Disgaea: Hour of Darkness26.02.2016, Mathias Oertel
Disgaea: Hour of Darkness

Im Test: Meilenstein der Strategierollenspiele

Manchmal dauert es ein wenig, bis das eine oder andere Konsolen-Highlight auch auf dem PC erscheint. Gut zwölf Jahre ist dennoch eine Ansage. Dass Nippon Ichi solange benötigt hat, um die PS2-Perle Disgaea auf den PC zu bringen, ist aber nicht mangelnder Entwicklungs-Kompetenz zuzuschreiben. Die Japaner haben schlichtweg etwas Zeit benötigt, um den PC als Plattform für sich zu entdecken. Ob es mittlerweile etwas zu spät ist, beantworten wir im Test.

Retro ist in

Auch wenn Disgaea (gesprochen: Disgaja) ähnlich wie der PSP-Ableger "Afternoon of Darkness", auf dem es aufsetzt, am PC in modernem 16:9 dargestellt wird, ist das Bildformat der einzige Hinweis darauf, dass das Strategie-Rollenspiel erst jetzt veröffentlicht wurde. Der Rest der Kulisse ist so herrlich unzeitgemäß wie eh und je. Schon auf der PS2 konnte die aus groben Polygonen bestehende und mit 2D-Sprites (!) gefüllte Comic-Kulisse eigentlich kaum PSone-Niveau erreichen. Und daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Zwar kann man am Rechner u.a. Tiefenschärfe und SSAO aktivieren oder sich unter nur unwesentlich verändernden Textursets seinen Favoriten wählen, während die Figurensprites wahlweise mit Pixelrändern oder leicht weichgezeichnet dargestellt werden. Doch das ist eigentlich nur Augenwischerei. Die Kulisse ist und bleibt vorsintflutlich und ist nach wie vor der beste Beweis dafür, dass innere Werte wesentlich wichtiger sind als die draufgeklatschte Schminke.

Nein, die Kulisse ist kein Scherz. Doch bei Disgaea sind die inneren Werte ohnehin seit jeher weichtiger.
Andererseits jedoch hätte Nippon Ichi den Zeitpunkt für die PC-Premiere dieses Meilensteins kaum besser legen können: Retro-Design ist dank der seit zig Monaten durch die digitalen Plattformen rauschenden Indie-Welle angesagter denn je. Und Disgaea passt wunderbar in diese Kategorie. Allerdings hätte ich es bevorzugt, wenn die Japaner aus dieser Umsetzung einen Director's Cut angefertigt hätten und z.B. die Engine-Fortschritte, die die Serie bis hin zu Teil 5 auf der PlayStation 4 gemacht hat, sichtbar gewesen wären. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass die übrigen Disgaea-Teile in absehbarer Zeit ebenfalls ihren Weg auf den PC finden. Doch mit einer visuellen Anpassung, die über den hier integrierten Schnickschnack hinausgeht, hätte man ein deutliches Zeichen setzen können und sich auch klarer gegenüber anderen Strategie- bzw. Taktik-Rollenspielen wie z.B. Darkest Dungeon positionieren können. Von den jüngst aufgetreteten Schwierigkeiten mit angeschlossenen Controllern oder Systemabstürzen konnten wir während der Testphase nichts feststellen.

Inhaltlich in die Jahre gekommen

Die herrlich absurde Geschichte geizt nicht mit skurrilen Situationen, abgefahrenen Charakteren und viel Humor.
Doch worum geht es in Disgaea? Laharl, der junge Kronprinz der dämonischen Unterwelt, hat einige Probleme: Nicht nur, dass er die letzten zwei Jahre verschlafen hat - in dieser Zeit ist sein Vater gestorben und ein Kampf um die Thronfolge entbrannt. Zusammen mit der stets gut aufgelegten Etna und ihren immer zu Scherzen aufgelegten Pinguinen macht er sich auf, um die versammelte Unterwelt davon überzeugen, dass er der einzige Kandidat für den Titel des Overlords ist. Doch er weiß nicht, dass himmlische Mächte sein Treiben beobachten... Zugegeben: Das klingt nach Standard-Blabla. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass Disgaea weder sich noch irgendwelche anderen Themen ernst nimmt und absolut alles mit einem eigentümlichen, aber unglaublich charmanten Humor beträufelt. Man begegnet Weltraum-Helden, die Captain Qwark aus Ratchet & Clank wie einen Atomwissenschaftler wirken lassen. Man trifft auf Engel in Ausbildung, die in ihrer herrlichen Naivität und Liebesblindheit für ganz eigentümliche Konsequenzen in der Dämonenwelt sorgt.

