Im Test:
Groschenroman-Held mit Sinn für Humor
Die glorreiche Zeit des Wilden Westens ist Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe schon vorüber. Revolverhelden wie Pat Garrett, Wyatt Earp oder der Kopfgeldjäger Silas Greaves werden in Groschenromanen zu Ikonen stilisiert. Doch wie viel Wahrheit steckt in den Schundbüchern? Das finden die Gäste eines Saloons schnell heraus, nachdem Greaves dort Station macht, erkannt und von einem der Anwesenden gefragt wird, ob er ein bisschen aus seiner Vergangenheit erzählen könne. Silas lässt sich nicht lange bitten: Die Stimmbänder geschmiert durch Bier und Whisky erzählt er, wie er zu seinem zweifelhaften Beruf als Kopfgeldjäger kam und wen er dabei kennen gelernt (oder getötet) hat. Es ist kaum zu glauben, mit wem sich seine Wege oder Pistolen gekreuzt haben: Er ist mit Billy the Kid geritten, hat die Daltons gejagt und Jesse James sowie sein jüngerer Bruder Frank gehören ebenfalls zu seinen Bekanntschaften.
All diese Westernhelden erzählerisch unter einen Hut zu bringen, ist ein gewagtes Unterfangen. Wenn man sich an die historisch verbürgten Ereignisse hält, ist dies geradezu unmöglich und kann eigentlich nur nach hinten losgehen. Doch was, wenn Silas Greaves als Zeitzeuge die Dinge anders erlebt hat, als sie überliefert wurden? Was, wenn z.B. Butch Cassidy und Sundance Kid nicht, wie man es auch aus dem grandiosen Film mit Paul Newman und Robert Redford kennt, in Bolivien erschossen wurden, sondern ihre Saga ein ganz anderes Ende nimmt, in das man spielerisch eingreift? Selbst scheinbare Widersprüche oder Lücken in seiner Erzählung, auf die er von seinen Zuhörern hingewiesen wird, wischt Greaves ebenso nonchalant beiseite wie manche Kugeln, denen er mit einem siebten Sinn ausweichen kann. Wer auf Wahrheit besteht, kann über 50 Erinnerungsstücke finden, die jeweils einen Eintrag im Archiv freischalten und in denen die Tatsachen auf den Tisch kommen - obwohl: Ein gewisser Ray McCall aus dem ersten Call of Juarez ist dort auch zu finden...
Nichts ist, wie es scheint
Wenn Silas "Ich suchte nach einem Ausweg" sagt und ich mich daraufhin umdrehe und sich vor mir ein neuer Gang öffnet oder ich höre, dass die Dächer des nächsten Häuserblocks ein ideales Versteck für Gegner wären, komme ich gar nicht umhin, als kurz nach oben zu schauen. Das wechselseitige Spiel von Gunslinger und mir ist erschreckend intensiv: Die Erzählung beeinflusst das Geschehen und meine Reaktion, das Geschehen und meine Reaktion die Erzählung. Natürlich ist dies nur eine Illusion. Abgesehen von ein paar Geheimnissen, die man rechts und links finden kann, ist die 14 Abschnitte umfassende und Erinnerungen an LucasArts' Outlaws heraufbeschwörende Action so linear wie die Schienen, auf denen die Minenloren stehen.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Diese Idee ist aus einer weiteren Perspektive unheimlich clever: Techland kann seine Fantasie spielen lassen, muss nicht auf Kontinuität achten, kann logische Zusammenhänge vernachlässigen und kommt sogar mit schwacher KI durch. Wenn Greaves von Dutzenden Indianern erzählt, die auf ihn zustürmen und man diese in Zeitlupe einen nach dem anderen ausschaltet, fragt man nicht mehr danach, wieso sie sich keinen besseren Plan zurechtgelegt haben oder effektiver zusammenarbeiten.
Hier wird mitten im Abschnitt der Sumpf mit dumpfen Nebelschwaden gefüllt, weil der Kopfgeldjäger veranschaulichen will, wie gut seine Fähigkeiten als Fährtensucher sind. Auf einer mit Sprengstoff versehenen Brücke wird Cliffhanger an Cliffhanger aneinandergereiht, die durch einen plötzlich aus dem Nichts materialisierenden Weg gekontert werden. Und selbst der Tod wird auf die Schippe genommen, wenn Silas am Ende eines Minengangs das Zeitliche segnet, man den "Game Over"-Bildschirm zu sehen bekommt, er aber nur lapidar so etwas wie "Glücklicherweise musste ich nicht durch die Mine" meint und man nun auf einer vorher noch nicht sichtbaren Leiter einen anderen Weg nehmen kann. Und während Silas nach seinen zig Bieren die Toilette aufsucht und sich die anderen Saloon-Gäste über ihn unterhalten, läuft man immer wieder in einer Schleife durch den gleichen Waggon, bis mit der Rückkehr des Pistoleros die nächste Tür wieder zu Gegnern führt. Das alles passiert mit einer zielsicheren Selbstironie und in den Gesprächen von Silas mit seinem Zuhörern mit einem sarkastischen Augenzwinkern, das es in dieser Form in der modernen Action viel zu selten gibt. Und damit habe ich mich wechselweise sowohl als Teil der Geschichte gefühlt als auch als derjenige, der die Geschichte beeinflusst. Wie viel die Atmosphäre ausmacht, stellt man fest, wenn man sich an den zwei alternativen Spielmodi versucht: Sowohl der Arcade-Modus, bei dem man auf zeitgetriebene Punktejagd geht als auch die Duelle können ohne den erzählerischen Hintergrund als Triebfeder nur wenig Reiz entfachen.
