The Walking Dead: Neuland05.06.2017, Benjamin Schmädig

Im Test: Eine große Geschichte...

Die schlurfenden Toten werden jetzt Muertos genannt, manchmal jedenfalls, ansonsten hat sich in The Walking Dead nicht viel verändert: Noch immer kämpfen Menschen gegen Wanderleichen, vor allem aber mit ihren eigenen Dämonen. Und trotzdem ist die dritte Staffel mit dem Untertitel Neuland (Englisch: A New Frontier) nicht ganz so wie die vorherigen Geschichten. Wie Telltale das schafft? Im Test nehmen wir Javier und seine zerbrechliche Familie unter die Lupe.

SPOILER!

Eine Anmerkung vorweg: Nachdem wir uns in einem Test der ausgezeichneten zwei ersten Episoden bereits dieser dritten Staffel gewidmet haben, bin ich nach Abschluss aller fünf Folgen zwar nicht mehr ganz so euphorisch, doch im Wesentlichen trifft das dort Gesagte nach wie vor zu.

Ich erwähne das deshalb, weil ich in diesem Text wesentliche Einzelheiten der Handlung bis hin zum Finale ohne weitere Warnung aufzählen werde. Warum? Weil manche Argumente seltsam in der Luft hängen, wenn man sie nicht beim Namen nennt. Und weil Telltale nach wie vor fast ausschließlich an dieser inhaltlichen Ebene interessiert ist, man

Spielerisch ist The Walking Dead nach wie vor kaum der Rede wert...
also über die auch sprechen muss. Am Spiel im Sinne einer Knobelei oder eines Geschicklichkeitstests sind die Entwickler ja kaum noch interessiert. Als Adventure funktioniert The Walking Dead schon lange nicht mehr.

Sinnlos auf der Suche

Was ich nach wie vor bedauerlich finde! Weil die Reste des Rätselratens in den vergangenen Jahren immer stärker zurückgefahren wurden, erscheinen sie inzwischen sogar wie Fremdkörper: Wozu soll ich in seltenen Szenen überhaupt noch den Bildschirm per Cursor absuchen, wenn der Protagonist die anschließende Aktion ohnehin automatisch ausgeführt. Rätsel gibt es ja keine mehr. Und die wenigen in diesen Momenten optionalen Dialoge mit in der Nähe befindlichen Figuren haben kein nennenswertes erzählerisches Gewicht.

Ähnliches gilt für die Reaktionsspiele, bei denen man innerhalb kurzer Zeitfenster angezeigte Tasten drücken muss. Das ist spielerisch nämlich dermaßen anspruchslos, dass es kaum einen Zweck erfüllt – ich würde deshalb lieber darauf und auf die Pseudo-Suchspiele verzichten.

Noch besser gefiele mir allerdings ein Ersetzen der über weite Strecken beliebigen Eingaben durch haptisch sinnvolles Tastendrücken, vielleicht auch ineinandergreifende „Gesten“ am Gamepad. Dann hätte man vielleicht stärker das Gefühl, tatsächlich inmitten einer Zombieherde zu stehen, anstatt nur zuzusehen, wie jemand Untote erschießt.

Alt und überholt

Aber gut, das sind Kleinigkeiten. Es ärgert mich zwar, dass Telltale das klassische Adventure so stiefmütterlich behandelt, viel mehr ärgert mich allerdings, dass die Entwickler der Grafik im Kleinen zwar einen modernen Anstrich

... und leider ist auch die Inszenierung vor allem technisch nicht zeitgemäß.
verpassen, Animationen und Kamerafahrten aber auch fünf Jahre und etliche weitere Serien nach dem Erfolg der ersten Staffel hölzern und leblos wirken. Mag sein, dass Telltale nicht das Budget eines The Last of Us hat, aber man schaue sich nur mal an, wie David Cage seine im Umfang durchaus vergleichbaren interaktiven Filme inszeniert.

Warum hat sich die einst wegweisende Serie eigentlich nie so weiterentwickelt, dass heute sowohl Schauspieler als auch Regie, Kamera und andere Kreative noch eindringlicher erzählen können als damals? Stattdessen sehen viele Bewegungen nach wie vor unnatürlich aus oder müssen außerhalb des Bildes angedeutet werden. Es gibt abrupte Übergänge am laufenden Band, was sich auch auf die Musik auswirkt, und den durch Keyframe- oder ähnliche Techniken erstellten Animationen fehlt eine wenigstens halbwegs glaubwürdige Physik. Comicstil hin oder her: Technisch wirkt The Walking Dead: Neuland (ab 3,60€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) älter als ihm guttut.

