Wasteland 222.09.2014, Jörg Luibl
Wasteland 2

Im Test: Comeback eines Rollenspielmeisters

Wasteland war 1988 ein Pionier. Es inszenierte lange vor Fallout nicht nur das erste Abenteuer in einer Endzeit. Brian Fargo und dem Team von Interplay gelang nach The Bard's Tale ein weiterer Meilenstein innerhalb der Rollenspiele - vor allem hinsichtlich der Offenheit und der Figurenreaktionen. Mehr als zwanzig Jahre später finanzierte der Veteran den Nachfolger in Rekordzeit über Kickstarter. Was hat das von so vielen Fans herbeigesehnte Wasteland 2 (ab 0,69€ bei kaufen) zu bieten? Mehr dazu im Test.

Rätselhafte Gestalten

Plötzlich folgt jemand meiner Gruppe. Er heißt „Provost“, quatscht nur Latein, sieht aus wie ein Agent und zückt seine Pistole in den Gefechten, um mir zu helfen. Ich kann nicht mit ihm reden, ihm keine Befehle geben, aber er läuft mir stoisch hinterher. Irgendwann verschwindet er. Wieso, weshalb, warum? Hätte ich sein QVEM SI NON TENUIT und die anderen lateinischen Kommentare vielleicht übersetzen sollen? Hätte ich ihn über diesen und andere Hinweise als Charakter aufnehmen können? Fragen über Fragen, die mir keine Ruhe lassen.

Englisch ist die bessere Wahl: Wasteland 2 ist zwar auch mit deutschen Texten spielbar, aber die Übersetzung ist schwach.
Ich lade also den Spielstand neu. In diesem Anlauf stirbt der mysteriöse Fremde in einem Kampf. In seinem Rucksack finde ich ein Amulett: Die Eulen der Minerva - aha! Aber warum trug er das Zeichen einer römischen Göttin? Hilfe, ich bin so schlau als wie zuvor! Ist das alles nur Quatsch oder hat es eine Bedeutung? Selbst wenn Brian Fargo nur zum Spaß solche Köder ausgelegt haben sollte: Es sind diese skurrilen Situationen und rätselhaften Momente, die Wasteland 2 auszeichnen. Und davon gibt es eine Menge.

Willkommen in der irren Endzeit

Dabei sind auf den ersten Blick einfach nur alle bekloppt in diesem Amerika des Jahres 2073: Junkies, die sich Aufputschmittel aus Skorpiongift reinziehen. Entflohene Häftlinge, die sich zu Killergangs zusammenrotten. Menschenhändler, die Frauen und Männer als Sexobjekte in Käfigen halten. Eine Sekte, die einen Nuklearsprengkopf wie einen Gott anbetet und ihre Jünger als lebende Bomben verheizt. Dazu mutierte Riesenhasen, kranke Ärzte, wilde Roboter oder störrische Ziegenböcke, die einem tatsächlich eine Kopfnuss verpassen.

Man startet mit vier Helden in der Basis der gesicherten Basis der Desert Ranger. Der Schwierigkeitsgrad ist in vier Stufen jederzeit änderbar.
Zwischen all dem Brutalen und Grotesken gibt es aber immer wieder ein Augenzwinkern, immer wieder einen süffisanten Unterton oder Anspielungen. Wie kann man eine Aufgabe ablehnen, in der ein Freak alte Konsolen sammelt und man ein CD-i für ihn auftreiben soll? So entsteht ein morbider Charme in einer Welt, die seit 75 Jahren von den Folgen einer Apokalypse geprägt wird.

1998 kam es laut Drehbuch zum Atomkrieg und seitdem ist Amerika in Enklaven und zig regionale Fraktionen zersplittert. Die Reste einer Pionier-Kompanie der US-Armee bilden die "Desert Ranger". Sie versuchen das Land wieder aufzubauen. Damit knüpft dieses Wasteland 2 direkt an die Geschehnisse des Klassikers an. Und wenn man seine Charaktere erstellt, fühlt man sich tatsächlich wie in einer Zeitmaschine, die einen in die Ära von Baldur’s Gate & Co katapultiert.

Komplexe Charaktererschaffung

Man hat die Wahl, ob man selbst vier Charaktere für seine Gruppe erstellt oder aus den neun vorgefertigten Figuren wählt. „Fade“, „Slick“, „Big Bert“ & Co haben vielleicht den Vorteil, dass sie eine kleine Vorgeschichte besitzen und dass sie bereits ganz gut spezialisiert sind. Aber egal, was ihr vorzieht: Neben den vier Startfiguren werden euch viele Nebenfiguren mit eigenen Persönlichkeiten begegnen, die ihr anheuern könnt, so dass bis zu sieben Desert Ranger unter eurer Führung unterwegs sind – auch Tiere und Roboter können hinzu kommen.

