999: Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors25.01.2011, Jörg Luibl
999: Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors

Im Test:

Neun Menschen erwachen in einem schwimmenden Alptraum: Sie haben neun Stunden Zeit, um von einem sinkenden Luxusliner zu fliehen, der auf den ersten Blick an die Titanic erinnert. Während das Wasser steigt, spricht eine mysteriöse Stimme über Lautsprecher von einem "Spiel". Um zu gewinnen, müssen sie in Teams durch nummerierte Türen gehen und dahinter Rätsel lösen, bis sie die letzte Pforte mit der Neun erreichen. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird buchstäblich zerfetzt. Die Zeit läuft...

Maritime Amnesie

Wie zur Hölle bin ich auf dieses Schiff gekommen? Das fragt sich Protagonist Junpei zu Beginn des Spiels.
Wo bin ich? Wer zur Hölle hat mich entführt? Was soll der ganze Scheiß? Das fragt sich nicht nur der sichtlich verwirrte Student Junpei, in dessen Kopf voller Fragen man schlüpft, nachdem er von einem Etagenbett fällt. Während die Beule anschwillt, erkundet er die graue Koje - nicht aktiv als Figur in Echtzeit, sondern über statische Drehungen der Kamera: Sechs Betten, ein Schrank, ein Ofen und eine geschlossene Tür mit einer roten Fünf darauf. Ist das Blut? Kaum hat er ein Bild und einen Koffer gefunden, zerspringt ein Bullauge und Wasser strömt tosend hinein. Es bleibt nicht viel Zeit, um die verdammte Tür zu öffnen! Verflixt, wie komme ich an die Zahlenkombination für den Koffer?

Gratulation, Chun Soft: Der Einstieg ist gelungen, denn die Neugier ist da und hat auch noch die Spannung samt erster Gegenstände und Rätsel im Gepäck. Schon in den ersten Spielminuten erkundet man nicht nur die edel designte Umgebung, man blättert sich per Stylus durch seine vagen Erinnerungen und Ahnungen, die in sehr guten Texten mit subtilen Untertönen für Stimmung sorgen. Der Erzählrhythmus wird von knackigen Dialogen bestimmt, die auch mal witzig und albern sein können - aber es bleibt bei einem ernsten Unterton, vor allem in den inneren Monologen des Helden. Auf Sprachausgabe hat das japanische Team von Chun Soft (u.a. Dragon Quest ) zwar verzichtet, trotzdem entsteht im Laufe des Abenteuers eine psychologisch drückende Atmosphäre, denn nicht nur der Schreibstil ist eindringlich: Türen öffnen sich knarzend à la Resident Evil , astrologische Symbole sorgen für einen Hauch Mystery und sterile Korridore triefen plötzlich voller Blut. Können Textbeschreibungen intensiver wirken als Bilder? Hier sorgen tatsächlich Buchstaben für Gedärme-Ekel...

Saw lässt grüßen

Kurz nach dem ersten Rätsel trifft man auf weitere Opfer eines makaberen Spiels: Insgesamt neun Menschen kämpfen um ihr Leben.
Aber keine Bange: Auch wenn das Fundament der Story an Filme wie Saw erinnert, bleibt es bei wenigen clever eingestreuten Schockmomenten, die für ein Gefühl der Unsicherheit sorgen - zumal man nichts über die Gründe dieses makaberen Spiels weiß.

Junpei erinnert sich kaum an etwas, lediglich die Bilder einer maskierten Gestalt jagen durch seinen Kopf. Er wurde scheinbar mit Gas betäubt, dann weggeschleppt. Immerhin ist er nicht allein, denn schon nach dem ersten Rätselraum trifft er auf eine illustre Gruppe: Acht weitere Opfer müssen das makabere Spiel eines unbekannten Irren mitspielen - drei Frauen, fünf Männer. Oder steckt eine Organisation dahinter? Ist das alles vielleicht ein Psychotest der Regierung? Das größte Rätsel dieses Abenteuers ist seine Ursache, so dass man wie an der Angel geführt nach allen erklärenden Ködern schnappt.

Keiner weiß, wer oder was hinter dieser unheimlich durchdachten Entführung auf ein sinkendes, gezielt umgebautes Schiff steckt. Alle können nur mutmaßen, was gleich zu Beginn für Misstrauen und Panik sorgt. Auf den ersten Blick scheinen die anderen Männer und Frauen alle wildfremd, aber dann entdeckt Junpei tatsächlich eine Freundin aus Kindertagen - June, sein erster Jugendschwarm.

Er kann es kaum glauben, seine Freude ist groß, aber kann das wirklich Zufall sein? Es gibt ja sogar ein Geschwisterpaar unter den neun Opfern! Aber wieso sehen sie sich gar nicht ähnlich? ChunSoft lässt zwar einige archetypische (das Babe, der Kerl etc. ), aber auch angenehm skurrile Gestalten auftreten, die alle so ihre Macken und Eigenheiten haben.

