzdem nicht.

Es gibt allerdings Charaktere, die eine Rolle spielen und dabei umso einprägsamer in Erscheinung treten. Zur Erinnerung: Am Ende der letzten Vorschau konnte Adam den Geiselnehmer Sanders erschießen, ihn gehen lassen oder er musste miterleben, wie der Terrorist die Geisel erschoss. Falls es ihm gelang, den Mann zur Zusammenarbeit zu überreden, versprach Sanders zusätzliche Informationen. Und tatsächlich: Noch in Detroit vereinbart er ein geheimes Treffen. Überhaupt zeigt Jensen vor allem in Gesprächen seine Persönlichkeit - eine Persönlichkeit, die ich in seinen Antworten zum Ausdruck bringe. Tritt er unnachgiebig, verständnisvoll oder mitfühlend auf? Ich habe fast immer die Wahl, wie ich einem anderen Menschen begegne oder wie sich Adam zu einem Thema äußert.

Selbstverständlich begegnet Jensen

Jensen kann die Stadt auch auf brachiale Art erkunden - muss er aber nicht.
Jensen kann die Stadt auch auf brachiale Art erkunden - muss er aber nicht.
in Detroit noch weiteren Personen: Die Mutter seiner getöteten Freundin vermutet z.B. Vertuschung bei der Aufklärung des Mordes und eine ehemalige Kollegin bittet Jensen um Hilfe. Die zusätzlichen Missionen sind viel mehr als einfache Bringdienste für das Sammeln von Erfahrungspunkten. Der Freundschaftsdienst für die Kollegin besteht etwa aus verschiedenen Aufgaben, einem Bonusziel und geht nach Abschluss des Gefallens sogar weiter - falls man will. Und jederzeit gilt: Mit welchen Mitteln und auf welchem Weg Adam sein Ziel erreicht, bleibt immer dem Spieler überlassen.

Unangenehme Entdeckungen

So könnte ich durch die Kanalisation in die Polizeistation eindringen, eine Tür im Hinterhof hacken, durch einen Lüftungsschacht schlüpfen, den Ex-Partner am Empfang um Einlass bitten oder mit vorgehaltener Waffe den Terminator geben. Die Stadt ist so groß, dass dabei nicht nur das Zielgebäude eine Rolle spielt, sondern die gesamte Umgebung. Mit entsprechenden Verbesserungen seiner Prothesen kann Adam etwa von gegenüberliegenden Häusern Balkone erreichen. Er kann auch jederzeit in fremde Wohnungen einbrechen, wo er meist Geld und Waffen findet, aber auch manch unangenehme Entdeckung macht. Eine Ungereimtheit stach mir allerdings ins Auge, nachdem Adam die benötigten Beweise aus der polizeilichen Asservatenkammer entwendet hatte: Weil die Mission bereits abgeschlossen war, durfte ich nicht mit dem ehemaligen Partner am Empfang plaudern.

Übrigens

Unser ausführliches Interview mit dem Game Director findet ihr unter diesem Link. Ich hatte es zuvor gar nicht erst versucht - aller Logik nach sollte das trotzdem noch möglich sein.

Ein Wort noch zum Hacken: Der Mechanismus, mit dem sich Adam Zugang zu fremden Computern verschafft, ist ein äußerst gelungenes Minispiel! Ziel ist es, über mehrere Knotenpunkte den Ausgangspunkt zu erreichen. Wählt man einen solchen Punkt an, aktiviert man aber mit unterschiedlich hoher Wahrscheinlichkeit das Warnsystem und sobald das Adams Eintrittspunkt entdeckt, löst es Alarm aus. Entwickelt Jensen die richtigen Fähigkeiten, senkt er natürlich die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden. Außerdem kann er jeden Knoten sichern, so dass die elektronische Sicherheit länger braucht, um den geschützten Punkt einzunehmen. Ob er sich jemals so sicher fühlen kann, auch Bonuspunkte einzunehmen, um zusätzliche Erfahrungspunkte oder Geld einzunehmen?

Wer ist Adam Jensen?

Mein Agent kann es. Ganz ehrlich: Mein Jensen ist ein Hacker vor dem Herrn! Ich habe jeden Punkt in die Entwicklung der damit verbundenen Fertigkeiten gesteckt und inzwischen öffnet er selbst schwer geschützte Türen mit einem Handstreich. Weil ich ohnehin auf leisen Pfoten und mit sehr viel Ruhe feindliches Gebiet infiltriere, konnte ich auf effektive Nahkampftechniken oder eine höhere Zielgenauigkeit verzichten. Eine ruhige Hand, das Betäubungsgewehr und das richtige Timing für KO-Schläge haben Adam weit gebracht. Ich habe es auch anders versucht - indem ich etwa aus großer Höhe lautlos hinter meine Gegner gesprungen bin oder gleich zwei Wachen brutal ermordet habe. Aber nur als cleverer Hacker kann ich endlich wieder eine meiner still gehegten Personas verwirklichen.

Praxis heißen die Punkte, mit denen Adam seine Fähigkeiten ausbildet. Einen Praxispunkt erhält er dabei mit einer bestimmten Menge an Erfahrungspunkten und die gibt es wiederum für nahezu jede erfolgreiche Aktion. So fühlt man sich immer geschätzt, ist stets motiviert und behält beim Zuweisen von Fähigkeiten trotzdem die Übersicht.