Vier Charaktere darf man erstellen - oder aus neun vorgefertigten Desert Rangern wählen.
Wer seine Abenteurer selbst entwerfen will, hat leider nur eine sehr bescheidene Auswahl an Portraits, aber kann dafür hinsichtlich der sieben Attribute wie Intelligenz, Stärke oder Glück sowie der knapp 30 Fähigkeiten von Tierfreund über Anführer bis Schlossknacker aus dem Vollen schöpfen – und sich damit für Stunden von allen sozialen Kontakten verabschieden. Man findet drei separate rhetorische Fähigkeiten, sechs im weitesten Sinne diebische Fähigkeiten und zehn Waffenfähigkeiten. Hinzu kommen zwei medizinische, einige aufklärende sowie das bizarre Reparieren von Toastern. Ihr meint, das ist überflüssig? Probiert es aus.

Attribute beeinflussen Fähigkeiten

Viele NSC (Nicht-Spieler-Charaktere) warten in Arizona: Bis zu sieben Leute dürfen im eigenen Team dabei sein. Manchmal muss man wählen...
Wer seine Punkte frei verteilt, muss sich nicht nur angesichts der vielen Möglichkeiten ein wenig gegenüber anderen Rollenspielen umstellen, sondern auch was die Wechselwirkungen angeht - zumal sich viele Attribute wie Koordination auch auf die Anzahl der Aktionspunkte oder Trefferchancen im Kampf auswirken. Schön ist, dass die prozentualen Chancen, was Nah- und Fernangriffe, die Initiative sowie das Ausweichen angeht nach jeder Punktvergabe in einem Statistikfenster angezeigt werden.

Was man auf jeden Fall braucht: Einen Mediziner! Und der sollte sich sowohl beim einfachen Heilen als auch in der Chirurgie auskennen, damit er Blutungen oder Gifte stoppen kann.

Man kann sich also wunderbar in die Erstellung vertiefen, kann sich über eine  hohe „Awareness“ und „ Coordination“ einen Spezialisten für die Erkundung, über viel „Charisma“ einen  Gesprächsleiter oder über viel „Speed“ und „Strength“ einen Nahkämpfer schnitzen. Jedes Attribut lässt sich im Laufe des Abenteuers in zehn Stufen steigern. Allerdings bleibt unklar, wie sich manche Attribute und die vielen Skills beeinflussen: Warum wird bei „Charisma“ z.B. nicht angezeigt, ob es auch direkt die drei Rhetorikarten „Hard Ass“, „Smart Ass“ und „Kick Ass“ steigert? Hier fehlt es an zusätzlichen Informationen.

Ein Mord in der Wüste

Das Abenteuer startet mit einem Mordfall: Wer hat den Desert Ranger Ace auf dem Gewissen? Während man mit seinen schlecht ausgerüsteten Frischlingen im Auftrag des bärbeißigen General Vargas nach Spuren sucht und Indizien sammelt, Höhlen und Täler erkundet, dabei sogar aktiv mit der Schaufel buddelt, zeichnet sich hinter einem Schleier aus Mutmaßungen und Radiodurchsagen irgendwann eine größere Bedrohung ab:

"Come to the New Citadel…modern man,,,,half human, half machine…child of the citadel…an angel, serving the god of the future."

Sind da etwa Killer-Roboter unterwegs? Oder sogar mehr als das – synthetische Kreaturen, halb Mensch, halb

Terra incognita: Das Gebiet um die Basis ist kaum erforscht - man kann Oasen, Depots und Siedlungen finden.
Maschine? Zwar ist Wasteland 2 episch, was die Spielzeit on 40 Stunden plus X sowie die reine Textmenge angeht, aber man sollte kein packendes Epos mit Dramaturgie erwarten. Es gibt auch einige Leerlaufphasen, in denen die eigentliche Hintergrundgeschichte nicht mehr als weitere vage Andeutungen liefert, dass sich irgendwo da draußen etwas zusammenbraut.

Wer auf die Dialoge achtet und sich mit Geduld durch Tagebücher & Co liest, wird dennoch ein Bild vom historischen Ganzen bekommen. Dazu gehört, dass General Vargas damals zusammen mit Ace den wahnsinnigen Mutantenmeister "Finster" bekämpfte. Schade ist, dass es zwar eine Questliste und auch Bücher, aber keinerlei historische Übersicht oder etwa ein Namens- und Stichwortverzeichnis gibt. Auch all die Fraktionen werden nicht aufgeführt, so dass man kaum etwas nachschlagen kann. Dabei hätte gerade diesem Spiel mit seiner Geschichte ein Archiv sehr gut getan!

Schau genau hin!