Zu viert in die Apokalypse

Nun spielt das alles freilich keine große Rolle, wenn die Geschichte so bedeutungsvoll und emotionsgeladen wäre wie die der ersten zwei Staffeln – und das ist sie auch! Sie dreht sich diesmal um Javier Garcia, der mit seiner Schwägerin Kate, seiner Nichte Mariana und seinem Neffen Gabe in der Apokalypse zu überleben versucht. Aber nicht nur das: Anstatt wie in den vorherigen Jahren davon zu erzählen, wie die vier mit diesen, dann mit jenen und später ganz

Dass sich Neuland um eine große Gruppe und im Wesentlichen einen einzigen Schauplatz dreht, tut der Erzählung aber gut.
anderen Mitmenschen oder Gruppen klarkommen, richtet Telltale den Blick diesmal auf eine große beständige Personengruppe.

Natürlich sind Javier und Co. in den ersten zwei Episoden noch in einem Transporter auf der Flucht vor einer riesigen durchs Land ziehenden Herde Untoter und machen auf dem Weg auch kurzfristige Bekanntschaften. Schließlich kosten die Zombies nach wie vor zahlreiche Menschenleben. Aber schon am Ende der zweiten Staffel schließen sich die ersten Kreise, wenn sie sie nach Richmond gelangen, wo die im englischen Original titelgebende „New Frontier“ ihre Zelte aufgeschlagen hat: eine Gruppe, deren Mitglieder Javiers Nichte kaltblütig erschossen und Kate verwundet haben. Und die von Javiers Bruder, also Marianas Vater und Kates Ehemann, angeführt wird.

Kloß im Hals

Zum einen hat Telltale mit Marianas Tod den womöglich überraschendsten, für mich auf jeden Fall erschütterndsten Tod der gesamten Serie inszeniert! Die Einführung der Figur sowie ihrer Beziehung zu Javier und Kate gelingt den Spieleregisseuren ganz ausgezeichnet – umso erschreckender war der ebenso abrupte wie komplett sinnlose Tod des Mädchens.

Tragische Entwicklungen schlagen u.a. dadurch noch stärker ein.

Zum anderen war ich über die gesamte Staffel hinweg davon begeistert, dass die Entwickler diesmal nicht verschiedene Konflikte unterschiedlicher Charaktere im Wesentlichen nur aneinanderreihen, sondern länger und intensiver in das komplizierte Geflecht abweichender Ideale und Bedürfnisse innerhalb einer großen Konstellation Überlebender blicken. Das ist der Serie zwar nicht grundsätzlich neu, wird diesmal aber u.a. dadurch betont, dass nur wenige Ortswechsel stattfinden und sich unterm Strich alles um Richmond und seine Anwohner dreht.

So hatte ich viel mehr das Gefühl in die Charaktere hineinzuwachsen. Die emotionale Bindung ist stärker, wenn die Gedanken an einem Ort verweilen, der jede Stunde mit weiteren Geschichten gefüllt wird. Ich war vor allem in Staffel zwei kein Freund der manchmal stichpunktartig erzählten Begebenheiten am Rande des Weges und deshalb sehr glücklich über die aktuelle Ausrichtung.

Ist Blut dicker als sauberes Wasser?

Eine zentrale Rolle nimmt dabei die schwierige Beziehung zwischen Javier und seinem heißblütigem Bruder David ein, der seine Männer und Frauen selbstverständlich nicht angewiesen hatte auf seine eigene Tochter zu schießen. Die handelten aus ganz anderen Beweggründen hinter seinem Rücken und im Namen eines weiteren Führungsmitglieds in Richmond, der kalt berechnenden Joan. Im Gegensatz zu ihr hat David durchaus das im Sinn, was als klassisch „gut“ gelten kann – der

Im Mittelpunkt stehen nach wie vor schwierige Beziehungen und besonders das Verhältnis zwischen Javier und David.
Heißsporn hat sich in vielen Situationen allerdings überhaupt nicht unter Kontrolle. In einem Streit mit Javier schlägt er sogar seinen eigenen Sohn. Seine Frau Kate hatte sich ohnehin längst aus ähnlichen Gründen von ihm abgewandt und als eine öffentliche Konfrontation mit Joan eskaliert, erschießt David einen Verbündeten, weil er in seiner Raserei nicht klar denken kann.

