Miasmata07.12.2012, Benjamin Schmädig
Miasmata

Im Test:

Grobe Steine schimmern unter dem klaren Wasser, kleine Wellen umspielen das Ufer. Zwischen zwei grünen Anhöhen flieht der Nebenarm aus einem breiten Strom, bevor er hier zur Ruhe kommt. Sanfter Wind streicht durch die dichten Wipfel, Vögel zwitschern in tausend Stimmlagen, ein Eichhörnchen putzt sich vor meiner Nase.  Dann ist es plötzlich still. Go-gong, go-gong höre ich mein Herz leise schlagen. Go-gong – jetzt schon lauter. Äste knacken, ich höre Schritte. Die Kreatur hat mich gefunden!

Go-gong

Minuten später merke ich, dass ich kaum atme. Ich muss Luft holen, ganz leise ausatmen. Nicht im Spiel, sondern als Spieler vor dem Bildschirm. Mein Herz schlägt tatsächlich schneller – mein reales Herz.

Es ist weiß Gott nicht das erste Mal, dass ich mich vor einer Fratze oder dem Spieletod fürchte. Kreativer Grusel weckt Urängste, denen ich mich gerne stelle. Allerdings habe ich mich selten so verletzlich und verloren gefühlt – während ich der Angst direkt ins Auge blicken musste.

Trügerisches Paradies

Was mache ich hier eigentlich? Eine einsame Insel irgendwo… ich weiß nicht einmal, wo genau. Ich sehe die Welt aus den Augen von Robert Hughes und weiß, dass das augenscheinliche Paradies um mich herum Eden heißt: Saftiges Gras sonnt sich auf flachen

Auf den ersten Blick ist Eden das idyllische Paradies, das der Name verspricht. Aus den Augen von Robert Hughes entdeckt man die frei begehbare Insel.
Auf den ersten Blick ist Eden das idyllische Paradies, das der Name verspricht. Aus den Augen von Robert Hughes entdeckt man die frei begehbare Insel.
Hügeln, Käfer krabbeln über den Boden, Nebel schleicht durch tiefe Moore, Vögel flattern aufgeschreckt davon. Ein Paradies, in dem ich schon nach wenigen Schritten eine Leiche entdecke. Was bleibt mir anderes übrig, als das blutverschmierte Messer aus ihrem Rücken zu ziehen und mich vorsichtig voran zu tasten?

Ich entdecke einfache Hütten, aus Baumstämmen gezimmert, auf Tischen stehen Aluminium-Tabletts, eine Waage und andere Laborgeräte. Auf der gesamten Insel finde ich solche Unterkünfte, Zelte oder behelfsmäßige Überdachungen mit den gleichen Geräten. Wissenschaftler haben sich auf Eden niedergelassen, um hier zu forschen. Nur dass ich statt der Forscher lediglich Auszüge ihrer Tagebücher entdecke, statt einer Medizin nur vage Beschreibungen über die Entwicklung des Heilmittels. Dabei bin ich krank, todkrank sogar und soll ein Gegenmittel finden...

Auf einer Tafel steht "Du wirst beobachtet".

Das Ich-Gefühl

Eden ist eine weite, offene Welt. Sie ist aber weder Skyrim noch Far Cry. Mit ihrer bedrohlichen Leere erinnert sie vielmehr an DayZ. Ich kann mich jederzeit frei bewegen, muss aber unbedingt mein Überleben sichern. Es ist eine Welt, in der hinter jedem Baum der Tod lauern könnte. Und in der ich mich selbst versorgen muss. So sollte ich darauf achten, dass ich stets genug Wasser bei mir habe. An meinem Tagebuch hängt daher eine

Independent-Power

IonFX heißt das Studio, in dem Miasmata entstand. Das klingt nach mehr als es ist, denn das Spiel wurde von nur zwei Brüdern entwickelt: Joe und Bob Johnson. Joe zeichnet vor allem für die Technologie verantwortlich, während sich Bob hauptsächlich um das Spieldesign kümmerte. Flasche, aus der ich fünfmal trinken kann – spätestens dann muss ich sie mit neuem Süßwasser füllen.

