Bleifuss18.04.2012, Paul Kautz
Bleifuss

Special:

Italien ist nicht gerade als das Spiele-Wunderland bekannt: Nicht mal eine Hand voll größerer Entwickler und Publisher ist bekannt. Sich aus dieser nicht vorhandenen Masse hervor zu heben sollte kaum schwer fallen - und das hatte Graffiti (mittlerweile unter »Milestone« bekannt) in den 90ern auch nicht nötig. Nicht mit Spielen wie Bleifuss (ab 9,94€ bei kaufen) im Portfolio!

I feel the need...

Vollgaaaaaaaaaaas: Bleifuss war bunt, chaotisch, intelligent designt - und vor allem wahnwitzig schnell!
Vollgaaaaaaaaaaas: Bleifuss war bunt, chaotisch, intelligent designt - und vor allem wahnwitzig schnell!
Schnelle Arcade-Racer gibt es schon fast so lange wie die Menschheit interaktive Unterhaltung zu schätzen weiß. Aber aus dem Meer der Raserei tauchen immer wieder Ausnahmetitel auf, die wie keine anderen das Genre für immer verändern - Spiele wie Ridge Racer. Das sorgte nicht nur in der Spielhalle, sondern vor allem auch als Starttitel für die PlayStation für ungläubige Blicke und kaum kontrollierbare Sabberfluten.

Ähnliche Reflexe sollen laut Graffiti-Chef Antonio Farina dafür gesorgt haben, dass der Name ihres neuen Rennspiels im Original »Screamer« lautete - jeder, der die rasend schnelle 3D-Grafik in Bewegung sah, soll vor Begeisterung geschrien haben. Ob das jetzt die Wahrheit oder eine der gern herumerzählten Spieleentwickler-Räuberpistolen ist, sei mal dahingestellt. Denn Recht hatte der Mann trotzdem: Optisch ist Bleifuss (so der aus heutiger Sicht grammatikalisch fragwürdige, aber thematisch den Nagel punktgenau auf den Kopf treffende deutsche Titel) ein Knaller!

Die sechs Levels boten jede Menge thematischer Abwechslung und durften später auch spiegelverkehrt befahren werden.
Die sechs Levels boten jede Menge thematischer Abwechslung und durften später auch spiegelverkehrt befahren werden.
Okay, mittlerweile vielleicht nicht mehr ganz so durchschlagend wie einst, aber wenn man bedenkt, welche Grafikstandards 1995 herrschten, dann war es verständlich, dass die Konkurrenz beim Anblick der wahnwitzigen SVGA-Bilder der Italiener verzweifelt »Mamma Mia!« schrie: Kunterbunte, detaillierte, hügelige und sehr abwechslungsreiche Strecken (von der Bergtour durch italienische Städtchen, an der Meeresküste vorbei und durch mächtige Canyons hindurch; später auch spiegelverkehrt) luden zum Staunen ein. Ganz besonders dadurch, dass es Ridge-Racer-typisch jede Menge Hintergrundaktivität gab - Flugzeuge und Helikopter sausten durchs Bild, Video-Leinwände lenkten mit hektischen Bildern ab. Simples Environmental Mapping sorgte für Spiegelungen des Himmels auf den Autoscheiben. Und die Packung log nicht: »BLEIFUSS ist schnell, sehr schnell!« steht da. Kein Widerspruch meinerseits. Das Ding lief und läuft auch heute noch mit irrsinniger Geschwindigkeit.

Kann das wirklich wahr sein?

Arcade pur: Kurven wollten mit einem männlichen Drift genommen werden.
Arcade pur: Kurven wollten mit einem männlichen Drift genommen werden.
Natürlich nur, wenn die Hardware mitspielte: Ende 1995 kamen Pentium-Prozessoren gerade in Mode, Bleifuss nutzte diese Extra-Power für den optionalen SVGA-Modus. Da dieses Spiel noch im reinen Software-Modus ohne 3D-Beschleunigung lief (3D-Karten waren noch größtenteils unbekannt; erst die beiden Nachfolger erhielten im Nachhinein Glide-Patches. Na, wer kennt noch Glide?), musste ein wirklich dicker Prozessor her, um die volle 640x480-Pracht darstellen zu können. Die Investition lohnte sich: Im Gegensatz zu der zeitgleich erschienenen EA-Konkurrenz »The Need for Speed«, die auf Pseudo-Realismus setzt, fuhren Graffiti voll auf der Arcade-Schiene: Bunt und verspielt sollte alles sein, damit der Spieler auch bitte ordnungsgemäß aus den Socken hüpfen konnte. Bei mir hat’s geklappt. »Unterstützt das Thrustmaster-Lenkrad für ultra-realistisches Fahrgefühl« meint die Packung mysteriöserweise. Ja, nee, is klar...

