First Strike14.03.2014, Jörg Luibl

Im Test: Atomkrieg für Fingerakrobaten

Dass die Ukraine keine Atomwaffen hat, dürfte nicht nur Putin, sondern auch den Rest der Welt besser schlafen lassen. So huscht die nukleare Katastrophe wie ein Gespenst aus alten Zeiten umher. Wer dem Schrecken nachjagen und dabei spielerisch erfahren möchte, welche Zerstörungskraft auch heute noch in den Arsenalen der Super- und Schurkenmächte lauert, sollte den roten Knopf von First Strike drücken. Aber Vorsicht, es wird gnadenlos zurückgebombt.

Das Gespenst des Kalten Krieges

Man fühlt sich fast wie anno dazumal in Missile Command, wenn einem zig Raketen in First Strike auf dem iPad oder einem Android-Tablet um die Ohren fliegen. Als der Klassiker von Atari 1980 erschien, war der Kalte Krieg noch in vollem Gange, Amerika und Russland bedrohten sich und die ganze Welt mit Atomwaffen jenseits explosiver Vorstellungskraft. Vielleicht lag es auch an dieser Angst, dass man nur mit Geschick und Timing verteidigen durfte, was einem vom Himmel herab an Raketen drohte. Schließlich wurden selbst harmlose Spiele wie „River Raid“ damals indiziert.

Die Zeiten haben sich geändert. In First Strike der Blindflug Studios aus Zürich greift man mit Atomwaffen an, bis nur noch eine Nation auf dem Erdball übrig ist. Falls das schlechte Gewissen nagt: Ein Viertel des Erlöses spenden die Schweizer  an Anti-Atomkraft-Organisationen. Man muss in diesem Spiel zwar auch verteidigen, aber man ist in erster Linie selbst der Aggressor und bekommt nach erfolgreichen Einschlägen mitgeteilt, dass in Paris oder London gerade zehn Millionen Menschen gestorben sind. Ähnlich wie in Defcon oder Plague spielen die Entwickler nicht nur mit Hand, Auge und Taktik, sondern bewusst mit dem Makabren. Und wenn man an die Krise in der Ukraine denkt, sieht man das atomare Gespenst mit einem bösen Grinsen an der Couch vorbei huschen...

Kim Jong-un hat‘s schwer

Da kracht es weltweit: Irgendwann fliegen einem die Sprenköpfe nur so um die Ohren.

Wenn es endlich weg ist, macht das Spiel richtig Laune. Zwar holt es technisch nicht viel an explosiver Wucht aus dem iPad heraus und verpasst vielleicht die Chance, den Schrecken auch grafisch noch deutlicher zu machen. Aber das Artdesign versprüht durchaus Charme, man dreht und zoomt den bedrohten Erdball intuitiv, während man erst ruhig, dann immer angespannter seine Raketen, Expansion und Forschung koordiniert. Ziel ist es, den Atomkrieg zwischen zunächst zwei bis drei Fraktionen zu überleben, die gleichzeitig den Schwierigkeitsgrad symbolisieren: USA (leicht), Westeuropa (mittel), Nordkorea (schwer). Egal für wen man sich entscheidet: Man hat immer die anderen als Gegner. Und wer sich für Europa entscheidet, wird ordentlich gefordert.

First Strike ist keine Fire&Forget-Orgie, in der ich so schnell wie möglich alles an Zerstörungspotenzial auf Zielkurs schicke. Das Spiel bietet zwar auch angenehme Echtzeithektik, weil man vieles gleichzeitig tun muss, aber es lebt von der Taktik und der Spannung der Verwundbarkeit. Man kann nämlich pro Nation nur eine Aktion auslösen, die dann ihre Zeit braucht. In dieser Phase kann sich dieses Land z.B. nicht selbst verteidigen, angreifen oder forschen und man muss hilflos zuschauen, falls feindliche Raketen einschlagen.

Last Nation Standing

Es sei denn, man hat noch eine Nation in der Nachbarschaft frei, die das Abfangkommando dank überlappender Reichweite mit ihren Cruise Missiles starten kann. Das Abwehren erinnert ein wenig an den Klassiker Missile Command (1980), verlangt aber kein Timing, was die Richtung angeht: Man wählt Defense und automatisch jagt eine Rakete los. Aber was, wenn da sechs, sieben heranrauschen? Hat man sechs, sieben Nationen mit freier Aktion in der Hinterhand?