Abgesehen davon sollte ich nicht wie ein junges Reh über Wald und Flur springen, denn die Beschaffenheit des Bodens wirkt sich auf meine Beweglichkeit aus. Springe ich eine Böschung hinunter, werde ich stürzen und mich im schlimmsten Fall verletzen. Selbst auf einem abschüssigen Pfad komme ich ins Stolpern, wenn ich achtlos voran presche. Dabei verliere ich sämtliche Pflanzen, die ich bei mir habe, was ich nach langer Suche tunlichts vermeiden möchte. Schon allein deshalb betrachte ich meine Umgebung mit anderen Augen als ich es gewöhnt war. Manchmal wirkt es zwar übertrieben, dass mein Alter Ego vor einer aus dem Boden gewachsenen Wurzel kapituliert. Sobald ich an einem steilen Hang einen Fall verhindere, indem ich sein langsames Rutschen immer wieder bremse, fühle ich mich aber ungewöhnlich eng mit der Spielfigur verbunden.

Mit Karte und Kompass

Auch die Übersichtskarte ist kein automatischer Pinsel; vielmehr erkenne ich meine genaue Position nur in unmittelbarer Nähe bekannter Markierungen. Dringe ich in

Nur mit Karte und Kompass: Weil die genaue Position nicht automatisch eingezeichnet wird, ist der eigene Orientierungssinn die wichtigste Stütze.
Nur mit Karte und Kompass: Weil die genaue Position nicht automatisch eingezeichnet wird, ist der eigene Orientierungssinn die wichtigste Stütze.
unbekanntes Terrain vor – und zu Beginn besteht praktisch die gesamte Insel aus frischem Papier – muss ich meinen Standort sogar triangulieren, bevor er eingezeichnet wird: Zwei bereits verzeichnete Markierungen muss ich sehen können, um die aktuelle Position zu erkennen. Weil Wälder und Hügel meist die Sicht verstellen, erstelle ich somit nur Stück für Stück ein Abbild der Insel. Die Unterkünfte sowie riesige geheimnisvolle Büsten und verfallene Ruinen zählen zu den Markierungen, an denen ich mich dabei orientiere.

Unter den Mikroskopen der Wissenschaftler analysiere ich Pflanzen, in Kolben verrühre ich ihre Wirkstoffe zu Präparaten. Medizin gegen häufiges Fieber zählt ebenso dazu wie Medikamente zur Steigerung der Ausdauer oder Wahrnehmung. Für kurze Zeit kann ich nach der Einnahme solcher Mittel z.B. länger sprinten. Mit anderen kann ich längere strecken schwimmen oder schärfe vorübergehend meine Sinne und erkenne so meine Position auch auf unbekannten Teilen der Karten.

Freiheit

Vor allem aber brauche ich Blüten und Pilze als Zutaten des lebensrettenden Medikaments. Nach und nach finde ich weitere Pflanzen, aus meiner Analyse ergeben sich

Alle Aktionen erfolgen direkt im Spiel - es gibt keine Menüs oder störende Einblendungen. Nur kleine Hinweise zu Durst und Erschöpfung fallen leider auf.
Alle Aktionen erfolgen direkt im Spiel - es gibt keine Menüs oder störende Einblendungen. Nur kleine Hinweise zu Durst und Erschöpfung fallen leider auf.
neue Präparate. Ich finde Notizen, die mich näher an mein Ziel führen, andere decken die grausige Geschichte auf. Wenn ich will, führen mich Tagebucheinträge und neue Kartenteile wie Brotkrumen über die Insel. Ich könnte aber auch von mir aus Hinweise und Pflanzen suchen.

Eden lässt mich im besten Sinne allein: Das Gefühl der Unsicherheit, des Verlorenseins in einer unbekannten Welt ist wie eine erlösende Befreiung! Ich sehe, wie mein Alter Ego die Landkarte in den Händen hält, während ich über ihren Rand hinaus die Umgebung nach Markierungen absuche. Auf ähnliche Weise schlägt meine Figur ihr Tagebuch auf, um in Notizen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen zu blättern. Freie Bemerkungen darf ich zwar nicht eintragen, aber die Darstellung der körperlichen Erfahrung ist auch hier konsequent.