Die heißen Kisten waren realen Modellen nachempfunden...
Die heißen Kisten waren realen Modellen nachempfunden...
Warum immer wieder diese Verweise auf Ridge Racer? Weil Bleifuss mehr als offensichtlich von Namcos Wunderkiste inspiriert war. Das ging bei Kleinigkeiten wie dem nervenden (und dankbarerweise abschaltbaren) Sprecher los, dessen überenthusiastisch gebrüllte Labereien von »Yeeeehaaaaaw!« bis »It must be real hard being this good!« ebenso oft wiederholt wurden wie sie nervten. Auch hier gab es kein Schadensmodell außer »Stillstand beim Frontalkontakt mit einer stabilen Mauer bei 320 km/h«. Die Gegner (insgesamt waren zehn Fahrzeuge auf der Straße) waren rempelfreudige Nervsäcke, deren Drängelzahn ihnen über drei Schwierigkeitsgrade gezogen werden konnte - außerdem wurde auch hier die Gummiband-KI zelebriert. Die Cockpit-Perspektive dürfte niemanden außer unserem Gevatter Krosta interessiert haben. Die wichtigste Parallele war jedoch das fantastische Fahrgefühl: Hier wie da lagen die Karren wie Bretter auf den Straßen, enge Kurven wurden mit heftigen Drifts elegant genommen (und freudesprudelnd kommentiert), das Schliddern war einfach und zugänglich.
...mit Ausnahme der »Bullet«. Diese futuristische Superkarre machte das Spiel nochmals schneller, war aber schwer freizuspielen.
...mit Ausnahme der »Bullet«. Diese futuristische Superkarre machte das Spiel nochmals schneller, war aber schwer freizuspielen.
Lediglich beim Soundtrack gab es deutliche Unterschiede: Setzte Ridge Racer auf pumpende Elektro-Tracks, packte hier u.a. Allister Brimble die E-Gitarre aus - das simple Geschrammel war okay, aber auch nicht viel mehr.

Ride the Bullet!

Sechs Vehikel standen zur Auswahl: Sie sahen aus wie Chevrolet Corvette, Ferrari F40 oder Porsche 911, hießen mangels Original-Lizenzen aber »Yankee«, »Tiger« oder »Panther«. Eigentlich waren es sogar zwölf Karren, denn jede Maschine gab es mit manuellem oder automatischem Getriebe, was sich nicht nur in leicht anderen Fahreigenschaften, sondern auch unterschiedlichen Designs äußerte. Besonders hartnäckige Raser konnten sogar noch eine zusätzliche Wunderkiste freischalten: Die »Bullet« war ein raketengetriebener Irrsinn auf Rädern; wahnwitzig schnell, mächtige Beschleunigung, stabil in der Kurve, aber ohne Drift-Möglichkeit. Zusammen mit diesem Batmobil-Stehenlasser wurde eine Zusatz-Herausforderung freigeschaltet:

Die Computergegner waren rammfreudig, die Gummiband-KI immer wieder eine Pein - aber man hat sich durchgebissen.
Die Computergegner waren rammfreudig, die Gummiband-KI immer wieder eine Pein - aber man hat sich durchgebissen.
Im »Afterburner«-Modus hatten alle Konkurrenten die Bullet - und sie fuhren sie verdammt gut!

Bleifuss wäre schon mit all diesen Zutaten ein klarer Gewinner gewesen (und das war es auch, wie der Höchstwertungs-Regen der damaligen Zeit beweist) - aber um die Motivation länger oben zu halten, spendierten die Entwickler mehrere Spielmodi. Der wichtigste davon war »Championship«, denn nur hier schaltete man weitere Strecken frei, die man danach überall (wie im freien Rennen oder dem Zeitangriff) befahren durfte. Witziger waren aber die zwei Sondervarianten, die beide nach ähnlichem Prinzip verliefen: Man war allein auf der Strecke, musste nur eine Runde fahren, hatte aber extrem wenig Zeit dafür. Extra-Sekunden gab es, wenn man die auf der Straße platzierten Hütchen-Reihen umfuhr (»Cone Carnage«) oder Markierungen erfolgreich durchquerte (»Slalom«). Und wer ein funktionierendes Netzwerk im Haus hatte, durfte sogar gegen sieben Freunde aus Fleisch und Blut antreten - kein Bleifuss-Nachmittag ohne lautstark durch den Raum schwebende wilde Flüche…

Als klassisches DOS-Spiel ist Bleifuss auf modernen Rechnern nur mithilfe virtueller Maschinen wie DOSBox zum Laufen zu bekommen. Wer sich da nicht durchbeißen möchte oder das Spiel nicht hat, findet bei gog.com die einfachste Lösung: Hier kostet das Spiel (unter seinem Originalnamen »Screamer«) gerade mal 5,99 Dollar und läuft problemlos.
Und das bleibt mir aus seligen Bleifuss-Tagen auch folgerichtig am besten in Erinnerung: Der Multiplayer-Spaß. Mann, was haben wir die Wochen durchrast! Die fantastische Grafik trotz aller Fehler (u.a. heftige Pop-Ups in gefühlt 20m Entfernung, mangels Perspektivenkorrektur heftig schwimmende Texturen und klaffende Löcher in 3D-Objekten) angebetet, kreuz und quer durch das Hauptmenü navigiert - einfach weil das System so stylisch war. Klar war es ein heftiger RR-Klon, aber das gab es eben nur in der Spielhalle bzw. auf der PlayStation, nicht dem PC. Und auf dem war Bleifuss ein mehr als würdiger Ersatz. Eine Schande, dass die Serie nach zwei phänomenalen Nachfolgern sowie einem unterhaltsamen Vogelperspektiven-Ableger sang- und klanglos unterging. EAs NFS-Konkurrenz konnte problemlos vorbeizischen, Milestone macht mittlerweile hauptsächlich Lizenzmüll. Zu schade.

Paul Kautz

Heiße Arcade-Action auf 95er-PCs? Schaut euch die Bleifuss-Screenshots an!

 
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