Schundroman-Kulisse
Und spätestens wenn der nächste von Silas geknurrte Satz (er erinnert mich immer wieder an eine sarkastische Interpretation von Clint Eastwoods Will Munny aus Erbarmungslos) mich wieder in die Gunslinger-Welt gezogen zieht, sind mir die visuellen Mankos egal:
Solide Ballereien, coole Duelle
Angesichts der hohen Atmosphäre und der passenden Kulisse ist es schade, dass die Action per se nicht mehr als durchschnittliche Arcade-Schießereien bietet. Nicht falsch verstehen: Die Waffen aus drei Kategorien (Schrotflinte, Gewehr, Revolver) fühlen (und hören) sich gut an und machen mächtig Schaden. Der Kombo-Zähler, der für jeden erledigten Gegner hochschnellt, sorgt zusammen mit den Punkteboni für Kopfschüsse, Umgebungskills, Distanztreffer usw. immer wieder für die Gewissensfrage. Geht man in zusätzliches Risiko, um die Kombo am Laufen zu halten oder zieht man sich doch lieber zurück und heilt sich aus? Je höher die Punkte am Ende ausfallen, umso schneller wächst die Erfahrungsleiste, die einem beim Aufstieg in die nächste Stufe die Möglichkeit gibt, sich in einem von drei Zweigen zu entwickeln. So kann man z.B. schnell nicht nur einen Colt bedienen, sondern sich mit zwei Knarren durch den Westen ballern - wahlweise auch im Akimbo-Stil, bei dem man das Schießen jedes Revolvers separat steuert. Schnelleres Nachladen, Verlängerungen von Fokus-Dauer (Zeitlupe sowie Markierung der Gegner) oder automatische Kopfschüsse kann man ebenfalls erlernen. Sogar neue durchschlagskräftigere Waffen kann man auf diesem Wege bekommen.
Fazit
Nach dem unsäglichen Neowestern The Cartel kehrt Techland mit Gunslinger zu den Wildwest-Wurzeln von Call of Juarez zurück - und das zum größten Teil erfolgreich. Mit seinem Arcade-Ansatz samt Kombo-System, Erfahrungspunkten sowie Fähigkeitenaufstieg unterscheidet es sich angenehm vom Baller-Einerlei, mit dem es allerdings Schwächen in der Mechanik wie schonungslos lineare Abschnitte teilt. Doch das war mir sehr schnell ebenso egal wie die langweiligen Standard-Bosskämpfe oder die reizlosen Gatling-Sequenzen. Denn die erzählerische Kreativität, mit der Silas Greaves seine tollkühne Story spinnt und die sich daraus ergebende Wechselwirkung zwischen dem Einfluss der Spielwelt auf mich und meinen Aktionen auf die Spielwelt haben dafür gesorgt, dass ich erst aufhören konnte, als der Abspann über den Bildschirm lief. Selbstironisch, süffisant, immer wieder überraschend und gekonnt mit bekannten Mythen und Figuren von Billy the Kid bis Butch Cassidy spielend, erreicht Gunslinger zwar unter dem Strich nicht die Klasse von z.B. Rockstars Western Epos Red Dead Redemption. Doch mit seinem Ansatz irgendwo zwischen dessen Arcade-Vorgänger Red Dead Revolver und LucasArts' Outlaws habe ich gut sechs bis acht unterhaltsame Stunden mit brachialen Gefechten sowie hoch spannenden Duellen erlebt.
Pro
Kontra
Wertung
360
Amerikanische Wildwest-Geschichte mal anders: Silas Greaves' Abenteuer ist mechanisch zwar meist konventionell, doch die Arcade-Ballerei überzeugt hinsichtlich Erzählung und Inszenierung auf ganzer Linie.
PC
Arcade-Ballerei mit Wildwest-Flair, deren Mechanik zwar meist konventionell bleibt, die aber hinsichtlich Erzählung und Inszenierung punkten kann.
PlayStation3
Mechanisch ist der etwas andere Blick auf Billy the Kid & Co zwar meist bieder, doch die Story sowie die fantasievolle Inszenierung machen dies mehr als wett.
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