                

Neun Menschen, viele Quersummen

An diesen Türschaltern muss man sich registrieren, um weiter zu kommen - allerdings gibt es tödliche Regeln, was die Größe der Gruppe betrifft.
Die anderen Menschen kennt er jedenfalls bis auf June nicht. Aber alle müssen zusammen halten, denn sie sitzen im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot. Und alle (bis auf Junpei) geben sich Codenamen, denn keiner traut dem anderen: Ace, Snake, Santa, Clover, June, Seven, Lotus, Nine. Natürlich verraten die Namen auch etwas über den Charakter. Ist das schon ein unbewusster Teil des Spiels? Jeder trägt eine Uhr mit einer leuchtenden Ziffer von 1 bis 9, Junpei selbst hat als Protagonist die 5. Und nicht jeder darf einfach so durch die nummerierten Türen laufen - es gibt tödliche Regeln: Nur Teams von drei bis fünf Leuten dürfen hindurch, wenn die Ziffern auf ihren Uhren zusammen gezählt und dann quer gerechnet genau die Zahl der Tür ergeben.

Für die Tür mit der Ziffer sechs würde das folgende Quersumme ergeben: 5 + 3 + 7 = 15. Daraus resultiert der digitale Code 1 + 5 = 6. Sobald man durch eine dieser Rätselpforten geht, tickt eine Bombe im Körper und alle müssen sich in knapp einer Minute an einem Todesschalter registrieren, um sie zu entschärfen - fehlt jemand, explodiert es. Das Spiel zwingt also zur Aufteilung, zwingt zur Gruppenbildung und Junpei kann in einigen Situationen entscheiden, mit welchen Menschen er das nächste Rätsel lösen will. Allerdings verpasst das Spiel die Chance, das Ganze nach dem Öffnen der Tür wirklich zu einem aktiven Wettlauf zu machen - der Todesschalter wird automatisch angesteuert. Und auch das Errechnen der Quersumme muss nie auf Zeit geschehen und ist lediglich an einer Stelle etwas kniffliger.

Wer geht durch welche Tür?

Trotzdem führt die Entscheidung darüber, wer durch welche Türe geht, zu einem angenehm nicht-linearen und überaus überraschenden Spielablauf, denn manchmal hat man die Wahl: Will man zusammen mit seiner Jugendfreundin die Rätsel lösen? Oder will man in den Raum, wo es eine Leiche gab - da will sie nämlich nicht rein, aber da könnte es Hinweise geben? Erst wenn man das Spiel nochmal angeht, wird man erfahren, was sich in dem anderen Raum befindet und wie sich die Gruppe dort verhält. Denn es kommt auch auf die Untertöne in den Dialogen an, wenn man dem Abenteuer alle Geheimnisse entlocken will.

Es gibt auch Entscheidungen abseits der Gruppenteilung in den Gesprächen: Junpei hat z.B. in einer kritischen Situation die Möglichkeit, Partei für eine Seite zu ergreifen. Es geht darum, ob der Urheber, des tödlichen Spiels, der immer nur als "Zero" bezeichnet wird, nicht nur mit an Bord, sondern vielleicht sogar einer der neun Spieler ist - das sorgt für hitzige Diskussionen und man kann sich am Ende auf eine Seite schlagen. Wenn man die Anwesenheit von Zero als möglich deklariert, wächst das Misstrauen in der Gruppe natürlich an, so dass labile Personen daran zu knabbern haben - mit allen Folgen. An anderer Stelle sucht die ganze Gruppe eine vermisste Person: Man hat nicht nur die Wahl, wo man suchen will, sondern auch, ob man während der Suche Dialoge aufnimmt. Aber verliert man da nicht Zeit? Oder will man doch wissen, was die Leute zu sagen haben?

  

Finde den Ausgang

Sehr häufig muss man Zahlenrätsel lösen: meist geht es darum, die Quersumme zu bilden und daraus den digitalen Code für eine Tür.
Das hört sich alles klasse an. Leider übertreiben es die Japaner zwischendurch mit der Länge der passiven Lese- und Dialogphasen: Man fühlt sich fast an Hideo Kojima erinnert, wenn man ohne Eingriffsmöglichkeit fast eine Viertelstunde die Gespräche und Zickereien verfolgt, die piepsend in Textform erscheinen.

Viel öfter hätte man sich gewünscht, dass man mal etwas sagen bzw. auf Konflikte eingehen darf - da war so viel mehr drin! Seltsam ist auch, dass das System der direkten Fragen an Junpei, die seine Aufmerksamkeit prüfen, später so selten eingesetzt wird - zu Beginn wird er noch wie in einem Test gefragt, was die richtige Quersumme sei oder wie viele Leute laut Zero durch eine Tür gehen dürfen.

