Lionheart09.10.2003, Jörg Luibl
Lionheart

Im Test:

Lionheart (ab 11,34€ bei kaufen) galt für viele als Geheimtipp im isometrischen Rollenspielbereich: Erstens steht das erfahrene Team der Black Isle Studios dahinter, die schon Klassiker wie Fallout, Planescape Torment oder Icewind Dale produziert haben. Zweitens fasziniert die Story mit ihrem Mix aus alternativer Geschichte und Fantasy. Warum unser Ausflug in die Welt von Shakespeare, Cervantes & Co ein enttäuschendes Ende nahm, klärt der Test!

Ein Herz für Dämonen

12. Jahrhundert: Richard Löwenherz traut seinen Augen nicht, als nach einem von ihm angeordneten Blutbad im Heiligen Land der Erdboden aufreißt und die Hölle ausspuckt - Scharen von finsteren Kreaturen, hässlichen Dämonen, geifernden Unholden und Drachen strömen aus den klaffenden Ritzen. Das Gemetzel des englischen Königs hat ein uraltes Ritual entfacht, das als "die Spaltung" in die Geschichte eingegangen ist.

Vierhundert Jahre später hat sich nicht nur das Antlitz der Erde, sondern auch der Mensch verändert. Im 16. Jahrhundert ist Irland versunken, England besteht nur noch aus zahlreichen Inseln und die magische Energie der Spaltung hat über die Jahre ganz neue, befleckte Menschentypen geschaffen: die Dämonischen, deren kleine Hörner an die üblen Geister erinnern, die sie befallen haben; die Sylvaner, die am besten mit Magie umgehen können und an Elfen erinnern; die Wilden, Furcht erregende Nahkämpfer, die mit ihrem Fell eher an Tiere erinnern und

Eigentlich hat dieses interessante Szenario alles, was man für die Entwicklung einer epischen Story braucht: historische Figuren, authentische Schauplätze, neue Rassen, eine gehörige Portion Fantasy und einen Helden, in dem der Geist des verstorbenen Richard Löwenherz schlummert. Um so größer ist die Enttäuschung, wenn man die Umsetzung der Black Isle Studios spielt.

__NEWCOL__Wechselbad zum Einstieg

Es hapert schon am Intro, denn es gibt keine animierten Szenen. Schön gemalte, aber leider statische Bilder führen Euch in die Historie ein - wo bleibt die dramatische Einstimmung, nach der alle Rollenspieler lechzen? Immerhin wecken die ersten spielerischen Schritte die Neugier, denn die Charaktererschaffung beruht auf dem herrlich offenen SPECIAL-System, das keine Klassenbeschränkungen kennt und zahlreiche Kombinationen ermöglicht.

Ihr wollt ein Zauberer mit beängstigenden Bidenhänder-Fähigkeiten sein? Oder ein listiger Dieb, der in kritischen Situationen Untote beschwört? Oder ein diplomatischer Redekünstler mit Drachenodem? Alles kein Problem, denn nach jedem Aufstieg bestimmt Ihr welche der Kampf-, Diebes- und Magietalente Ihr fördert. Und da man bis Level 30 aufsteigen kann, gibt es viel Zeit zum Experimentieren.

Die Magie ist in vier Unterbereiche wie z.B. Schamanismus gegliedert und deckt mit Heilzaubern, Schutzschilden, Feuerbällen und Exorzismus alle arkanen Bereiche ab. Außerdem zeigen sie im späteren Spielverlauf verheerende Wirkung: Eisstürme, Gewitter und Leichenbomben tragen auch optisch zur Auflockerung des ansonsten tristen Szenarios bei.

Grafikreise in die Vergangenheit

Denn es hapert an der technischen und grafischen Umsetzung. Die klassische isometrische Draufsicht nimmt man als Genrefan noch gerne in Kauf, aber die starre 800x600er-Auflösung und die grottenschlechten Animationen der Figuren sorgen im Jahr 2003 für optische Backpfeifen. Auch dass auf den großen Stadt- und Landkarten weder wichtige Orte angezeigt werden noch manuelle Notizmöglichkeiten bestehen, sorgt schnell für Orientierungsfrust; ganz abgesehen von Abstürzen und vielen kleinen Quest-Bugs.

