Legacy of Kain: Soul Reaver03.07.2018, Jörg Luibl

Special: Vampir-Dämmerung

Im August 1999 sorgte Legacy of Kain: Soul Reaver (ab 0,97€ bei kaufen) für Begeisterung. In der Spätphase der ersten PlayStation inszenierte das Team von Crystal Dynamics, das ein Jahr zuvor von Eidos gekauft wurde, ein außergewöhnlich stimmungsvolles Abenteuer rund um einen Vampir names Raziel. Warum dieser Blutsauger zu den interessantesten Helden der Videospielgeschichte gehört und weshalb dieses meisterhaft erzählte Action-Adventure so faszinierte, verraten wir im Rückblick.

Das vampirische Erbe

Offiziell handelte es sich bei diesem Soul Reaver zwar um einen Nachfolger: Die Geschichte von Raziel beginnt 1500 Jahre nach den Ereignissen aus Blood Omen, das drei Jahre zuvor für PlayStation erschien. Aus diesem Spiel stammte auch der immer noch aktive vampirische Anführer Kain sowie die Konzeption einer düsteren Welt, in der die Menschen nahezu ausgerottet wurden. Allerdings hatten sich das Spieldesign und das Team komplett geändert: Während man als Kain noch in klassischer Draufsicht zweideimensional metzelnd unterwegs war, erlebte man dieses  Abenteuer als sein verbannter Sohn Raziel in der modernen Schulterperspektive in 3D - und zwar mit einem komplett anderen Spielgefühl, bei dem der Wechsel zwischen den Welten sowie eine unheimlich gut erzählte Geschichte im Vordergrund stand. Zunächst wollte man daraus übrigens ein komplett eigenständiges Abenteuer namens "Shifter" machen...

Bis Raziel die legendäre Klinge "Soul Reaver" führen konnte, musste er mit Klauen, Fackeln und anderen Waffen kämpfen.

...aber Crystal Dynamics blieb der von Silicon Knights etablierten Vampirwelt von Nosgoth treu. Nur führte nicht mehr Denis Dyack (u.a. Eternal Darkness) die Regie, mit dessen Studio man sich nach Blood Omen aufgrund der Rechte heftig verkrachte, sondern die 1964 geborene Amie Hennig, die bis dahin eher unbekannt war. Sie erwarb in Kalifornien einen Bachelor in englischer Literatur, aber zu NES-Zeiten und später bei EA war sie eher im Bereich Grafik und Animation aktiv, u.a. an Desert Strike und Michael Jordan: Chaos in the Windy City. Auch bei Blood Omen half sie künstlerisch mit - und sie scheint Eindruck hinterlassen zu haben.

Denn drei Jahre später übernahm sie sowohl die komplette Story als auch das Spieldesign. Und ihr gelang, lange vor der von ihr konzipierten Uncharted-Reihe, ihr erstes Meisterwerk. Sie etablierte mit Raziel nicht nur einen tragischen Helden, mit dem man sich sehr gut identifizieren konnte - und der außergewöhnlich markant von Michael Bell gesprochen wurde. Sie inszenierte auch eine epische, tiefgründig konzipierte Rachegeschichte zwischen Vater und Sohn, die so einige tolle philosophische Dispute sowie inhaltliche Überraschungen bot. Wer sich für die Vampire interessierte, wurde hier nicht mit einer kitschigen Gut-Böse-Story abserviert, sondern auf einem Niveau unterhalten, das erst viele Jahre später in Vampire: Die Maskerade - Bloodlines (2004) wieder in Ansätzen erreicht wurde. Schon das zweiminütige Intro sorgte für Gänsehaut!

Dieses auf das wesentliche reduzierte 3D-Abenteuer sah auf der ersten PlayStation nicht nur klasse aus, sondern hörte sich auch hervorragend an: Der Soundtrack von Greg Shaw, Kurt Harland und Jim Hedges ist übrigens hier erhältlich . Er verstärkte diese melancholische Monumentalität und erzählerische Rätselhaftigkeit, die in meinen Erinnerungen sehr lange nachhallte - aus heutiger Sicht finde ich dort einige Ähnlichkeiten zu ICO (2006) und Dark Souls (2010); nicht nur hinsichtlich der Wirkung der Spielwelt. Soul Reaver nahm so einiges an Faszination und Spieldesign-Weisheit vorweg.