Trotz der Apokalypse gibt es mitunter farbenfrohe Schauplätze. Allerdings mit gewissen XXL-Mutationen...
Dass man in Wasteland 2 nicht alles auf Anhieb durchschauen kann, ist aber auch gleichzeitig eine große Stärke. Man hat das angenehme Gefühl, dass dieses Spiel auch in kleinen Situationen mit einem spielt und dabei leise flüstert: Hey, lass dir Zeit, schau genau hin! Es lohnt sich, die Areale in der verstrahlten Wüste Arizonas zu erkunden, weil sie bis auf wenige Zufallsgebiete nicht wie sterile Levelschläuche, sondern wie handgemachte Orte wirken. So findet man nicht nur Zugänge, Indizien, Fallen, Minen, Safes oder Kisten, sondern auch Gags, Hinweise oder böse Überraschungen – manchmal versteckt auf diesem einen Kreuz auf dem Friedhof, manchmal als tickende Bombe an einem Fahrrad.

Nur Charaktere mit hoher Wahrnehmung können in einem kreisrunden Bereich nach Interessantem scannen und dann vielleicht auf einen zusätzlichen Klick erfahren, ob auch eine Falle am grün markierten Zaunschloss angebracht ist; erst dann wird sie rot – hier wird also nicht auf Anhieb alles farblich markiert, sondern erst mit entsprechender Fähigkeit und nach erneuter Beobachtung. Mir hat das Erkunden in diesem Rollenspiel auch deshalb so viel Spaß gemacht, weil es von vielen stimmungsvollen Texten und Kommentaren begleitet wird. Wasteland 2 animiert nicht nur zum genauen Hinsehen, sondern auch zum Mitlesen.

Lies genau mit!

Die Unity Engine inszeniert zwar auch ganz ansehnliche Landschaften, die trotz der Apokalypse nicht nur trostlos und düster, sondern mitunter überraschend farbenfroh und lebendig wirken. Man kann die Kamera frei drehen und zoomen, der Wind lässt Sträucher und Fahnen wehen, es gibt sogar ein, zwei malerische Flecken sowie grundsätzlich interessante grafische Kleinigkeiten an Häusern, Zügen oder Schildern. Schade ist nur, dass man viele höher gelegene Bereiche nicht betreten kann, dass die Animationen recht beschränkt sind und Gestik sowie Mimik nicht wirklich existieren. Aber die liebevoll arrangierte, technisch solide Kulisse ist ohnehin nicht der Star in diesem Spiel.

Sträucher und Fahnen bewegen sich im Wind, aber Mimik und Gestik lassen zu wünschen übrig.
Es ist vor allem der Text mit seiner Hingabe und seinen Nuancen. Wer des Englischen mächtig ist (um die schwache deutsche Übersetzung sollte man einen weiten Bogen machen!), darf sich auf Beschreibungen, Funkdurchsagen sowie Dialoge freuen, die zum Besten gehören, was ich in den letzten Jahren in einem Computerspiel gelesen bzw. gehört habe. Warum? Weil sie nicht nur für das Augenzwinkern innerhalb dieser brutalen Endzeitwelt sorgen, sondern auch jede Menge Stimmung und Rollenspielflair transportieren! Hier ist der Text endlich wieder ein Stilmittel, das so viel mehr ausdrücken kann als ein paar Nebelpartikel hier oder bewegte Schatten da. Hier wird bewiesen, dass es keine großartige Technik braucht, um eine Sogwirkung zu entfachen.

Der Text ist König

Die Radio-Kommunikation mit General „Snake“ Vargas sorgt z.B. nicht nur für

Nicht nur die liebevollen Kleinigkeiten in der Kulisse, vor allem die beschreibenden Texte können sich sehen und lesen lassen.
Metal-Gear-Atmosphäre, sondern überträgt unheimlich coole, unfreiwillig komische bis tragische Gespräche mit anderen Teams: So wird Vargas in seiner Verzweiflung oder Wut als Anführer greifbarer. Man bekommt zudem das authentische Gefühl, mit seiner Anfängergruppe nicht im Mittelpunkt zu stehen und erlebt quasi live, wenn andere Ranger in Schussgefechte geraten oder Bewohner um Hilfe bitten. Aber nicht nur das Zuhören, auch das Lesen macht richtig Laune, wenn sich Charaktere der eigenen Gruppe mitten im Gefecht abfällig über die Schusskünste äußern, sich peinlich daneben benehmen oder philosophieren.