Wer clever forscht, kann Reichweiten erhöhen, Eroberungen beschleunigen und bessere Raketen abfeuern.
Man muss also einerseits einen defensiven Schirm in Reserve halten, andererseits offensiv werden, sonst werden die beiden KI-Gegner immer stärker. Drei Raketentypen mit unterschiedlichen Reichweiten und Bauzeiten stehen zur Verfügung – man kann also nicht einfach von Norwegen aus Nordkorea attackieren. Wie weit man kommt, erkennt man an den konzentrischen Kreisen, die den Erdball umgeben. Dann tippt man auf ein Ziel und lässt die Raketen fliegen. Normalerweise muss man eine Nation antippen, um dann einmal zu feuern.

Der gefährliche Erstschlag

Hat man aber mehr als neun Raketen in seinem Reich zur Verfügung, darf man den verheerenden „First Strike“ einleiten und die geballte Feuerkraft mehrerer Nationen auf ein Ziel konzentrieren. Dieser Erstschlag kann allerdings gekontert werden und öffnet die

Wer einen "First Strike" befiehlt, feuert zig Raketen auf ein Ziel - da bleibt nicht viel übrig.

eigene Verteidigung. Etwas unglücklich ist, dass man einmal getroffene Gebiet einfach wieder erobern kann – sie sind also nicht komplett zerstört. Zwar dauert die Rückeroberung recht lange, aber so kann sich das Ganze recht zäh spielen. Vor allem die ersten Durchläufe mit Europa können sich lang hinziehen.

Aber es kommt ja noch die territoriale Expansion ins Spiel, die etwas Risikoflair aufkommen lässt und zwei Vorteile bringt: Je mehr Nationen man hat, desto mehr gleichzeitige Aktionen kann man natürlich durchführen. Um ein Land zu erobern tippt man es einfach von der Zielnation aus an – der Einmarsch kostet natürlich auch Zeit. Außerdem kann man sich natürlich mehr atomare Verluste erlauben, weil man noch mehr  unversehrte Gebiete hat. Die zeitaufwändige Forschung sorgt schließlich dafür, dass man First Strike mit ganz unterschiedlichen Taktiken spielen kann.  Man kann nicht nur Anzahl, Kraft und Reichweite der drei Raketentypen entwickeln, sondern auch Bauzeiten beschleunigen oder den Nebel des Krieges lüften. Es gibt übrigens keine nervigen In-App-Purchases, sondern motivierende Freischaltungen nach Spielende wie z.B. weitere Kräfte und weitere Gegner, so dass man letztlich auf elf wählbare Nationen kommt.

Fazit

First Strike spielt sich wie ein Missile Command der Neuzeit: Man dreht und zoomt den Erdball, während einem feindliche Raketen um die Ohren fliegen und eigene zum Abschuss freigegeben werden. Aber Vorsicht: Das ist keine Fire&Forget-Orgie für den schnellen Fingertipper, sondern ein anspruchsvolles Spiel, in dem man vieles gleichzeitig entscheiden und eine  Balance zwischen nuklearer Defensive und Offensive finden muss. Zwar kann sich das mitunter recht zäh spielen, wenn ein Gleichgewicht der Kräfte entsteht, aber First Strike hat mit der Forschung sowie territorialen Expansion noch zwei Joker anzubieten, mit denen man sich spezialisieren und den Sieg beschleunigen kann. Dabei setzen die Schweizer Entwickler ähnlich wie schon Defcon oder Plague auf das Makabre. Man tanzt mit der Vernichtung der eigenen Spezies, so dass einem so mancher „Erfolg“ im Halse stecken bleibt - zumal die Realität wie ein Gespenst mit auf der Couch sitzt: Hätte die Ukraine ihre Atomwaffen 1994 nicht an Russland übergeben, müsste man sich mit dem virtuellen Erstschlag und seinen 3,69 Euro vielleicht beeilen.

Pro

gelungenes Artdesign
anspruchvolles Spielprinzip
gute Balance aus Defensive & Offensive
Forschung zur Spezialisierung
territoriale Expansion sorgt für Risiko-Flair
kein In-App-Unsinn

Kontra

es kann zäh werden (nukleares Patt)
technisch nur solide Effekte
lediglich ein Spielmodus
keine deutschen Texte
kein Multiplayer

Wertung

iPad

Makaber, aber unterhaltsam: First Strike spielt sich wie ein anspruchsvolles Missile Command.

Android

Makaber, aber unterhaltsam: First Strike spielt sich wie ein anspruchsvolles Missile Command.

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