Hinter den Türen geht es in klassischer Point&Click-Manier auf die Suche: Wo sind Gegenstände, wie kann ich sie so einsetzen, dass ich aus dem Raum bzw. dem gebiet heraus komme? Man bewegt sich leider nicht in Echtzeit mit seiner Gruppe oder aktiv auf einer Nebenkarte à la Hotel Dusk , sondern dreht, geht und wendet dort, wo Pfeile das anzeigen - per Stylus kann man bestimmte Stellen eines Raumes näher untersuchen, um Schränke oder Koffer zu öffnen. Alles, was man antippt, hinterlässt einen Text oder wird für die weitere Suche vergrößert. So füllt sich mit der Zeit das Inventar, in dem man alle 3D-Obkejte drehen, wenden, kombinieren sowie explizit untersuchen kann - sehr schön.

Das Rätseldesign ist angenehm abwechslungsreich: Mal muss man einfach einen Schraubendreher mit einem Bild kombinieren, um es aus dem Rahmen zu lösen.

Das Rätseldesign ist abwechslungsreich. Hier muss man Töne treffen und Musik nachspielen.
Mal muss man à la Professor Layton Zahlenkombinationen aus Hinweisen erschließen, die richtigen Gegenstände am richtigen Ort zusammen bringen, Spielkarten suchen und clever auslegen, chemische Formeln in Codes umwandeln, exakte Gewichte zweier Operationspuppen treffen oder komplexere Apparate und Mechanismen à la Myst in Gang bringen.

Sechs mögliche Enden

Die Herausforderungen sprechen sowohl die Logik als auch die Arithemtik und das räumliche Verständnis an, denn es gibt auch unübersichtlich verschachtelte Gebiete, in denen die optionale Vogelperspektive hilft. Die Schwierigkeit reicht von Klar-das-geht-so bis hin zu Verdammt-wie-komme ich-weiter? Wer mal irgendwo hängen bleibt, darf auf kleine Hinweise schauen, die nach Fehlversuchen angezeigt werden. Rätselexperten werden hier zwar deutlich weniger zu tun bekommen als in Prof. Layton, aber dafür sorgt der erzählerische Rahmen mit seinen mysteriösen Fragen auch nach dem ersten Durchspielen von etwa fünf bis sechs Stunden für Kopfzerbrechen.

Das Abenteuer bietet je nach Entscheidungen während des Spiels sechs Enden - darunter erfreuliche, schreckliche, abrupte und vor allem auch ein "wahres" Finale. Und man will wissen, was da hinter den Kulissen passiert. Das Schöne ist, dass man sich beim erneuten Durchlauf sehr schnell durch die bereits gelesenen Texte klicken kann und dass die getroffenen Entscheidungen grau markiert werden; so kann man sich das nicht Erlebte bzw. nicht Gesagte besser nachvollziehen. Trotzdem muss man auch bekannte Rätsel nochmal komplett spielen, was das Ganze wiederum recht zäh macht.

   

Fazit

Wann hat mich ein Adventure das letzte Mal auf dem DS gefesselt? Und zwar, weil es neben der Knobelei auch eine klasse Story erzählt? Keine kindische Anime-Soap, sondern eine psychologisch interessante Geschichte mit markanten Charakteren und cleveren Rätseln? Das war Hotel Dusk: Room 215. Und das ist fast drei Jahre her. Eine lange Zeit, in der ich sehnsüchtig auf ein ähnliches Erlebnis gewartet habe. Jetzt ist es da! Die Erlebnisse auf dem Schiff kommen zwar nicht ganz an jene im Hotel heran, aber sie füllen die Lücke für erzählerische anspruchsvolle und stilistisch markante Abenteuer auf dem DS. Freut euch auf eine nicht-lineare Story, psychologische Drucksituationen, behutsam eingestreute Schockmomente, abwechslungsreiche Rätsel und unheimlich gut geschriebene Texte - vor allem die Gedanken des Helden Junpei enthalten angenehm subtile Untertöne. Schade ist allerdings, dass ChunSoft das motivierende Konzept der Entscheidungen und offenen Wege nicht konsequenter umgesetzt hat. Etwas zu oft ist man nur passiver Leser als aktiver Teilnehmer. Auch die Zahlen- und Türrätsel hätte man evtl. öfter und spannender inszenieren können. Aber trotz aller offenen Wünsche habe ich dieses offene Abenteuer an einem Stück gefressen, und zwar mehrmals hintereinander - sechs Enden warten auf euch!

Pro

nicht-lineare Story
mysteriöse Atmosphäre
stimmungsvolle Texte mit subtilen Untertönen
edel gezeichnete Kulissen
markante Charaktere
abwechslungsreiche Rätsel
psychologisch interessante Situationen
gut dosierte Schockmomente
Gegenstände als drehbare 3D-Objekte
sechs mögliche Enden

Kontra

- einige zu lange passive Textphasen
zu selten Einfluss in Dialogen
Zeitdruck wird nicht aktiv genug in Rätseln eingesetzt

Wertung

NDS

Nicht-lineare Story, psychologische Drucksituationen, abwechslungsreiche Rätsel und unheimlich gut geschriebene Texte - ein klasse Adventure!

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