Wenn man neue Räume oder Gebiete betritt, werden diese z.B. kurz beschrieben. Das animiert zum einen dazu, nicht so schnell durch die Flure zu rauschen, sondern mal innezuhalten und etwas auf sich wirken zu lassen – auch, weil sich im Text ein Hinweis verbergen könnte. Und wenn eine Figur mit hoher Wahrnehmung ein Gespräch anfängt, fällt ihr vielleicht etwas am Aussehen des Gegenübers auf, z.B. eine Tätowierung oder ein Amulett, was dann ebenfalls als Text eingeblendet wird. Das sind einfach tolle Momente, weil sie für eine besondere Intimität zwischen Spiel und Spieler sorgen – und das schon im Einstieg. Während erste Hinweise zu Steuerung, Bedienung & Co sehr elegant an der Seite angeboten werden, fühlt man sich in eine vergangene Rollenspielära zurückversetzt.

Erkundung zwischen Reiz und Langeweile

Diverse Gangs, Clans und Sekten bevölkern die Wüste. Wen soll man bloß unterstützen? Ganz alleine wird es jedenfalls schwierig, denn die Macht der Desert Ranger reicht nicht viel weiter als bis zum Ende der eigenen Basis. Kaum ist man mit seinem kleinen Trupp in Arizona unterwegs, blickt man in die Fratze einer Endzeitwelt à la Mad Max - verkommen, verstrahlt, lebensfeindlich. 

Ist man auf der vom Nebel zunächst verschleierten Landkarte unterwegs, kann viel passieren: Radioaktiv verseuchte Zonen blinken giftgrün und machen die Gruppe krank. Man kann im Vorbeilaufen Tempel, Verstecke oder Siedlungen finden, zufällig von Räubern attackiert werden oder auf Händler treffen. Weil man Wasser verliert, muss man zudem

In radioaktiv verseuchten Gebieten verliert man Gesundheit - es sei denn, man trägt entsprechende Ausrüstung.
möglichst Oasen nutzen, um seine Kanister wieder aufzufüllen. Gerade in den ersten Stunden macht das Aufdecken der Karte richtig Laune, weil das Erkunden gefährlich anmutet.

Und im Gegensatz zur Beta, wo es nach zehn Stunden auf dem zweiten von vier Schwierigkeitsgraden viel zu leicht wurde, hält sich die Spielbalance länger, weil es weniger Geld und Material gibt und die Feinde etwas knackiger sind. Wer richtig gefordert werden will, sollte allerdings auf Stufe 3 beginnen. Denn je länger man spielt, desto sicherer wird es, weil man den Zufallsangriffen in neun von zehn Fällen ausweichen kann und Wasserknappheit eigentlich nie zum Problem wird. Trotzdem entsteht das angenehme Gefühl einer Terra incognita, denn die Leute kennen quasi nur noch ihr regionales Umfeld und die radioaktive Strahlung sorgt dafür, dass Inseln und Korridore innerhalb einer eigentlich freien Zone entstehen – so muss man auch Umwege in Kauf nehmen.

Kein überflüssiger Komfort

Mit der Zeit füllt sich die Karte mit vielen Orten. Leider kann man regionale Karten nicht beschriften.
Wasteland 2 verzichtet auf den sonst so üblichen Komfort, was die Anzeige von Zielorten oder –Personen auf der Karte angeht. Und das ist bis zu einem gewissen Grad der Erkundung eine Wohltat: Hier muss man selber herausfinden, wer sich wo aufhält! Es gibt nichts Langweiligeres als die direkte Anzeige von Zielen noch vor Beginn einer Mission, weil man damit den wichtigen Reiz der Entdeckung tötet. Aber Brian Fargo und sein Team hätten auch unnötige Lauferei verhindern können.

Denn hat man die eigene Recherche über das Aufdecken eines Gebietes und Gespräche mit Bewohnern erstmal abgeschlossen, vermisst man Orts- und Personenangaben auf den Karten. Letztere gibt es nur sporadisch, aber nicht konsequent z.B. für Auftraggeber. Die weitläufigen Gebiete werden weder automatisch beschriftet noch kann man sich selbst Notizen darin machen – gerade Letzteres ist sehr schade, denn das hätte das Pen&Paper-Flair noch unterstützt. So muss man sich also vieles merken und bekannte Areale immer wieder absuchen. Noch etwas fällt bei der Erkundung negativ auf: Es wirkt etwas befremdlich, dass man Attribute bzw. Skillpunkte tatsächlich beim Besuch von Schreinen erhält, die wahllos im Land verteilt sind. Ja, das ist eine kleine Hommage an die Schwarmfinanzierer da draußen, aber es wirkt wie ein Fremdkörper.

Gesetzestreuer oder opportunistischer Ranger?

Dafür hat man ein sehr offenes Abenteuer vor sich. Denn zu den Gefahren durch Überfälle auf der Karte gesellen sich böse politische Überraschungen: Man stößt auf verzwickte regionale Konflikte, in die zwei, manchmal drei Fraktionen involviert sind. Und hier beginnt das eigentliche Rollenspiel, denn man kann in den Gesprächen mit den Leuten mehr erfahren, kann auf sie einwirken, über erledigte Aufgaben ihre Gunst gewinnen und sich nach der Recherche vor Ort vielleicht für eine Fraktion entscheiden - oder gegen alle.