Und letztlich ist die humorvolle Erzählung nur ein ergänzendes Stilmittel, um zumindest einen rudimentären Grund zu haben, sich auf die isometrischen Schlachtfelder zu begeben und den variantenreichen Dämonentypen einen Tritt in den Allerwertesten zu geben. Denn spielerisch sieht sich Disgaea in einer Linie mit Klassikern wie Final Fantasy Tactics oder Ogre Tactics: Mit ist mit maximal zehn Gefährten  unterwegs, um auf abwechslungsreichen sowie mit Überraschungen gespickten Schauplätzen alle Gegner zu plätten. Doch das alleine ist noch nicht spektakulär und wird angesichts der oben angeführten Kultvorbilder sowie zahlreicher anderer PC-exklusiver rundenstrategischer Titel auch nur wenige beeindrucken. Zumal natürlich auch viele der erweiterten Mechaniken fehlen, die bei den Nachfolgern bis hin zu Disgaea 5 für eine stets größer werdende Fangemeinde sorgten.

Unnachahmliches Inhaltsmonster

Doch selbst wenn einige der Elemente fehlen, mit denen die Fortsetzungen punkten konnte, stecken in Disgaea noch mehr als genug miteinander verzahnte Inhalte und Mechaniken, dass es für drei Spiele reichen könnte. Auf dem Feld der Ehre z.B., auf dem man zuerst mit all seinen Figuren alle möglichen Aktionen plant und durchführt, bevor alle dann noch übrigen Gegner ziehen, ist nicht nur der Höhenunterschied zum Gegner wichtig, sondern vor allem, ob und welche Freunde neben oder hinter einem zum Zeitpunkt des Angriffs platziert sind. Hat man die richtigen Kameraden beisammen (wobei Gevatter Zufall auch eine gewisse Rolle spielt), findet eine verheerende Attacke mit vier Figuren statt, die Gegner schnell auf den Friedhof schickt. Die Sonderfähigkeiten wie z.B. Heilung, aber auch offensive Angriffszauber verbessern sich im Laufe der Zeit nicht nur durch Erlernen neuer Varianten, sondern durch Benutzung. Bei anderen Fähigkeiten wiederum muss man aufpassen, dass zur Ausführung vor oder neben dem anvisierten Ziel genug Platz ist oder dass eigene Figuren nicht durch Kollateralschaden in Mitleidenschaft gezogen werden.

Mit Geo-Steinen und -Effekten lässt sich das Schlachtfeld nachhaltig verändern.
Dabei spielen auch die so genannten "Geo"-Effekte eine Rolle. Auf manchen Karten sind Geo-Symbole auf bestimmten Feldern platziert, die die Kulisse nicht nur schön bunt machen, sondern sowohl negative als auch positive Auswirkungen zeigen. Verringerter Schaden gehört dabei z.B. zum Repertoire oder eine 50 Prozent höhere Ausweichmöglichkeit. Es gibt aber auch Felder, die die Gegner nahezu unbesiegbar machen oder die einen quer durch den Abschnitt teleportieren. Hier hat man nun entweder die Wahl, sich die Geo-Fähigkeiten zunutze zu machen oder aber sie zu zerstören. Zerstörtman z.B. ein blaues Symbol auf rotem Grund, werden alle roten Felder nun blau gefärbt, wobei alle Figuren, die während der Umfärbung drauf stehen, Schaden nehmen. Sollten auf den Rotsteinen noch weitere Geo-Symbole liegen, wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Je mehr Ketten man aufbauen kann (und eventuell sogar das Spielfeld leert), desto größer wird der Combo-Zähler, der sich auch rapide füllt, wenn man die Feinde mit spektakulären Spezialbewegungen oder Team-Angriffen erledigt. Nach dem Level wird abgerechnet und je nach Effektivität bekommt man Erfahrungsboni sowie weitere Belohnungen wie Geld oder Ausrüstung.

Ich mach mir mein Spiel

In der Dark Assembly kann man über Spiel-Modifikationen abstimmen lassen.
Wem das nicht reicht, hat neben Standards-Shops mit der Gegenstandswelt sowie der so genannten "Dark Assembly" weitere Elemente zur Hand, die sich nicht nur massiv aufs Spiel auswirken, sondern mitunter weitere dutzende Stunden auf die Spielzeituhr drehen. Denn wenn man sich in die "Item-World" hinab lässt, hat man nicht nur ein probates Mittel, um die Stufen der Figuren zu steigern - die Eigenschaften jedes Gegenstandes können hier über 100 (!) Stufen aufgebessert werden. Die Meister, die in jedem Ausrüstungsteil leben können zwischen den Items hin und hergeschoben werden, nachdem man sie besiegt hat. So kann man versuchen, die Waffen, Rüstungen usw. ganz gezielt aufzurüsten und an seine bevorzugte Spielweise anzupassen. Natürlich gilt das für jede Spielfigur. Und davon kann man im Laufe der Zeit mit 150 ebenfalls mehr als genug freischalten. Angefangen von Standard-Fantasyfiguren wie Kämpfer, Magier (in verschiedenen Geschmacksrichtungen), Dieb, Ritter oder Heiler gibt es zahlreiche Hybridklassen, die immer wieder zum Ausprobieren locken. Und Disgaea macht auch vor Monstern nicht halt: Jeder Gegnertyp, die man mindestens einmal besiegt hat, darf in die Gruppe aufgenommen werden, wobei die anfänglich horrenden Kosten analog zur Anzahl des jeweils besiegten Gegners sinken. Und selbstverständlich kann man zusätzliche Zeit und Mana investieren, um verbesserte Versionen bereits bestehender Figuren zu rekrutieren.