Risse

Umso bedauerlicher, dass der Überlebenskampf nicht komplett wirkt. So muss ich zwar die Wasserflasche füllen, komme aber problemlos ohne Beeren, Wurzeln oder sonstiges Essen aus. Die einzige "Verletzung" ist zudem ein Fieber, das ich mit einem Medikament heile; Knochenbrüche gibt es nicht, obwohl überall Äste liegen, aus denen ich provisorische Krücken herstellen könnte. An manchen Stellen macht es sich das Abenteuer zu einfach. Es

In der Entfernung reißt die Technik leider Risse in die schöne Kulisse: Dort werden aus der detailverliebten Landschaft grobe Skizzen.
In der Entfernung reißt die Technik leider Risse in die schöne Kulisse: Dort werden aus der detailverliebten Landschaft grobe Skizzen.
wirkt dann kleiner und geradliniger als es sein könnte - auch weil ich letztlich nichts anderes mache, als Unterkünfte für Notizen aufzusuchen und Pflanzen einzusammeln.

Nicht zuletzt wäre es eindringlicher, wenn statt Textfenster visuelle Hinweise auf Durst oder Erschöpfung aufmerksam machten. Und wieso halte ich höchstens drei Pflanzen in der Hand, während ich keine der Blüten in eine Tasche stecken darf? Stattdessen kann ich sechs Blüten in den Stützpunkten deponieren und in jeder anderen Unterkunft darauf zugreifen. Für sich genommen sind das kleine Ausrutscher, die der sonst so greifbaren Inselwelt aber einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit nehmen.

Ein großes Ärgernis sind die technischen Schwächen. So erkenne ich in der Ferne selbst auf der höchsten Einstellung grobe Muster statt liebevoller Kleinigkeiten und selbst in der Nähe tauchen wichtige Details sehr spät auf. Die Insel verlangt zudem einen unerhört schnellen Rechner und läuft auf älteren Grafikkarten schlechter als Hardwarefresser wie Battlefield 3. Auch wenn ich über grafische Schwächen oft hinwegsehen kann, fallen die Risse hier leider deutlich auf.

Knisternde Finsternis

Spätestens bei Nacht, wenn ich mit einem Feuerzeug vor Augen kaum zehn Schritte weit sehe, packt mich Eden aber wieder mit Haut und Haaren. Grillen zirpen, Äste knacken, sonst ist es beunruhigend still. In der Finsternis bin ich noch einsamer als auf den kreuchenden und fleuchenden Wiesen. Am besten halte ich an einem der verlassenen Lagerfeuer nach Fackeln Ausschau oder nehme Reisig mit, das ein paar Minuten lang brennt. Mit Feuer könnte ich mir sogar ganz kurz das Wesen fernhalten, das die Notizen

Mia-was?

"Miasma" hat verschiedene Bedeutungen - und immerhin bezeichnet "Miasmata" auch die Mehrzahl des Begriffs.

Zum einen meint Miasma eine Luftverschmutzung. Die Verdunstungen organischen Abfalls wurden früher etwa für Krankheiten wie Pest und Cholera verantwortlich gemacht.

Zum anderen wurde der Begriff in der griechischen Mythologie verwendet, wenn ein Unheil etwa zu immer weiterem Unheil führte, bis die Ursache ausgelöscht wurde.

Miasma bezeichnet also eine sich ausbreitende Verschmutzung im wörtlichen und im übertragenen Sinn. nur „die Kreatur“ nennen - jenen Unhold, der mich mit zwei Hieben töten würde.

Bei meiner Ankunft habe ich einem Toten ein Messer aus dem Leib gerissen, um mich sicher zu fühlen. Nach meinem ersten Kampf war es weniger wert als ein Zahnstocher.

Das Monster ist übermächtig. Es kann fast überall auftauchen, es findet mich, wenn es einmal meine Spur aufgenommen hat und falls es mich tötet, verliere ich alles, was ich seit dem letzten Verlassen eines Lagers kartografiert oder gesammelt habe. Es gibt nicht wenige Unterkünfte, dank des behutsamen Vorantastens liegt aber oft viel Zeit zwischen den Speicherpunkten. Eine Zeit, in der ich längst ein Stück weiter in meine Figur hinein gewachsen bin.

Katz-und-Maus

Ich fürchte mich davor, die Früchte ihrer mühevollen Handarbeit zu verlieren. Ich habe Angst, weil ich verletzlich bin. Und ich kann nicht einmal davonlaufen. Wenn ich es versuche , erwischt mich die Kreatur womöglich. Sie ist clever und unnachgiebig und es ist unglaublich einschüchternd, das Fauchen etwas so Mächtigen im Rücken zu spüren.