Soll man den verlängerten Arm von General Vargas spielen und den gesetzestreuen Desert Ranger mimen? Das kann

Die klitzekleine Frage ist gestellt: Wer darf Nuklearsprengköpfe besitzen? Ihr entscheidet!
man tun, aber recht schnell verschwimmen das gut Gemeinte und für die Leute da draußen extrem schlecht Erlebte. Sprich: Es gibt viele Verbitterte, denen nicht geholfen wurde und die vor allem die Ranger mit ihrer Doppelmoral dafür verantwortlich machen. Wasteland 2 simuliert das Dilemma der selbst ernannten Sheriffs sehr gut, wenn Gespräche mit Cowboys plötzlich eskalieren und Waffen gezogen werden.

Soll man seine Fahne in den Wind hängen und so schnell es geht mit dem eigenen Vorteil flattern? Der Opportunismus scheint mitunter das Einfachste, denn je nachdem ob man Geld, Waffen, regionalen Zugang oder Verbündete braucht, kann man ja mal eben ideologisch umdisponieren - egal, ob es sich um Terroristen, Menschenhändler, Killer oder Sekten handelt. Ihr wollt das skrupellose Arschloch spielen? Auch das ist möglich. Aber nicht alle NSC (Nicht-Spieler-Charaktere) finden es lustig, wenn man Unschuldige einfach über den Haufen schießt; sie verschwinden vielleicht. Und General Vargas kann einen nicht nur so richtig zusammen scheißen, wenn man die Gesetze der Ranger missachtet.

Rhetorische Deeskalation in Dialogen

Genaues Lesen und das Investieren in rhetorische Fähigkeiten lohnt sich - manche Konflikte lassen sich auch verbal lösen.
Viele Konflikte lassen sich verbal lösen. Vor allem, wenn man die drei rhetorischen Talente einsetzt. Hat man genug Punkte auf Einschüchterer, Charmeur oder Überzeuger verteilt, bekommt man zusätzliche Gesprächsoptionen, die besonders markiert werden. Das Dialogsystem ist dabei so dynamisch strukturiert, dass man auch mal zwischen der zusätzlichen harten oder logischen Variante entscheiden muss. Es gibt also keine Sicherheit, nur weil eine erweiterte rhetorische Option im Gespräch erscheint! Man muss überlegen, in welchem Fall sich was lohnt – auch hier animiert Wasteland 2 zum genauen Mitlesen.

In der Theorie kann man das Dialogsystem auch aktiv nutzen, indem man nicht nur die gelben oder roten Schlagwörter anklickt, sondern selbst etwas eintippt – das hört sich nach einem offenen System an. Das beschränkt sich in der Praxis allerdings meist auf Zahlencodes, denn selbst wenn man wichtige Schlüsselbegriffe oder Namen eingibt, die aus irgendeinem Grund noch nicht als Schlagwort aktiv sind, passiert meist nichts. Ein Beispiel: Da wird in einem Dialog von einem durchgeknallten Desert Ranger namens Rick Baychowski gesprochen, der etwas wissen würde und jetzt Gefangener sei. Fragt man General Vargas per Texteingabe nach diesem Rick, egal ob nur Vorname oder Nachname, kann er nichts mit dem Namen anfangen. Und das, obwohl dieser Rick etwas weiter in der Zelle der Desert Ranger hockt - arghs.

Holen, bringen und schnell reagieren

Zwar gibt es auch Hol- und Bringdienste sowie klassische Suchaufgaben: Hier einen Brief überbringen, da eine Vermisste finden. Aber schön ist, dass einige Quests vom Schema F abweichen, indem sie nicht nur über Notfälle per Funk für Echtzeitspannung sorgen: Man muss in einer Situation z.B. schnell reagieren und die Umgebung nutzen, indem man eine Säule zum Einsturz bringt, um einen Ertrinkenden aus dem See zu retten. In einer anderen Situation gilt es ein brennendes Haus zu löschen, indem man umgehend für Wasser sorgt – aber wie?

Hinzu kommen Situationen, in denen man über Fähigkeiten etwas reparieren muss oder in denen man anhand eines

Für manche Abkürzungen muss man Schlösser knacken oder rohe Gewalt anwenden.
Schaltplans den Strom in Räumen aktivieren muss, so dass sich die Luftschleusen öffnen – ohne dass das System überlastet wird. Und wer Aufträge für General Vargas besonders gut erledigt, wird auch mit fortschrittlichen Waffen, Rüstungen oder Amuletten in der Basis belohnt, die dauerhaft eine Fähigkeit verbessern.

