Grim Dawn04.03.2016, Mathias Oertel
Grim Dawn

Im Test: Wie klassisch ist zu klassisch?

Früher war alles besser. Bier war noch nicht mit Herbiziden verseucht. Die Fifa konnte ihre Skandale noch unter den Teppich kehren. Und Action-Rollenspiele waren noch richtige Action-Rollenspiele - mit haufenweise Monstern und noch mehr Beute. Nach einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne und über zwei Jahren im Early Access möchte Grim Dawn beweisen, dass alte Hack&Slay-Tugenden immer noch Erfolg versprechen. Mehr dazu im Test!

Der inoffizielle Titan-Quest-Nachfolger

Abseits des unspektakulär gezeichneten, aber gut eingesprochenen Intros, das trotz künstlerischer Defizite einen düsteren Unterton für das Hack&Slay legt, werden sich Hack&Slay-Veteranen beim Start von Grim Dawn wie seinerzeit bei Titan Quest vorkommen. Man erledigt kleine Aufgaben, bevor man die Klasse seines Helden oder seiner Heldin festlegt. Auftraggeber für die Missionen werden mit einem deutlich sichtbaren gelben Ausrufezeichen markiert. Die Anordnung der Schnelltastenleiste erinnert ebenfalls an das Action-Rollenspiel im antiken Griechenland, das 2006 erschien und bei uns mit 82% eine gute Wertung erhielt. Auch der verzweigte Fähigkeiten-Baum für jede der sechs Klassen, die Karte oder das Inventar wirken wie Varianten des zehn Jahre alten Klassikers.

Das Kampfsystem ist erzkonservativ: Klick-und-tot in Reinkultur.
Und das kommt nicht von ungefähr. Denn Grim Dawn verwendet nicht nur eine in vielen Bereichen erweiterte Version der Engine, die damals von Iron Lore entwickelt und eingesetzt wurde und deren Codebasis man sich 2009 sichern konnte. Ein wesentlicher Teil des Teams von Crate Entertainment besteht aus ehemaligen Designern und Künstlern, die bei Iron Lore unter Vertrag standen. Zusammen mit anderen Entwicklern, die u.a. bei Blizzard North oder 38 Studios (Kingdoms of Amalur) Erfahrung mit Action-Rollenspielen gesammelt haben, hat man schließlich nach erfolgreicher Kickstarter-Kampagne und nicht minder erfolgreicher Early-Access-Phase Grim Dawn fertiggestellt - ein Projekt von Hack&Slay-Verrückten für Hack&Slay-Verrückte quasi.

Leidenschaftlich, aber ohne Innovation

Es wird definitiv nicht an der Beute gespart.
Diese Leidenschaft spürt man bei Grim Dawn vom ersten Moment. Man merkt, dass Crate das Ziel klar definiert hat: Schnörkellose Klick-und-Weg-Action, bei der die Anzahl der verkloppten Monster nur unwesentlich höher ist als die der ausgeschütteten Beute. Jäger und Sammler erwartet herrlich altmodischer Kloppmist, bei dem die Suche nach dem nächsten Set-Gegenstand oder einer seltenen Waffe wichtiger ist als nach dem Sinn in der plakativen "Es-droht-ein-Untergang"-Geschichte. Dementsprechend braucht man auch keine Besonderheiten beim Kampfsystem erwarten. Anklicken. Schlagen. Töten. Und wieder von vorn. Nur unterbrochen vom Einsatz der Spezialfähigkeiten, die über die Schnelltasten abgerufen werden und die im richtigen Moment nicht nur für ein Effektfeuerwerk, sondern auch dutzende zurück gelassene Leichen sorgen, die mitunter in einer herrlich dunkelroten Fontäne den Bildschirm verlassen. So wie es früher war, bevor Konsolen mit ihrem merkwürdigen Steuerungsschnickschnack die klassischen Action-Rollenspiele am PC hinter sich lassen konnten. Allerdings vermisse ich den einen oder anderen Fortschritt. Wie wäre es in den zahlreichen zu entdeckenden Höhlen mit Fallen gewesen, denen man ausweichen muss oder die man alternativ nutzt, um den Gegnern zu schaden? Auch ein aktiver Block hätte Grim Dawn gut zu Gesicht gestanden und zusätzlich geholfen, eine Brücke zwischen klassischen Mechaniken und modernen Elementen  zu schlagen.