Mit einer Viererkombo lässt sich verheerender Schaden anrichten.
Man will teurere und damit bessere Ausrüstung im Shop? Man will zusätzliche Items? Man will doppelte Erfahrungspunkte beim nächsten Einsatz einsammeln? Dann geht man eben in die "Dark Assembly" und lasst darüber abstimmen. Je nach Beliebtheit der Figur, mit der man den Antrag stellt sowie deren Status in der Dämonenwelt stehen einem die Senatoren wohl gesonnen oder ablehnend gegenüber. Doch bevor man zur Abstimmung ruft, kann man die ewigen Neinsager noch durch Geschenke überzeugen, doch für einen zu vortieren. Und wenn alle Stricke reißen, kann man sie auch mit Gewalt überzeugen. Die Möglichkeiten, sich das zu verschaffen, was man am ehesten braucht, sind enorm, lenken aber nicht vom Hauptspiel ab, sondern sind wie alle Elemente sorgsam miteinander verzahnt und sorgen damit für ein rundum gelungenes und durchdachtes Strategiespiel mit immensem Tiefgang. Doch der hat wie vor zwölf Jahren seinen Preis, der nicht in der biederen Kulisse zu finden ist. Trotz einfacher Steuerung können die ganzen Funktionen, die Disgaea beinhaltet, Anfängern über den  Kopf wachsen. Doch je mehr man sich in das Spiel hinein findet und je mehr man entdeckt, umso mehr steigt die Motivation.

Fazit

Es ist schon ein Weilchen her, dass ich mich zuletzt mit Laharl, Etna, Flonne und den Prinnys auf die langfristig motivierende Dämonenjagd begeben habe. Und obwohl ich bereits auf PS2 und PSP buchstäblich hunderte von Stunden in Aufbau und Pflege meiner Kämpferriege investiert und den herrlich absurden  Humor genossen habe, konnte ich mich auch von der PC-Fassung nur schwer losreißen. Die Motivationsspirale mit ihren sorgsam verzahnten Mechaniken funktioniert so gut wie vor zwölf Jahren und lässt mich die hoffnungslos veraltete Kulisse immer noch ignorieren. Allerdings vermisse ich die Ergänzungen und Verbesserungen, die die Serie im Laufe der anderen Teile erfahren hat. Dennoch: Wer absurdem Humor nicht abgeneigt ist und sich von einem oberflächlichen Tutorial nicht abschrecken lässt, findet mit Disgaea eine ordentliche Umsetzung eines Meilensteines der Strategie-Rollenspiele. Der Zahn der Zeit hat zwar etwas genagt, doch Disgaea bietet mit seinen facettenreichen und sehr gut miteinander verbundenen Inhalten immer noch so viel Substanz, dass auch moderne Vertreter der Rundentaktik ihren Hut vor dem in Ehre ergrauten Greis ziehen müssen.

Pro

einfache Steuerung
immenser taktischer Tiefgang
eigene Figuren erstellbar
viel zu entdecken
Charakter-Entwicklung auf mehreren Ebenen
100 Stunden purer Spaß
sehr gute englische Sprachausgabe
abgefahrene Musik
haufenweise Specials, Zauber und Gimmicks
zufällig erstellte Dungeons in der „Item-World“
unterschiedliche Enden
netter Humor
japanische Sprachversion inklusive

Kontra

Grafik auf 90er-Jahre-Niveau
zäher Einstieg
Maus-Tastatur-Steuerung mitunter etwas fitzelig
mechanisch von den stark erweiterten Nachfolgern überholt
Anfänger werden mit den Möglichkeiten überfordert

Wertung

PC

Den absoluten Wow-Faktor wie vor zwölf Jahren kann Disgaea nicht mehr entfachen. Es ist jedoch nach wie vor ein forderndes, facettenreiches und in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Strategierollenspiel alter Schule.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.