Sehr klassisch, aber vielfältig ist auch der Einsatz der im weitesten Sinne diebischen Fähigkeiten. Die werden nicht als aktive Minispiele, sondern als Statistikprobe über eine kleine Animation inszeniert. Man kann zig Schlösser aufbrechen, Safes knacken, Codes hacken, Alarm abschalten sowie Fallen entschärfen – und das wird mitunter mehrfach verknüpft. Sehr konsequent: Kommt es bei einer Probe zu einem kritischen Fehlschlag, bleibt der Safe auch bis Spielende verschlossen. Apropos keine Öffnung: Selbst wer Zäune oder Gatter aufbrechen will, muss einen Charakter mit entsprechender Stärke und der Fähigkeit in roher Gewalt einsetzen.

Alles hat Konsequenzen

Egal was man tut: Es hat Konsequenzen - im Kleinen sowie im Großen. Man geht trotz der Warnung der Wachen noch ein paar Schritte weiter auf das Heiligtum zu? Pech gehabt, sie greifen sofort an. Man erschießt den schmierigen Zuhälter, der eine Familie bedroht? Das fühlt sich gut an, aber eine Minute später kommt die Durchsage per Funk, dass die mächtige Gang der "Red Scorpions" einen quasi für vogelfrei erklärt hat. Man rettet Highpool mit seiner Wasserversorgung statt das AG Center mit seiner Bioforschung? Tja, dann breitet sich der Virus aus und plötzlich werden Orte auf der Karte infiziert. Man zerstört die Strukturen einer Sekte, die Nuklearsprengköpfe anbetet und Wegezoll nimmt? Ist möglich, aber danach sichert niemand mehr den Weg durch den Canyon, Gangs füllen das Machtvakuum und viele offene Aufträge werden vielleicht ad acta gelegt.

Und das ist eine große Stärke von Wasteland 2, denn so spielt man aufmerksamer und überlegt länger, wie man handelt. Aber selbst als Diplomat hat man es mitunter schwer: In einem Gebiet wird quasi der Palästina-Konflikt im

Lust auf eine Tour? In der Basis der Desert Ranger werden historische Artefakte ausgestellt...
Kleinen simuliert, indem man zwischen zwei scheinbar unversöhnlichen Parteien verhandelt, die bis zur Schmerzgrenze stur sind und dabei das Leben ihrer Leute aufs Spiel setzen. Dabei hat man viele Möglichkeiten: Man kann sich für eine Partei entscheiden, beide Anführer eliminieren oder tatsächlich die Versöhnung anstreben – dann sollte man rhetorisch sehr gut ausgebildete Leute dabei haben. Zwischen all diesen Möglichkeiten kann natürlich viel schief gehen.

Das Nachdenken zahlt sich aus, denn es gibt auch positive Auswirkungen, von Kommentaren bis hin zu aktiver Unterstützung: Wer sich wie ein echter Desert Ranger aufführt, wird im Lager von den Kumpels gelobt. Wer einem Haufen halb Verdursteter mit seinem Wasser hilft, trifft sie später in einer Siedlung und kann auf sie zählen. Wer einen Jungen vor dem Ertrinken rettet, wird es leichter haben, in seiner Familie und bei seinem Clan angehört zu werden. Dabei ist es schwierig, den aktuellen Status quo im Auge zu behalten: Es gibt weder ein Moralsystem noch eine Übersicht der politischen Fraktionen - man muss die Lage anhand der Reaktionen der Leute einschätzen.

Auf die kleinen Dinge achten

Wasteland 2 animiert auch abseits der Quests dazu, wirklich auf alles zu achten. Vor allem, wenn aufgebrachte Leute betonen, dass man kein Wort mehr sagen, keinen Schritt mehr machen soll. Selbst aus normalen Situationen heraus

Wer die Gegend aktiv erkundet, kann nicht nur Fallen frühzeitig finden.
kann es plötzlich zu Konflikten kommen, wenn man nicht zuhört: Da steht jemand an einem Friedhof, der den Desert Rangern offenkundig misstraut. Wer jetzt die Schaufel rausholt und etwas in den Gräbern buddelt, hat die gesamte Siedlung gegen sich!

Bei allem Lob, gibt es auch im Bereich der oftmals sehr glaubwürdigen Reaktionen einige Ernüchterungen. Ab und zu kann man die Häuser oder Zelte der Leute einfach so betreten und darin alles klauen, ohne dass sie reagieren. Und das, obwohl sie im Dialog noch betonen, dass sie um Privatsphäre bitten oder dass man nichts anfassen soll. Die Grenzen zwischen beliebiger Klauerei und geahndetem Diebstahl sind nicht immer zu erkennen.