Jede der sechs Klassen, die im Dualsystem 15 Kombinationen ergeben, verfügt über einen umfangreichen Fähigkeitenbaum.
Immerhin hat man im Vergleich zu Titan Quest an einige Annehmlichkeiten gedacht, die das Spielerlebnis aufwerten, so dass man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Nicht nur, dass die Miniaturkarte in der oberen Bildschirmecke größer ist als damals und damit eine etwas besser Übersicht gewährt. Man hat die Engine mittlerweile so modifiziert, dass man nicht nur rein- oder rauszoomen, sondern die Kamera auch schwenken kann. Natürlich ist dies nur ein kleines Detail, doch der schon vor zehn Jahren ansehnliche Grafikmotor wurde mit zusätzlichen Effekten aufgepeppt, so dass man sich nicht hinter den aktuellen Action-Rollenspielen verstecken muss. Aber auch mechanisch hat man einige Ärgernisse entfernt, die Titan Quest zu schaffen machten. Gesundheitstränke z.B. werden automatisch aufgesammelt, wenn man in deren Nähe kommt. Man sieht alle als Beute zur Verfügung stehenden Gegenstände, ohne erst umständlich die „Alt“-Taste drücken zu müssen. Und bewegt man den Mauszeiger über ein am Boden liegendes Objekt sieht man sofort die Vergleichswerte zur aktuell angelegten Rüstung oder Waffe, die natürlich nicht nur hinsichtlich der Angriffs- oder Verteidigungszahlen, sondern auch visuell umgesetzt wird. Bei der Beute-Ausschüttung hat Crate die Schraube allerdings etwas überdreht. Mitunter wird man mit so viel beinahe wertlosem Schrott zugeschüttet, dass man immer noch viel Zeit damit verbringt, alles zu vergleichen. Denn selbst unter den „normalen“ Gegenständen könnte schließlich etwas dabei sein, dass es anzulegen lohnt. Allerdings bin ich dennoch nach einigen Stunden dazu übergegangen, mir nur noch das mindestens „magische“ Material zu schnappen und über ein Behalten nachzudenken. Selbstverständlich gibt es auch Sets und weitere Raritätsstufen – so wie man es auch von Spielen wie Diablo kennt. Und man muss Grim Dawn zu Gute halten, dass die Bosse immer sinnvolle Beute zurücklassen.

Das duale System

Bei der Charakterentwicklung zahlt sich die gesammelte Erfahrung von Crate ebenfalls aus. Die sechs zur Verfügung stehenden Grundklassen in dieser Mischung aus düsterer Fantasy und Steampunk bieten für fast jeden Spielstil etwas. Zwar ist die "Nachtklinge" als vermeintliche Schleichklasse etwas zu offensiv ausgelegt, da sich dahinter in erster Linie ein Kämpfer verbirgt, der zwei Waffen gleichzeitig einsetzen kann. Doch sowohl mit ihm als auch dem Soldaten (klassischer Nahkampf), dem Arkanist (Zauberer), dem Zerstörer (im Original: Demolitionist, vorrangig ein Distanzangreifer), dem auf Beschwörung setzenden Okkultisten  als auch dem mitunter auf "Pets" setzenden Schamanen kann man eine Menge Spaß haben und noch mehr Zerstörung anrichten. Da eigentlich alle bei entsprechender Steigerung der drei Grundwerte Konstitution (Physique), List (Cunning, entspricht im Wesentlichen Geschicklichkeit) und Geist (Spirit) nahezu alle Waffen von Dolchen über Zweihandschwerter bis hin zu Gewehren oder Armbrüsten nutzen können, sind die Unterschiede mitunter gering. Das wird allerdings durch die gut 30 aktiven oder passiven bzw. temporär einsetzbaren Fähigkeiten wettgemacht, die man sich im Laufe seiner Karriere aneignen kann.