Die Besonderheiten der PC-Version

Es gibt nicht nur technische Besonderheiten wie die Unterstützung von bis zu fünf Bildschirmen oder Stereoskopie - auch die Steuerung wird auf die Bedürfnisse von Maus und Tastaur eingestellt sein. U.a. gibt es wie im ersten Deus Ex eine Menüleiste, in der der Inventar-Objekte für den schnellen Zugriff abgelegt werden können.

Abgesehen davon ist das Hacken per Maus komfortabler und Türcodes können bei Bedarf mit dem Zahlenfeld der Tastatur eingegeben werden.

Selbstverständlich ist Human Revolution aber wie auf Konsole auch mit Gamepad spielbar. Waffen, Munition sowie Ausrüstung kauft man hingegen für bare Münze von Händlern, die allerdings recht überschaubare Vorräte zur Verfügung haben. Einer der Händler hat sich in einer heruntergekommenen Tankstelle mitten in Detroit eingerichtet, ein anderer steht vor den Fabrikhallen, in die Jensen zum Ende der Vorschau-Version eindringen muss - wie praktisch.

Mit List und Spucke

Es ist ein gewaltiger Komplex, durch den Adam dort schleicht oder schießt und Kenner horchen auf: Die Anlagen gehören der FEMA. Doch was hat die staatliche Institution mit den geheimnisvollen Geschehnissen vor Ort zu tun? Baut die Organisation eine Armee riesiger Roboter? Immerhin verdichteten sich schon in Detroit die Hinweise auf eine Verschwörung, die noch viel größere Kreise ziehen wird. Einen der spinnenähnlichen Roboter habe ich übrigens erst umgangen, um ihn dann aus reiner Neugier doch mit Raketenwerfer und EMP-Granate in alle Einzelteile zu zerlegen. Schön, dass das auch für einen Schleicher ohne Weiteres möglich ist. Wie hätte ich denn wissen sollen, dass ich den Raketenwerfer nicht wegwerfen sollte...

Denn für das Finale der Vorschau musste ich es mit einem schwer gepanzerten Gegner aufnehmen - keine leichte Aufgabe für meinen Agenten, der niemals für den Kampf trainiert hat. Hacken kann man den Bossgegner jedenfalls nicht, im Nahkampf ist er hoffnungslos überlegen und ein paar Sekunden Unsichtbarkeit halten einen Titan wie diesen kaum auf. Umso erfreuter war ich, dass der Kampf viel mehr ist als eine Schießbuden-Übung. Grüßt hier etwa ein Metal Gear Solid? So fühlte es sich jedenfalls an, als ich den Widersacher mit viel Geduld und ein wenig List nach einem langen Kampf tatsächlich überwältigt hatte. Es war der einzige Feind, den ich bis dahin umbringen musste: Bis auf die großen Gefechte kann Adam jede Wache am Leben lassen. Mein Adam Jensen ist ein heimtückischer, aber kein gewalttätiger Mann. Es ist mein Adam Jensen!

Ausblick

Die Vorschau soll etwa ein Viertel bis ein Drittel des gesamten Spiels umfassen; sechs bis zehn Spielstunden sollte sie laut Square Enix dauern - nach 24 Stunden hatte ich alles erkundet, gesehen und erledigt. Human Revolution ist ein großes Spiel! Wer will, erlebt es als geradlinigen Shooter. Wer will, erforscht eine offene Welt, die spielerisch von der eigenen Vorstellungskraft getragen wird. Deus Ex lebt nicht von Filmszenen oder krachenden Bleiwechseln. Es erzählt seine Geschichte in tausend Zeitungsartikeln, Gesprächen, Nachrichtensendungen, E-Mails und leisen Zeitzeugen wie einem zerbrochenen Spiegel. Man darf sie nach Belieben ignorieren oder in das große Mosaik "Spielwelt" einfügen. Wo sich andere Abenteuer mit geschorenen, leblosen Kalksäulen lächerlich machen, öffnet Deus Ex die Tür in das Oberstübchen eines markanten Charakters, den man umso mehr nach seinen eigenen Vorstellungen formen darf - durch die beliebige Entwicklung seiner Fähigkeiten, durch die offene Spielweise und durch das frei wählbare Auftreten in Gesprächen mit anderen Figuren. Wenn man Human Revolution neben der lediglich soliden Technik etwas vorwerfen will, dann dass es wenig neu erfindet. Sowohl Rollenspieler als auch Veteranen der Vorgänger kennen viele der spielerischen Möglichkeiten. Und im Vergleich zu schwergewichtigen Kalibern wie Fallout 3 stehen manche Figuren wie leblose Statisten am Straßenrand. Dennoch:  Die überall präsente Vielfalt der Vorgehensweisen und die Konsequenz, mit der es einen cleveren Kopf belohnt, werden das neue Deus Ex auszeichnen. Natürlich liegen noch mindestens zwei Drittel des Verschwörungsthrillers vor mir; das Kapitel Human Revolution hat gerade erst begonnen! Aber ganz ehrlich: Was soll jetzt noch schiefgehen?

Ersteindruck: ausgezeichnet

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