Es kommt auch zu einigen sehr witzigen , mitunter auch tragischen Situationen, weil die NSC eben ihren eigenen Kopf haben. Im Zweifel schrecken sie auch vor Mord nicht zurück! Manchmal verlassen sie die Gruppe, weil sie einen Verwandten getroffen oder einfach anderes vorhaben. Dazu gehören auch Kleinigkeiten: Man kann nicht einfach Dinge aus ihrem Inventar nehmen, manche behalten sogar jede Munition, die man ihnen gibt. Schade ist allerdings, dass man sich nicht gezielt mit ihnen unterhalten kann, um vielleicht persönliche Quests zu erhalten. Wer die NSC besser im Auge oder einfach sammeln will, kann sie übrigens in der Ranger Citadel als neue Rekruten abliefern.

Taktisches Kampfsystem

Wasteland 2 inszeniert klassische Rundentaktik, bei der man seinen Leuten einzeln Befehle geben kann. Je nach ihrer Initiative handeln sie vor oder nach den Feinden, indem man ihre Aktionspunkte z.B. für die Bewegung, das Nachladen, das Heilen oder Schießen verwendet. Hinzu kommen kleine taktische Möglichkeiten: Wer sich hinkniet, verbessert seine Treffer- und Ausweichchance, wer aus der Höhe feuert, erhöht seine Reichweite, man kann zwischen Feuerstoß und Einzelschuss wechseln, sich hinter Deckungen begeben oder die des Feindes zerstören. Besonders effizient sind Hinterhalte als alternative Feueraktion: Dann schießt man auch in der Runde des Gegners, wenn sich dieser in das Schussfeld begibt – sehr effizient, sehr tödlich, vor allem wenn das mehrere Leute tun.

Für Unberechenbarkeit und authentisches Flair in den Gefechten sorgen Friendly Fire, streuendes Schrot, Patzer wie Waffendefekte, die allerdings zu häufig auftreten und einen zum erneuten Nachladen zwingen, Abzüge auf die Trefferquote unter dem Druck naher

Es gibt jede Menge Waffen, die man auch modifizieren kann. Manche Statistiken bilden aber nicht das ab, was passiert: Warum streikt eine Waffe in fünf von zehn Schussversuchen, wenn die Wahrscheinlichkeit bei 3% liegt?
Feinde sowie fünf Verletzungstypen von der Bewusstlosigkeit bis hin zur Blutung. Falls man da nicht schnell mit dem Heiler reagiert, lauert der permanente Tod des Rangers! Und wer zu wenig Punkte in Führung vorweist, muss mitansehen, wie NSC die Befehle ignorieren und quasi ohne Taktik Amok laufen. Hat man dort hingegen hohe Werte, bekommen die unmittelbar in der Nähe Kämpfenden wertvolle Boni auf ihre Trefferchancen. Schön auch, wie NSC Angriffe auf Unschuldige verweigern und kommentieren! So weit, so interessant.

Inkonsequenzen in den Gefechten

Aber Wasteland 2 kommt trotz vieler guter Ansätze nicht an die dynamische Kampftaktik von XCOM oder die situativen Möglichkeiten eines Jagged Alliance heran. Es ist zwar schön, dass es ein Deckungssystem gibt, inklusive zerstörbarer Objekte. Aber zu selten hat man das Gefühl, dass einem der Schutz wirklich etwas bringt, weil der Feind plötzlich auch durch klare Hindernisse ballern kann - da fehlt eine klare physikalische Linie. Manchmal sind die Karten auch so designt, dass es kaum gute Positionen gibt oder gerade jene in der Höhe nicht zugänglich sind. Und die Feinde nutzen die Deckung etwas zu selten. Wenn sie das tun, wird es auch gleich gefährlicher - vor allem, wenn Grenadiere dabei sind, die über mehr Feuerkraft verfügen. Aber letztlich muss man nicht oft genug clever mit Feuerschutz & Co vorgehen, sondern kann häufig nach Schema F handeln.

Im rundenbasierten Kampf gibt man Aktionspunkte aus, um seine Ranger zu bewegen oder angreifen zu lassen.
Schade ist, dass das gezielte Anvisieren von Körperzonen mit entsprechenden Effekten nicht möglich ist - bis auf den optionalen Kopfschuss gibt es keine Unterteilung. Zudem ist man immer als Pulk unterwegs und kann keine Formationen festlegen. Mal abgesehen von der fehlenden taktischen Komponente ist das deshalb nervig, weil man vor jedem Gefecht von der Gruppe auf Einzelbefehle umschalten muss, um die Leute manuell zu postieren. Schon Spiele wie Der Tempel des Elementaren Bösen haben gezeigt, wie man Formationen sinnvoll einbauen kann.