Über Hingabepunkte restaurierter Schreine kann man in den Konstellationen zusätzliche Boni freischalten.
Und dank des dualen Klassensystems werden aus den anfänglich sechs Klassen mit Stufe 10 satte 15. Denn sobald man die magische Levelgrenze erreicht hat, muss man sich eine zweite Klasse aussuchen. Für meinen Geschmack passiert das zwar etwas früh, da man zu diesem Zeitpunkt gerade erst dabei ist, sich die Eigenheiten der ersten Klasse anzueignen und das Maximallevel derzeit ohnehin erst bei 85 erreicht ist! Immerhin kann die zweite Klasse schon früh die ursprünglich gewählte ergänzen oder verstärken, so dass man z.B. die Nachtklinge mit dem Soldaten kreuzt und damit einen Klingenmeister zur Verfügung hat, der mit seinen sparsam ausgeschütteten Aufwertungspunkten aus beiden Fähigkeitsbäumen auswählen kann. Ein Soldat-Schamane wiederum wird zum "Wärter" (Warder), während die Kombo Zerstörer/Okkultist die Spielfigur zu einem Pyromanten macht. Doch hier hört die Figurenentwicklung nicht auf. Befreit man die mitunter schwer zu findenden Schreine durch z.B. eine Opfergabe, erhält man so genannte "Hingabe"-Punkte (Devotion). Die wiederum kann man auf einer Sternbildskala für weitere Verstärkungen wie erhöhte Gesundheit usw. ausgeben, wobei vollständig gefüllte Konstellationen weitere Boni spendieren. Bei der Individualisierung der Ausrüstung geht man ebenfalls eine Mischung aus klassischen und etwas moderneren Wegen. Einerseits lassen Gegner mitunter Gegenstände fallen, die man in Waffen oder Rüstungen einsetzen kann, wobei diese Fragmente auch zu stärkeren Varianten verschmolzen werden können und dann natürlich effektiver Nachwirkungen haben. Oder aber man geht zum Schmied und lässt sich dort seine Ausrüstung auf den Leib anfertigen - inklusive Tränken. Hierfür werden jedoch Rezepturen benötigt, vor allem, wenn man sein Auge auf besonders mächtige Ausrüstung geworfen hat und dabei nicht auf den Glücksfaktor der ausgeworfenen Beute angewiesen sein möchte.

Spannung erst für Veteranen, Spaß für alle

Inventar und Benutzerführung erinnern nicht von ungefähr an Titan Quest: Bei Crate werkeln u.a. Ex-Entwickler von Iron Lore und nutzen die Engine des Klassikers.
Grim Dawn gibt sich mit einer leichten Zugänglichkeit und einer Flut an Inhalten wie Fraktionen, die sich mitunter gegenseitig ausschließen, aber mit besonderer Ausrüstung und Missionen locken, redlich Mühe, auch Neueinsteiger in die Welt des Hack&Slay zu locken. Doch selbst Anfänger dürften mit dem "normalen" Schwierigkeitsgrad schnell unterfordert sein. Erst ab "Veteran" (danach stehen noch Elite und Ultimate zur Verfügung) muss man ähnlich der drei Abenteuer eines gewissen Van Helsing seinen Energiehaushalt stärker beachten und bei Bedarf auch mal den taktischen Rückzug antreten, um sich zu erholen oder damit die interessante Mechanik rund um die Gesundheit greifen kann. Denn hier hat man einen kleinen Kniff eingesetzt, der sowohl Spannung als auch Dynamik unterstützt. Die im Kampf mitunter schnell schwindende Lebensenergie kann natürlich jederzeit mit einem Heiltrank aufgeladen werden. Wer allerdings in der Hitze des Gefechts kühlen Kopf bewahrt und sich die Konstitution zu Nutze macht (eine transparente über der Lebensenergie liegende zusätzliche Anzeigeleiste), kann viele Tränke für wichtige Situationen sparen. Denn wenn man ein paar Sekunden aus dem aktiven Kampfgetümmel verschwindet, wird zuerst die Konstitution verwendet, um das Leben zu regenerieren. Erst wenn keine Konstitution mehr vorhanden ist, setzt die normale (langsame, aber durch Gegenstände verbesserbare) Regeneration ein, die mit einem Trank massiv an Geschwindigkeit zunimmt. Konstitution wiederum kann durch aufgesammeltes Essen oder Vitalitätstränke wieder aufgefüllt werden - oder aber bei einem Figurenaufstieg. So bekommen die konservativen Auseinandersetzungen letztlich doch noch eine frische Note.