Wie geht man mit einem Bruder um, der seinen eigenen Leuten schadet? Das ist eine der zentralen Fragen und die Entwickler inszenieren diesen Konflikt hervorragend, weil sie auch das starke Band zwischen Javier und David sehr greifbar und viele Entscheidungen damit zu schwierigen Gewissensfragen machen. Es erinnert ein wenig an die Beziehung zwischen Clementine und Kenny in Staffel zwei, wobei Davids Charakter stärker durch seine Taten, „gute“ wie „schlechte“, geprägt ist und seine zwei Seiten damit noch stärker und greifbarer ausgearbeitet sind. Den Konflikt provoziert Telltale zudem nicht nur über Auseinandersetzungen der zwei Brüder, sondern da ist immerhin auch Kate, die längst Gefühle für Javier entwickelt hat, und mehrmals ein ganz anderes Verhalten von Javier fordert als ihr Mann...

Und plötzlich Ende

Umso ärgerlicher finde ich deshalb aber, dass Davids Geschichte viel zu abrupt vorüber ist, jedenfalls in dem von mir und den meisten Spielern gewählten Ende. Denn nach all den Querelen sowie der finalen Entscheidung, ob man David folgt oder wie ich mit Kate zusammen gegen die in Richmond eingefallene Herde kämpft, findet Javier seinen Bruder tot in einem Auto, das war‘s. Auch seine Bestürzung darüber empfand ich als knapp und oberflächlich abgehandelt. Natürlich muss er nur wenige Sekunden später seinen von einem Untoten gebissenen Neffen erschießen, dem Jungen die Waffe in die Hand drücken oder Clementine die grausame Arbeit überlassen – dass er nach dem Ende der Szene gemeinsam mit Kate nur drei Tage später aber lediglich Fotos an eine Gedenkwand heftet,

Hält man zu dem impulisven Bruder oder ist David eine Gefahr für seine Familie?
um noch am selben Ort relativ unbeschwert über eine gemeinsame Familie mit ihr zu sprechen, wird der Dramatik der vorherigen acht Stunden nicht ganz gerecht. Ich habe es als seltsamen Bruch empfunden, dass die Entwickler mein emotionales Teilhaben an einer der wichtigsten Beziehungen so plötzlich haben fallen lassen.

Dieselbe Leier

Der knappe Abschluss und eine gewisse dramaturgische Starre haben meine Begeisterung im Verlauf der dritten Staffel leider gedämpft; eine Starre, die zum einen von den erwähnten technischen Beschränkungen und zum anderen aus relativ festen Erzählstrukturen herrührt. Jede Episode beginnt etwa mit einer Rückblende, anstatt wenigstens einmal direkt an die dramatischen Ereignisse der letzten Folge anzuschließen.

Überhaupt die Tatsache, dass Telltale nicht den Mut hat z.B. die vierte Folge mit der leisen Entschlossenheit enden zu lassen, mit der Javier und seine Begleiter nach Richmond zurückzukehren, um David aus Joans Händen zu befreien – stattdessen muss es wie in den Folgen davor ein dramatischer Dialog-Entscheidungs-Showdown samt Übergang in eine Schießerei sein. Auf Dauer wirkt dieses gleichförmige Auf und Ab der Dramaturgie doch ermüdend; es verhindert emotionale Überraschungen, die etwa der erste Kuss zwischen Javier und Kate als abschließendes Bild hätte haben können.

"High-five!"

„High-five, Clem!“

Im Gegenzug gefällt mir der langsame Aufbau dieser Beziehung aber richtig gut! Von behutsamen Andeutungen in Rückblenden über ein vorsichtiges Annähern bis hin zum ersten Kuss gibt Telltale seinen Figuren und Spielern die nötige Zeit, um in die Beziehung hineinzuwachsen. Das ist gerade im Bereich der Videospiele eine Seltenheit und schon deshalb wohltuend.

Über Rückblenden erzählen die Spielemacher außerdem einen großen Teil der Geschichte Clementines, also der einzigen Konstanten des interaktiven The Walking Dead. Genauer gesagt beschreiben sie so, was dem Mädchen zwischen der zweiten und dritten Staffel wiederfahren ist. Klasse, wie sie dabei nicht nur schlicht weitererzählen, sondern auch deutlich herausstellen, wie sehr die ohnehin taffe Überlebenskünstlerin inzwischen von den Ereignissen der letzten Jahre gezeichnet ist – auch weil sie einst Mitglied der rauen New Frontier war. Dass sie in der Gegenwart der dritten Staffel gleichzeitig Charme und Coolness gewinnt, ist umso bemerkenswerter. Könnte man ihr ein High-Five zu klatschen, hätte ich das gleich mehrmals gerne getan. Auch wenn in Staffel drei vieles ohne sie geschieht: Clem ist völlig zurecht der Anker dieser nach wie vor starken Charakterserie!

