Im Test:
Die skythische Kriegerin
Sie ist halb tot, flackert bereits bedrohlich und kotzt alle drei Meter - dunkelgrüne Pixel fallen vor unheilvoller Musik in den kaukasischen Sand. Das Erbrechen kostet wertvolle Zeit, denn hinter ihr naht die Schwärze mit ihren gefährlichen Klauen. Aber sie ist eine skythische Kriegerin. Sie hat sich bis hierher gerätselt, gekämpft und nach Antworten gesucht. Sie hat sich von einem seltsamen Mann im Anzug leiten lassen, hat Schallplatten umgedreht, Erfolge getwittert, den Mond verzaubert und in fremden Träumen nach Geistern gejagt. Dabei fing alles so harmlos an, mit einem bellenden Hund im Wald. Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein!
Also rafft sie sich auf, eilt den schroffen Berg weiter hinauf, immer in Richtung des gedrückt gehaltenen Fingers. Sie entkommt dem gehörnten Feind wieder nur knapp. Der Puls steigt und all die Fragen schwirren weiter durch den Kopf. Was war das Ziel der Odyssee? Ich sollte drei verschollene magische Symbole finden, die ich jetzt dabei habe. Werde ich es nach oben schaffen? Was erwartet mich dort? Wie kann man diesen dämonischen Verfolger überhaupt besiegen? Kann ich Schild und Schwert nutzen, soll ich Magie wirken oder einfach rennen? Was bringen mir die Artefakte? Dieses Abenteuer neigt sich zwar seinem Ende, aber ich habe es immer noch nicht durchschaut. Und das ist herrlich.
Suchen, kämpfen, rätseln
Stehe ich einem Wolf, Bären oder Dämon gegenüber, kann ich mich nicht mehr bewegen, aber auch nicht einfach wild zuhauen, denn es kommt es auf das Timing von Block und Schlag an. Wenn ich im richtigen Moment das Schildsymbol antippe, kann ich den Gegner ins Taumeln bringen und selbst erfolgreich zuschlagen. Was zu Beginn sehr leicht anmutet, wird in den größeren Kämpfen anspruchsvoller, wenn man in mehreren Phasen erfolgreich auf die Muster reagieren sowie fatalen Angriffen ausweichen muss. Aber der Kampf ist hier weniger relevant als die Erkundung sowie die damit verbundenen Rätsel.
Waffenupgrades? Rüstungssets? Levelaufstiege? Händler? Gold? Nein, ähnlich wie in Shadow of the Colossus ist das Spieldesign auf das Wesentliche reduziert. Bis auf die ebenso heilenden wie benebelnden Pilze finde ich hier keine klassischen Gegenstände oder steige über gesammelte Erfahrung auf. Im Gegenteil, hier steige ich mit jedem Kapitel weiter ab und verliere immer mehr der fünf Lebenspunkte, bis ich mich mit einem einzigen ins Finale schleppe, kotzend und blinkend - herrlich verkehrte Welt.
Mythische Pixelschönheit
Grau und Grün, Braun und Beige beherrschen die Farbpalette. Hier geht es nicht um grellen Pomp und laute Effekte, hier entsteht eine stillere, mysteriös anmutende Spielwelt, die ihre Stimmung nicht nur dem dezenten Artdesign, sondern der cleveren Symbiose von Helligkeit und lieblichen Tönen, von Dunkelheit und bedrohlichen Klängen verdankt. Wer das Haus des Holzfällers betritt, wird von zwei, drei Klaviertönen und einem knisternden Feuer begrüßt - um ihn herum stehen ein paar Schemel, die Fenster werden nur angedeutet, ansonsten ist nur Schwärze. Es entsteht umgehend ein Gefühl von Gemütlichkeit, aber irgendwas ist anders: Ein bleiche Schallplatte mit Dreiecken in der Mitte prangt über dem Feuer.
Ein digitales Märchen
Halte ich die Maustaste auf der Kriegerin gedrückt, wechselt sie in eine Art Zaubermodus. Eine kugelrunde Aura umgibt sie und ich kann bestimmte Stellen in der Landschaft markieren oder Feinde stoppen. Manchmal kann es auch helfen, das Schwert in den Boden zu rammen oder gen Regenbogen zu recken, um ein Geheimnis zu lüften. Manchmal muss ich die richtige Mondphase abwarten - oder kann ich sie selbst einleiten? Neben diesen kreativen Herausforderungen gibt es allerdings auch einige sehr simple Suchrätsel, die lediglich das Markieren von ein paar Büschen verlangen. Komme ich mal nicht weiter, helfen die Andeutungen von Anzugmann, Holzfäller, Hirtin oder gar Hund im Menü. Aber dazu muss man des Englischen mächtig sein, denn die kryptischen Kommentare lassen sich manchmal nicht auf Anhieb richtig deuten.