Wenn sich der Held bewegt wie ein spastischer Zitteraal und die Gegner wie Formel 1-Boliden auf einen zurasen, verliert jedes noch so spannende Szenario seine Faszination. Erstens ist das Schleichen quasi überflüssig, zweitens verlieren Bogenschützen ihre Berechtigung und drittens erinnern die Wellen an Gegnern an altes Diablo-Gemetzel - das als Hack`n´Slay übrigens in vielen Bereichen besser ist. Zwar kann man pausieren, um Tränke auszupacken oder Waffen zu wechseln, aber Kampfbefehle lassen sich so nicht geben; ein übles Versäumnis.

Und die wenigen grafischen Lichtblicke, wie z.B. die schöne Architektur in Barcelona, die mit großen Sternwarten, wuchtigen Kathedralen und gemütlichen Häusern punkten kann, werden von der allgemeinen Sterilität überschattet. Kein Baum bewegt sich, keine Tiere trotten durch die Straßen, die Bewohner haben keinen geregelten Tagesablauf. Nur einige Fahnen wehen animiert im Wind. Das ist definitiv zu wenig, um stimmungsvoll abzutauchen.

__NEWCOL__Immerhin können die wunderbaren Hintergrundmelodien den optischen Reinfall etwas auffangen, denn sie sorgen unaufdringlich und elegant für spanisch angehauchte Atmosphäre. Auch die immer wieder eingestreuten Spracheinlagen überzeugen mit guten Sprechern - leider auf Englisch mit deutschen Untertiteln. Akustisch gibt es an Lionheart trotzdem nichts auszusetzen.

Potenzial verschenkt

Leider krankt Lionheart vor allem an der Atmosphäre, denn es gibt keine Partyinteraktion mit den NPCs: Egal ob Euch berühmte Persönlichkeiten wie Cervantes oder Cortes begleiten - bis auf ein paar Textfenster für den Questauftrag bleiben die Gefährten stumm, leblos und werden zu Mitläufern degradiert. <4PCODE cmd=DGFLink;name=Baldur`s Gate 2;id=607> hat hier schon vor vier Jahren Besseres gezeigt.

Immerhin kann man im Team ganze Feindareale schnell säubern, wenn man mit zwei Begleitern unterwegs ist. Und spätestens nach der ersten Stadt Barcelona ist das lebenswichtig, denn dann macht Lionheart mit ganzen Gegnerwellen unrühmlicher Weise <4PCODE cmd=DGFLink;name=Diablo 2;id=10> Konkurrenz und verspielt das letzte Fünkchen Rollenspielflair.

Vor allem, weil die Gegnerscharen kaum noch abebben, und der Schwierigkeitsgrad in wenigen Minuten zwischen leicht und bockschwer taumelt. Weniger Gegner, dafür dramatischer inszeniert und mit einem ordentlichen Kampfsystem versehen, hätte Wunder gewirkt - hat`s aber nicht.

Und so viel Größe Namen wie Shakespeare, Machiavelli oder Galileo auch versprachen, so klein werden diese, wenn sie Euch schon nach wenigen Spielminuten in Barcelona begegnen und sofort mit wichtigen Aufträgen betrauen. Bei Galileo ist das noch verständlich und mit interessanten Quests sogar richtig gut inszeniert, da er Eure Berufung kennt, aber bei den anderen wirkt es einfach aufgesetzt.

Außerdem bleibt Euer Verhältnis zu den Fraktionen der Tempelritter, der Inquisition und des Ordens des Saladin zunächst völlig undurchsichtig, da man nicht wie in <4PCODE cmd=DGFLink;name=Arcanum;id=445> durch bestimmte Aktionen zu einer Gruppe tendieren kann, sondern durch ein paar Quests direkt aufgenommen wird.

Viele gute Ansätze

Um so ärgerlicher sind all diese Kritikpunkte, da Lionheart viele gute Ansätze bietet, die in den richtigen Entwicklerhänden für wesentlich mehr Spielspaß gesorgt hätten. Gerade die ersten Stunden bieten einige süffisante Gespräche und Situationen: Die Einwohner reagieren sogar mit Abscheu und rassistischen Sprüchen, wenn Ihr z.B. einen Wilden spielt. Diese soziale Interaktion hätte man sich auch mit den eigenen Gefährten gewünscht.