Über zu viele Gegner oder zu wenig Beute kann man sich nicht beschweren.
Die kann man übrigens auch mit mehreren Spielern genießen – und das sowohl per LAN als auch per Internet. Hier kann man im Rahmen übersichtlicher Optionen entweder selber ein Spiel erstellen oder nach bestimmten Gesichtspunkten die gerade laufenden Sitzungen filtern. Man kann nach Schwierigkeitsgrad suchen, ob es ein Hardcore-Spiel mit permanentem Figurentod ist, aber auch einstellen, ob es ein PvP-Spiel sein kann oder wie die Beute verteilt wird. Während das Spiel mit Fremden erfahrungsgemäß nicht jedermanns Sache ist, kommt mit Freunden durchaus Spaß auf. Der hätte allerdings noch vergrößert werden können, wenn es die Möglichkeit gäbe, seine Angriffe oder Spezialattacken so aufeinander abzustimmen, dass besondere Kombos ausgelöst würden. Doch auch hier bleibt man sehr konservativ.

Fazit

Grim Dawn macht nichts neu. Aber mit seinem klassischen Ansatz, der sich irgendwo zwischen Titan Quest einerseits und Diablo 2 andererseits einordnet, macht es durchweg Spaß. Das Kampfsystem könnte zwar etwas ausgefeilter bzw. moderner sein, während die Dungeons mit Fallen usw. aufwarten könnten. Doch als Hack&Slay-Fan fällt es enorm schwer, sich dem Sog aus Gebietserforschung sowie dem Jagen & Sammeln immer besserer Ausrüstung zu entziehen. Die Grundklassen sind trotz leichter Redundanz abwechslungsreich genug, um neugierig zu machen und nehmen schließlich mit dem etwas zu früh eingesetzten Dualsystem Fahrt auf. Ein sauberes Crafting-System, haufenweise Inhalte, abwechslungsreiche Gegner, ein stimmungsvoller Soundtrack, eine ordentliche Technik: Crate Entertainment hat seine Hausaufgaben gemacht und mit Grim Dawn eine leidenschaftliche Kloppmist-Interpretation alter Schule von Fans für Fans abgeliefert. Wem Diablo 3 zu glatt ist und auf die zögerlichen Fortschritte verzichten kann, die z.B. Konsolen-Hack&Slays gemacht haben, wird hier für viele viele Stunden glücklich werden – auch wenn die Geschichte nichts Besonderes ist und deutlich schwächer inszeniert wird als z.B. bei Blizzard.

Pro

sechs abwechslungsreiche Klassen
Dual-System sorgt für 15 Klassen-Kombinationen
viele Annehmlichkeiten (automatisches Aufsammeln, ad-hoc-Vergleichswerte)
dynamischer Tag-/Nachtwechsel...
ansehnliche Kulisse
umfangreiche Fähigkeiten-Bäume
sauberes Crafting-System
zahlreiche Anpassungsmöglichkeiten der Ausrüstung
jederzeit Teleport möglich
breit gefächerte Ausrüstung samt Sets und rarer Gegenstände
passable Gegnerauswahl
kooperativ per LAN oder online spielbar (auch PvP möglich)

Kontra

zu viel wertlose Standardbeute
unspektakuläre Geschichte
schwache Inszenierung
... der sich allerdings nicht auf Figurenverhalten auswirkt
sehr klassische Klick-und-weg-Kampfmechanik

Wertung

PC

Klassische, aber durch die Bank hochwertig umgesetzte Hack&Slay-Unterhaltung mit der typischen Motivationsspirale durch Beutejagd.

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