Cryostasis: Sleep of Reason28.05.2009, Benjamin Schmädig
Cryostasis: Sleep of Reason

Im Test:

Nordwind. Die riesigen Lettern sind hinter dem starken Schneegestöber zuerst kaum auszumachen. Erst als sich der gigantische Eisbrecher langsam aus dem Eis schält, in dem er wie schon seit Ewigkeiten festhängt, kann ich den russischen Namen des Geiserschiffes erkennen. In schwarz-weißen Bildern krieche ich noch einmal durch ein kleines Loch in die Nordwind; als ich erwache, stecke ich längst in ihrem mächtigen Rumpf fest. Knarzend wehren sich ihre eisernen Wände gegen die Kälte, die vereisten Planken geben knirschend unter meinen Füßen nach. Wer bin ich? Und was will ich hier?

Was geht hier vor?

Wer ich bin? Nun, zumindest diese Frage kann ich mit Gewissheit beantworten. Ich bin Meteorologe, mein Name ist Alexander Nesterov. Wir schreiben das Jahr 1981 und ich bin derjenige, den sie losgeschickt haben, um das Mysterium um Nordwind zu erforschen. Aus einem ungeklärten Grund ist das Schiff im ewigen Eis stecken geblieben - von der Crew hat man nichts mehr gehört. Mein Ziel ist also eigentlich klar: herausfinden, was passiert ist.

Der GC-Trailer entführt euch auf einen kurze Reise in die Vergangenheit.Aber schon nach wenigen Metern im Bauch des Eisbrechers wird mir klar, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Es ist nicht die Leiche, die vor einem Generator zusammengebrochen ist. Es ist die Tatsache, dass der ehemalige Matrose plötzlich verschwindet - nur um mich wenige Sekunden später mit einem bösen Grunzen anzugreifen. Nein, ich weiß längst nicht mehr, was ich hier tue!

Mein Kopf dreht sich. Immer wieder sehe ich Bilder aus der Vergangenheit. Immer wieder erlebe ich Szenen aus dem Leben anderer - ich sehe die letzten Stunden vor dem Unglück. Sobald ich einen der Gestorbenen berühre, erlebe ich hingegen die Sekunden vor seinem Tod. Und wenn ich ihren fatalen Fehler berichtige, ändere ich meine eigene Wirklichkeit! Was geht hier nur vor?

Einfallslose Gleise

Erlaubt mir, dass ich den Ich-Erzähler für einen Moment beiseite stelle, denn ihr werdet das Spiel nicht nur aus der Perspektive des Protagonisten erleben. Entwickler Action Forms (Vivisector) rollt den roten Faden nämlich nicht nur durch Momente aus der Vergangenheit auf, die man entweder teilnahmslos erlebt oder spielerisch meistern muss; die Geschichte wird auch auf zwei weiteren Ebenen erzählt. So berichtet eine geheimnisvolle Frauenstimme von der Flucht eines Dorfes vor seinen mächtigen Feinden,  während eine Männerstimme die tatsächlichen Ereignisse an Bord der Nordwind zusammenfasst. Wie die Ebenen miteinander verbunden sind,

Was geschah auf der "Nordwind"? Die gedanklichen Zeitreisen sorgen für Spannung und werfen viele Fragen auf.
behält das Spiel allerdings lange für sich. Tatsächlich scheinen die verschiedenen Elemente - so einzigartig die Struktur auch sein mag - kaum einen weiteren Zweck als das blanke Aufrollen der Handlung zu erfüllen. Nicht zuletzt fordert Cryostasis außerdem die Geduld seiner Spieler - nicht nur im gut gemeinten inhaltlichen Sinne, sondern leider auch im spielerischen.

Denn während mein vorrangiges Ziel das Erforschen der Nordwind ist, stellen sich die spielerischen Fäden entweder als ernüchternd dünn oder erschreckend plump heraus. Wer würde denn z.B. durch einen völlig belanglosen Raum latschen, nur um am anderen Ende einen Hebel umzulegen, von dessen Nutzen er nicht die geringste Ahnung hat? Dass dieser Hebel dann eine Tür öffnen könnte, woraufhin vielleicht ein Steg herunterklappt, der erst den Weg zu dieser Tür freigibt, ist dramaturgischer Unsinn. Dass immer wieder Gegenstände aus unverständlichen Gründen genau dann umkippen, wenn ich gerade einen Gegner besiegt habe, wirkt ähnlich aufgesetzt. Richtig: Man kennt solche Szenen; Spiele-Entwickler müssen sich solcher Mechanismen bedienen, wenn sie ein geradliniges spannendes Abenteuer erzählen wollen. Sie müssen aber auch in der Lage sein, diese Mechanismen wenigstens halbwegs clever zu verbergen oder mir wenigstens einen Grund für mein Tun zu geben.     

Doch hier zieht sich die Ideenlosigkeit leider durch das gesamte Abenteuer: Ich betrete einen Raum, lege einen Hebel um, sehe einen Toten und verhindere seinen einstigen Tod. Vielleicht mache ich auch einen kurzen Sprung in seine Zeit, woraufhin mich in meiner Realität ein Untoter attackiert. Dass auch mal zwei Gegner auf mich losgehen, ist eine Seltenheit. Da passiert es schon häufiger, dass mich ihre Axt durch einen Zaun hindurch erwischt oder dass ein Teil ihres Polygon-Körpers direkt durch die Tür "lugt". Nein, als Ego-Shooter, der Cryostasis trotz seiner Anleihen beim Survival-Horror ebenfalls sein will, wirkt das Spiel zäh, monoton und belanglos.