Heldenepos mit Augenzwinkern
Trotzdem fühlt man sich noch kurz vor dem Finale wie auf einer digitalen Odyssee, wie ein verfluchter Reisender auf der Suche nach Erkenntnis. Keine Bange: Das ist weder ein esoterischer Trip für Sinnsucher noch ein pathetischer Kreuzzug für Polygonflüchtlinge. Die poetische, aber auch sehr elegante Story um die Kriegerin wird nicht nur mit einem herrlichen Augenzwinkern, sondern auch auf besondere Art erzählt. Wer den Holzfäller antippt, bekommt das hier:
"TO THE MOUNTAIN FOLK OF THE CAUCASUS HE WAS KNOWN AS 'LOGFELLA' ... HE SEEMED COOL."
"LOGFELLA KNEW ALL ABOUT OUR WOEFUL ERRAND ... HE AGREED TO LEAD US UP TO THE OLD ROAD."
"STILL WE DEFINITELY GOT THE FEELING THAT HE WASN'T SUPER JAZZED ABOUT THIS."
Wie auch immer: man folgt dem Holzfäller zur alten Straße, wo sich sehr schnell die ersten Geister, Gräber und Gefahren zeigen.
Geniale Soundkulisse
Man genießt selbst im Angesicht des Todes jeden dieser rätselhaften Augenblicke zwischen urigen Pixelwäldern und einer Soundkulisse, die auf dem iPad Ihresgleichen sucht - Kopfhörer einstöpseln und genießen: Vom leisen Rascheln eines Busches über das gemütliche Knistern eines Feuers bis hin zur Musik von Jim Guthrie, die wie eine moderne Ballade anmutet und mit ihren lieblichen bis geheimnisvollen Tönen weitaus subtiler ist als die pompösen Orchester, die sonst aufspielen.
Zumal der Klang auch ein Teil der Rätsel sein kann: Geräusche sind nicht nur wichtige Stimmungsträger für die epische Atmosphäre, sondern weisen auch auf Lösungen hin - welche Bäume muss man in welcher Reihenfolge antippen? Das Ohr weist den Weg für die Finger. Auch die spielen natürlich eine große Rolle innerhalb der Rätsel auf dem Touch-Bildschirm: Mal muss man schnell über verschiedene Klangquellen wischen, damit ein bestimmter Ton entsteht, oder gleichzeitig von links und rechts Felsformationen aufeinander zu bewegen.
Fazit
Was für ein Erlebnis! Dieses kleine Abenteuer erfüllt endlich auch auf dem PC für knapp vier Stunden das, wozu manche große nicht mehr fähig sind: Es entführt in eine mysteriöse, unheimlich liebevoll designte Welt, die man nicht auf Anhieb durchschaut. Auch wenn das Fingertippen auf dem iPad intuitiver ist als die Maussteuerung: Mit jedem Meter wird man in einen immer stärkeren Bann voller Fragezeichen und Neugier, voller Symbole und Archetypen gezogen. Was zunächst befremdlich wirkt, entwickelt eine ganz eigene Atmosphäre zwischen archaischem Heldenepos und moderner Unterhaltungskultur - das ist Pathos mit Augenzwinkern. Das, was die Entwickler aus Toronto "experimental treatment for acute soul-sickness" nennen, ist im Kern nur ein klassisches, auf das Wesentliche reduziertes Action-Adventure, dem es hier und da vielleicht an Rätselanspruch und Figurenvielfalt mangelt. Außerdem muss man einige Abschnitte mehrmals besuchen. Aber mit ihrem markanten Art-, Sound- und Storydesign bauen die Kanadier eine Stimmung auf, die alle Sinne anspricht: Hier schaut und hört man genauer hin, kämpft konzentrierter und löst aufmerksamer Musik- und Umgebungsrätsel. Man genießt selbst im Angesicht des Todes jeden dieser Augenblicke zwischen urigen Pixelwäldern und Balladenklängen. Hier werden so manche Triple A-Produktionen für ein paar Euro regelrecht vorgeführt, was Stil, Stimmung und Spannungsaufbau betrifft!
Wertung
PC
Was für ein Erlebnis: Dieses kleine Abenteuer entführt in eine mysteriöse, unheimlich liebevoll designte Welt!
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