Zu viel Feuerkraft, manchmal dumme Gegner

Leider sorgt die KI mitunter für unnötiges Chaos in den Kämpfen. Sowohl die Gegner als auch Figuren, die einem folgen, verhalten sich manchmal wie Selbstmörder: Erstere werfen Granaten in ihre eigenen Leute, Letztere rennen mitunter wie blöde in das Schussfeld, anstatt Deckung zu suchen. Das ist besonders dann ärgerlich, wenn es sich um interessante NSC handelt, die man z.B. sicher an ein Ziel geleiten muss.

Apropos Krawumm: Die explosiven Wurfgeschosse sind zu mächtig, weil sie drei, vier Gegner auf einmal vernichten. Zumal manche Granaten weiter geworfen werden können als man schießen kann und man auch keinerlei Spezialfähigkeiten benötigt, um damit fatalen Schaden anzurichten – jeder kann sie tödlich einsetzen. Andererseits sorgt das natürlich auch für Spannung: Können die eigenen Scharfschützen den Bombenleger erledigen, bevor er die Gruppe erreicht?

Fazit

Was für ein Comeback! Wasteland 2 ist ein Beispiel dafür, wie man eine Tradition aufgreifen und fortführen sollte: mit Hingabe. Das mag pathetisch klingen, aber das ist heutzutage, wo man liebgewonnene Spieleserien manchmal kaum wiedererkennt, etwas Wertvolles. Ich habe die Ausflüge als Desert Ranger sehr genossen, weil dieses Rollenspiel den Klassiker nur mit den allernötigsten Kompromissen an die Moderne fortführt, ohne dabei jedoch seinen Charakter irgendeiner Zielgruppe zu opfern. Hier wirkt das technisch Altmodische aufgrund der mittlerweile seltenen inneren Werte unheimlich charmant. Ja, die Kulisse ist nicht mehr als solide. Ja, das Kampfsystem hat seine Probleme mit der Balance – da sind XCOM und Jagged Alliance weiter. Und ja, es gibt einige ärgerliche Inkonsequenzen im Figurenverhalten. Aber Wasteland 2 ist ein episches Rollenspiel mit Seele, toller Stimmung, feinen Dialogen und überraschenden Situationen, das euch weit über 40 Stunden unterhalten wird. Freut euch auf ein brutales, groteskes, aber bei aller Tragik immer mit den Augen zwinkerndes Abenteuer, das euren Entscheidungen gnadenlos Konsequenzen folgen lässt. Ich hatte seit vielen Jahren endlich wieder das angenehme Gefühl, dass ein Spiel auch in kleinen Situationen mit mir spielt und dabei leise flüstert: Hey, lass dir Zeit - schau genau hin, lies genau mit. Danke dafür, Brian Fargo!

Pro

Party-Rollenspiel alter Schule
komplexe Charaktererschaffung
viele gut geschriebene Situationen/Aufgaben
einige kreative Quests mit Echtzeitspannung
offenes Abenteuer mit freier Vorgehensweise
Terra incognita: Karte muss aktiv erkundet werden
Wasser-, Munitions- und Geldknappheit
taktische Rundengefechte
viele Entscheidungen mit Konsequenzen
viel zu entdecken, viele Anspielungen
Deckung suchen, Hinterhalt legen, Feuermodi wechseln
gutes Fallen-, Alarm- und Schlossknacksystem
viele aktiv nutzbare Fähigkeiten
NSC kommentieren, führen Eigenleben
viele gute Dialoge inkl. Text-Direkteingabe
stimmungsvolle Radio/Funkdurchsagen
rhetorische Fähigkeiten bringen Gesprächsoptionen
zig Waffen mit diversen Munitionstypen & Modifikationen
Traglast wirkt sich spürbar aus
viele Verletzungstypen (Blutung bis Verseuchungen) & permanenter Tod
Leadership wirkt sich spürbar aus
sehr gute englische Sprachausgabe
viele humorvolle Anspielungen
Charaktere als 3D-Portraits im Menü
keine Anzeige von Zielorten in Quests
vier Schwierigkeitsgrade (jederzeit wechseln)
Spielzeit bei 40 Stunden plus X

Kontra

Story kommt schleppend in Fahrt
kein historisches Nachschlagewerk oder Archiv
schwache Animationen, viele gleiche Portraits
Rundentaktik fehlt es letztlich an Finesse
Feinde töten sich mit Bomben selbst
Attribute an Statuen? Ach, Leute...
Schüsse durch Hindernisse wie Felsen
Figuren reagieren nicht immer authentisch auf Diebstahl & Co
Karten nicht beschriftbar
keine Formationen, Waffen klemmen zu oft
manuelle Texteingabe oft unfruchtbar
schwache deutsche Übersetzung
nur sporadische Sprachausgabe

Wertung

PC

Freut euch auf ein brutales, groteskes und süffisantes Rollenspiel mit viel Erkundungsfreiheit und Konsequenzen.

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Kommentare

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johndoe945852

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Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 10 Jahren