Das Los des Tauchers

Doch was ist mit dem Horror, der nicht nur in vielen Rückblenden aufgebaut wird, sondern auch durch spielerische Überraschungen für Spannung sorgt? Für mich waren es nämlich die bedacht verteilten, aber immerhin kurz vor jedem Motivationstief gesetzten Szenen, mit denen sich das Geheimnis um die Nordwind hervortut. In einer Rückblende stecke ich z.B. plötzlich in der Haut eines Tauchers, der noch in seinem Anzug von irgendetwas durch das Schiff geschleift wird. Selten habe ich Wehrlosigkeit in einem Spiel so intensiv erlebt wie in jenem Augenblick, als der "Zombie" mit einer Axt auf mich einschlug. Das Glas meiner Glocke splittert, Blut spritzt auf den Anzug - und noch einmal geht die Axt auf mich nieder, und noch einmal...

Und auch die Szenen, während derer ich in der Vergangenheit als fremder Matrose überleben muss, tun dem sonst gemächlichen Spieltempo natürlich gut! Wichtiger wäre allerdings gewesen, den öden Ego-Shooter auch mit spielerischer Abwechslung zu füllen. Rätsel gehören meist zur Kategorie "Lege erst diesen Schalter um, dann wird dort der Weg frei". Abgesehen davon gibt es bis aufs Geradeauslaufen nichts zu tun.

Ein kaltes Lüftchen

Schön, dass die fast komplett abwesende Musik eine dichte Atmosphäre erzeugt und dass das gelegentliche Schmelzen des Eises visuelle Zeichen setzt! Nicht so schön aber, dass die Bildrate in zu vielen Situationen massiv in die Knie geht, während die Hardware-Anforderungen ohnehin im gehobenen Bereich liegen. Ärgerlich auch, dass die Entwickler diese einmal aufgebaute Stimmung spielerisch kaum nutzen.

Ich stehe auf einem verlassenen Schiff irgendwo in der Arktis, meine Sicht wird von Eisblüten bedeckt, das gefrorene Wasser knirscht unter meinen Füßen und ich lausche dem beißenden Pfeifen des Polarwindes - das sind Momente, die in Erinnerung bleiben! Aber wieso spielen Kälte und Einsamkeit denn kaum eine Rolle? Cryostasis versucht sich zwar an einem einfallsreichen Gesundheitssystem, denn ich kann meine Kraft nur an Wärmequellen wiederherstellen. Es sieht zwar imposant, wenn das Eis beim Einschalten einer großen Hitzequelle von den Wänden rinnt. Doch warum stehe ich z.B. nicht unter dem ständigen Druck, mich schnell fortzubewegen, weil ich sonst irgendwann erfriere? Und warum muss ich sekundenlang vor Glühbirnen oder Generatoren verharren, um meine Energie aufzufrischen? Fünfmal zog mich das ungewöhnliche "Aufladen" in eine erbarmungslose Eiswelt - beim sechsten Mal wollte ich nur noch über eine herkömmliche Erste-Hilfe-Kiste rennen, denn spielerisch tut auch diese Idee leider nichts zur Sache. 

Fazit

Es stimmt: Cryostasis hat tatsächlich etwas mit seinem angeblichen Vorbild gemein. Denn die inhaltliche Sinnlosigkeit des spielerischen Tuns, die BioShock einem so clever vor Augen führte, ist hier nämlich das zentrale spielerische Element. Und nein, das ist kein Lob. Es ist die Enttäuschung über ein Spiel, das mit zahlreichen Ideen aus der Masse heraus sticht - nur um spielerisch im Mittelfeld zu versumpfen. Zu lange bin ich hier auf Schienen unterwegs, um immer wieder jeweils einen der immer wieder gleichen Gegner zu bekämpfen, zu selten muss ich meinen Kopf anstrengen - Croystasis besteht aus einem einzigen einfallslosen Levelschlauch. Atmosphärisch und inhaltlich hält mich der Trip allerdings auf Trab, denn das öde Geschehen wird immer wieder von interessanten erzählerischen Momenten unterbrochen. Dann bin ich plötzlich auf einem Schlauchboot oder als Taucher unterwegs und beobachte, wie die Vergangenheit einen weiteren Teil des mysteriösen Puzzles für mich umdreht. Stellt euch vor, Uwe Boll würde Metal Gear drehen: Die Geschichte wäre klasse - der eigentliche Film zum Einschlafen.

Pro

vier interessante Erzählebenen
zahlreiche einfallsreiche Szenen in einem...
interessanter, vorsichtiger Einsatz von Musik
glaubwürdige Darstellung von Wasser & Eis...

Kontra

hohe Rechner-Anforderungen, stark schwankende Bildrate- ... sonst sehr geradlinigen, eintönigen Spiel
kaum fordernde Rätsel- ... spielerisch wird Kälte aber zu wenig genutzt
ungenaue Kollisionsabfrage
spielerische Ziele werden nicht erklärt
einfallsreiches, aber auf Dauer zu umständliches Heilen

Wertung

PC

Das spannende Szenario und erzählerische Höhepunkte - gehen im Action-Einerlei unter.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.