Manchmal gelingt sie ja, die Flucht ins Geäst oder in ein sicheres Zelt. Und manchmal ist daran die Kreatur selbst Schuld, weil sie an einem Hang festhängt oder die Suche nach mir

Auf Bildern sieht die Kreatur nicht furchterregend aus - in freier Wildbahn ist sie ein mächtiges, unbezwingbares Monster.
Auf Bildern sieht die Kreatur nicht furchterregend aus - in freier Wildbahn ist sie ein mächtiges, unbezwingbares Monster.
viel zu schnell abbricht, sobald ich seiner unmittelbaren Nähe den Sichtkontakt unterbreche. Das nimmt dem Unhold nichts von seinem Schrecken. Es kratzt aber ebenfalls an Edens Glaubwürdigkeit.

Leiser Showdown

Trotzdem ist laufen nicht die beste Idee, zumal  das Gelände selbst eine Gefahr darstellt. Deshalb muss ich mich der Angst stellen und ruhig in einem Versteck ausharren, sobald mir das Herz bis zum Hals schlägt. Denn dann weiß ich, dass das Wesen in der Nähe ist, gehe in Deckung und luge ganz vorsichtig heraus.  Wenn ich schnell reagiert habe, hat mich die Kreatur noch nicht entdeckt, dann kann ich sie vielleicht umgehen. Meist scheint sie meine Gegenwart aber geradewegs zu spüren und läuft ganz langsam, aber zielstrebig auf mich zu.

Kann mich das Monster etwa genau so fühlen wie ich seine Nähe spüre? Zumindest folgt es aus großer Entfernung sehr genau meinen Spuren. Es sieht, hört und riecht mich - das bekomme ich schnell mit. Und es ist ausgesprochen beunruhigend, das zu wissen.

Mein Herz schlägt schneller. Der Atem stockt. Das Wesen kreist um mich herum, ich versuche mich auf der gegenüberliegenden Seite meines Verstecks zu halten. Hoffentlich kann ich den Blickkontakt so lange vermeiden, bis der Unhold weiterzieht…

Fazit

Schade, dass Logik- und Programmfehler das unheimliche unbesiegbare Wesen manchmal als einfache Spielfigur entlarven. Auch die Technik ist ein Stolperstein, wenn der Blick in die Ferne nur noch grobe Flächen statt eines Paradieses zeigt. Und ich wünschte, die Suche nach dem lebensrettenden Heilmittel wäre umfangreicher als das unterm Strich geradlinige Auflesen von Hinweisen und Blüten. Denn das Zurechtfinden in der unbekannten Wildnis ist einmalig: Es ist geradezu befreiend, diese mysteriöse Welt ohne Wegweiser und Automatikzeichnung, nur mit einem Kompass bewaffnet zu erkunden. Mit Orientierungssinn und Ruhe pirsche ich mich voran – sogar auf die Beschaffenheit des Bodens muss ich achten.  Ich muss meine Verpflegung im Auge behalten und mich abseits des Wegs dorthin wagen, wo eine Kreatur lauert, der ich hoffnungslos unterlegen bin. Wenn ich nicht dem Tod geweiht sein will, muss ich mich meiner Angst stellen und auf ein knisterndes Versteckspiel einlassen – eindringlicher habe ich den Überlebenskampf in einer offenen Welt noch nirgendwo erlebt!

Pro

Bodenbeschaffenheit und Gefälle beeinflussen Vorankommen
Orientierung über Kompass, Karte und Triangulation
spannendes Versteckspiel vor tödlichem Gegner
ruhiges Auflesen, Analysieren und Verarbeiten von Pflanzen
Wassersuche und Herstellen eigener Medikamente
Spielfigur hält Karte, Kompass oder Tagebuch sichtbar in den Händen
sehr dichte akustische Umgebung
lebendige Inselwelt mit Tag/Nacht- und Wetterwechsel
Entdecken der Geschichte über hinterlassene Notizen

Kontra

überzogene Hardware-Anforderungen
grafische Schwächen, besonders in der Entfernung
einige Bewegungen und Suchmuster des Monsters wirken künstlich
nur drei Pflanzen tragbar, dafür künstlich wirkendes globales Inventar
kein Eintragen eigener Notizen
keine Geräusche für einige Aktionen, z.B. Trinken
Textanzeigen für Durst und Erschöpfung

Wertung

PC

Ein eindringlicher Überlebenskampf auf einer ebenso idyllischen wie bedrohlichen Insel.

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