Fazit

Auch wenn die Serie lieber in starren Mustern tritt, anstatt Technik, interaktives Konzept und auch die Inszenierung zu modernisieren: Die dritte Staffel The Walking Dead ist erzählerisch beinahe auf einer Höhe mit dem herausragenden Einstieg vor fünf Jahren und gehört damit zu den besten interaktiven Geschichten, die Telltale je erzählt hat. Da sich Neuland um eine große Gruppe örtlich relativ fest verankerter Charaktere dreht, hat die Erzählung mehr Zeit ihre Figuren vorzustellen und deren Beziehungen zu vertiefen. Überraschende Entwicklungen wirken dadurch dramatischer – dass diesmal keine flüchtigen Begegnungen, sondern Familienbande im Mittelpunkt stehen, verstärkt die Schlagkraft solcher manchmal schöner und oft grausamer Ereignisse nur. Gerade in Anbetracht der erzählerischen Stärke wirkt der erwähnte Stillstand aber umso schwerer, denn vor allem in emotionalen Szenen fallen abrupte Schnitte oder ungelenke Bewegungen besonders störend auf, während spielerisch belanglose Such- und Reaktionsspiele mehr ablenken als die Spannung zu erhöhen. Würde Telltale diese seit Jahren verschleppten Ärgernisse endlich hinter sich lassen, würde The Walking Dead auch insgesamt wieder eine Klasse erreichen, die seine Autoren einmal mehr unter Beweis stellen!

Pro

hervorragend geschriebene und in Ruhe aufgebaute Charaktere und Beziehungen
stärkerer Fokus auf fester Gruppe statt wechselnder Bekanntschaften erhöht Bindung und Konflikpotential
tolle Weiterführung der Geschichte um Clementine
vielseitiges Eingreifen in gut geschriebene Unterhaltungen

Kontra

technisch schwache Inszenierung und vorhersehbare Erzählstrukturen
abrupter Abschluss wichtiger Handlungsteile
unsinnige Adventure-Elemente
langweilige Reaktionsspiele

Wertung

Android

Herausragende Geschichte um eine Gruppe Überlebender, die ihr Potential aufgrund altbackener Technik und etwas zu starrer Erzählweise nicht ganz ausschöpft.

XboxOne

Herausragende Geschichte um eine Gruppe Überlebender, die ihr Potential aufgrund altbackener Technik und etwas zu starrer Erzählweise nicht ganz ausschöpft.

PlayStation4

Herausragende Geschichte um eine Gruppe Überlebender, die ihr Potential aufgrund altbackener Technik und etwas zu starrer Erzählweise nicht ganz ausschöpft.

iPad

Herausragende Geschichte um eine Gruppe Überlebender, die ihr Potential aufgrund altbackener Technik und etwas zu starrer Erzählweise nicht ganz ausschöpft.

PC

Herausragende Geschichte um eine Gruppe Überlebender, die ihr Potential aufgrund altbackener Technik und etwas zu starrer Erzählweise nicht ganz ausschöpft.

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Kommentare

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Doc Angelo

Hab gerade die erste Episode beendet und in die zweite Episode reingeschnuppert. Ein paar Dinge machen neugierig. Aber leider hat für mich die Qualität was Story und Inszenierung angeht stark abgenommen. Manchmal fühlt es sich so an, als würden die Charaktere wissen, das sie Teil eines Computerspiels sind. Manche Worte und Reaktionen lassen sich nicht mit dem erklären, was der jeweilige Charakter wissen kann oder was zu ihm passt. In diesen Momenten wirken die Charaktere wie Handpuppen der Regie. Manchmal scheint es so, als würden wildfremde Neben-Charaktere recht genau die Erwartungshaltung des Spielers kennen.

Was mich aber am Meisten stört ist die Tatsache, das man vor abstrus gefährliche Situationen gestellt wird, ohne dass das Spiel einem verklickert, durch welche tragischen Umstände die Gruppe dorthin gekommen ist. Es sind mittlerweile einige Jahre ins Land gezogen, und nur diejenigen, die wissen wie man in so einer Situation handelt, sind noch am Leben. Leider muss man zugucken, wie haarsträubende Versäumnisse extreme Folgen haben - und das nimmt mir persönlich die Schwere der Situation. Man packt sich an den Kopf, warum die Charaktere an solche Offensichtlichkeiten nicht gedacht haben.

Was Clem angeht... wer weiß was noch in den weiteren 3 Episoden geschieht, aber bisher würde ich mir wünschen, das man sie wieder los wird. Und das obwohl Clem in den ersten beiden Staffeln mein absoluter Lieblings-Charakter war.

Spoiler
Show
Wer mit einer geladenen Pistole auf einen Kopf zielt, und dann auch noch (2 mal) abdrückt, der hat sie nicht alle. Der Rotzgöre würde ich sofort jede Waffe abnehmen und erst wieder geben, wenn sie außerhalb des Geländes ist.

vor 4 Jahren