Auch die Quests können ab und zu für die schlechte Präsentation entschädigen: Man soll einen arabischen Agenten finden, der inkognito unterwegs ist, kann einen politisch brisanten Mord auf verschiedene Arten aufklären und soll Galileos sprechende Dampfmaschine zur Arbeit überreden. __NEWCOL__

Und ein mechanischer Arm verschafft Euch einen schlagkräftigen Begleiter. Ein Höhepunkt ist sicher auch die Jagd mit dem unter Verfolgungswahn leidenden Schriftsteller Cervantes, der seinen eigenen literarischen Dämon Don Quichotte loswerden will.

Mir gefällt auch, dass ich Angriffsgeschwindigkeit und Ziel bestimmen kann. Ein Schlag auf den Kopf erhöht die Chance kritischer Treffer, Schläge auf den Körper können den Feind zurückwerfen, Treffer an Armen oder Beinen können verkrüppeln. Und schließlich kann ich meine Schlagfrequenz zu Lasten der Genauigkeit erhöhen - oder umgekehrt.

Auch lohnt es sich endlich mal, Charaktere mit ausgeprägten Entdecker- und Suchfähigkeiten loszuschicken, denn man findet tatsächlich versteckte Schätze und Gegenstände. Und selbst das Schlösser knacken weiß zu gefallen, denn nach mehreren Fehlversuchen hat man keine Chance mehr - das ist authentisch und für Diebe ein Anlass, zu trainieren oder sich vorher magisch schlüsselfit zu trinken.

Doch all das sind wirklich nur kleine spielerische Lichtblicke in einem insgesamt schlampig umgesetzten, grafisch und technisch veralteten sowie dramaturgisch verkorksten Titel. Dass die alte Schule der isometrischen Rollenspiele grafisch nicht mehr vom Hocker reißt, kann man verschmerzen. Dass sie spielerisch Rückschritte macht ist jedoch unverzeihlich.

Fazit


Schade, schade, schade: Diese herrliche Story, dieses hervorragende Charaktersystem, diese interessanten Möglichkeiten! Es gibt keine Klassenbeschränkung, jede Menge Zauber und ein Sammelsurium an Quests. In Lionheart steckt mindestens so viel Potenzial wie in Arcanum, aber die Black Isle Studios haben entweder nicht mehr die Mannschaft, die noch für Rollenspielqualität à la Fallout bekannt war, oder sie mussten das Spiel in Windeseile auf den Markt schmeißen. Anders ist nicht zu erklären, dass der Titel nach dem unspektakulären, aber spielerisch reizvollen Einstieg in Barcelona zum schlechten Diablo-Klon verkommt. Hinzu kommen viele nervige Bugs, grottenschlechte Animationen und ein Kampfsystem, das aufgrund pfeilschneller Nahkämpfer jeden Bogenschützen sinnlos macht. Lionhearts erste Hälfte bietet durchschnittliche Rollenspielkost mit kleinen Quest-Highlights und magerer Grafik, seine zweite Hälfte mutiert zur schlechten Hack`n´Slay-Orgie. Angesichts günstig zu erwerbender Spieleperlen wie Diablo 2, Arcanum oder Baldur`s Gate 2 eine tödliche Kombination.

Pro

<li>interessante Story</li><li>gutes Trefferzonensystem</li><li>sehr gute Musikuntermalung</li><li>klasse Charakterentwicklung</li><li>einige stimmungsvolle Quests</li>

Kontra

<li>viele Bugs</li><li>sterile Städte</li><li>hektische Kämpfe</li><li>zittrige Animationen</li><li>keine Partyinteraktion</li><li>keine interaktive Karte</li><li>schlechte Spielbalance</li><li>Auflösung nur 800x600</li><li>keine lebendige Spielwelt</li><li>keine Zwischensequenzen</li><li>viel verschenkte Atmosphäre</li><li>ermüdende Hack`n´Slay-Orgien</li><li>schlechte Integration des Helden</li>

Wertung

PC

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