Der geflügelte Blutsauger

Wenn ich Raziels Odyssee mit einzelnen Worten beschreiben müsste, würde ich sie traurig, episch, düster, elegant, brutal, erstaunlich, mysteriös, überraschend und anspruchsvoll nennen. Das Spielerlebnis wurde nicht nur vom ansehnlich

Man konnte zwischen materieller und spiritueller Welt in dezent grüner Kulisse wechseln. Aprops Grün: Diese Farbe hatte auch das Blut in der deutsche Version...

animierten, aber taktisch recht simplen Kampf mit Klauen, Fackeln, Speeren oder Schwertern, sondern auch der Erkundung inklusive einiger Kletter- und Sprungpassagen geprägt, die allerdings nicht wie in Tomb Raider zentimetergenause Absprünge forderten. Der nach einem Erzengel benannte Held profitierte dabei von seinen halb zerfetzten Flügeln: Er konnte damit ein wenig abheben, stilvoll aus großer Höhe in die Tiefe gleiten und sich an Abgründen festhalten. Noch wichtiger als die Akrobatik waren jedoch die Rätsel und die damit verbundenen Weltenwechsel, die die Erkundungsreize erhöhten.

Raziel konnte die materielle Gegenwart verlassen und in eine parallele Geisterwelt wechseln, die die grundlegende Architektur eines Levels spiegelte. Zwar gab es auch einige sterile, manchmal etwas überflüssig anmutende Bereiche: Trotzdem sorgte der Moment des Wechsels für eine spektakuläre Transformation der Umgebung in Echtzeit - und es gab nahezu keine Ladedezeiten! Man betrat ein fremdes Reich, das sich an wichtigen Stellen nicht nur visuell unterschied. So konnte man über einfache Interaktionen, wie etwa das Verschieben von (vielen) Blöcken, auch Wechselwirkungen für die andere Welt auslösen - weitere Plattformen oder Wege wurden zugänglich. Auch wenn es keine knackigen Kopfnüsse gab: Ich weiß noch genau, dass ich mich manchmal wie in einer Sackgasse fühlte, weil ich so manche Aufgabe nicht auf Anhieb durchschauen konnte. Was natürlich sehr gut zu Raziels jüdischen Wurzeln passte, wo er als "Engel der Mysterien" verehrt wird; sein Name bedeutet im Hebräischen "Geheimnis Gottes".

Mehr als eine 08/15-Rache

Auch die oftmals so plump eingesetzte Rache wurde hier schon interessant eingeleitet, indem sie Motive der göttlichen Verbannung Satans abwandelte: Obervampir Kain fürchtete die Macht seines ehemals menschlichen Sohnes, nachdem nur diesem die wundersamen Flügel wuchsen. Also zerfetzte er sie und verbannte den Rivalen in den Abgrund, wo er auf ewig verloren als geplagte Seele dahin siecht - aber ein paar Jahrhunderte später belebt ein Gott den Ausgestoßenen, der natürlich nur ein Ziel hatte: Kain zu

Manche Wege konnte man nur frei machen, wenn man zwischen den Welten wechselte und für permanente Wechselwirkungen sorgte.

töten. Das Problem war, dass Raziel mit seinem geschundenen Körper noch nicht stark genug war, nicht mal schwimmen konnte und sogar ständig Lebenskraft in der materiellen Welt verlor. Da konnten ihm auch mal umherziehende menschliche Vampirjäger gefährlich werden, zumal einige Kämpfe aufgrund etwas zickiger Kamera unnötig hektisch werden konnten.

Aber er gewann wieder langsam an Kraft, indem er die Seelen seiner getöteten Feinde verspeiste, nachdem er sie erst kampfunfähig schlug, um sie dann entweder ins Licht oder Wasser zu werfen. Und vor allem wurde er mächtiger, indem er seine Brüder tötete - der Tod dieser vampirischen Anführer bescherte Raziel wichtige Fähigkeiten in der Bewegung, dazu Telekinese sowie neue Kampfmanöver, was ihm ähnlich wie in Metroid Prime (2003) neue Wege in bereits bekannten Gebieten öffnete - oder gar geheime Areale zugänglich machte. Die Brüder waren übrigens weit mehr als bloße Minibosse, denn auch ihr Schicksal wurde sehr gut mit der Geschichte verwoben, die ja auch noch viele Bezüge zum Vorgänger Blood Omen enthielt.

So fühlte man sich als Teil eines durchdachten vampirischen Universums, das Amy Hennig 2001 in Legacy of Kain: Soul Reaver 2 (PC, PS2; Wertung: 87%) und ein letztes Mal 2003 in Legacy of Kain: Defiance (PC, PS2; Wertung: 88%) weiter ausbauen konnte. Auch wenn ein geplanter Nachfolger namens "Soul Reaver: Dead Sun ", der bis 2012 immerhin drei Jahre (!!!) bei Climax (Silent Hill: Shattered Memories) in Entwicklung war, vor allem aufgrund schwacher Verkaufsprognosen eingestellt wurde, hält sich bei vielen die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Saga. Es wäre wunderbar, wenn man nochmal in einem neuen Abenteuer in diese Welt abtauchen könnte. Ansonsten würde ich auch Remakes nehmen.

Ihr interessiert euch für die Geschichte der Vampire? Wir haben eine kleine Einführung im Angebot.

 
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