Retrovirus15.02.2013, Michael Krosta
Retrovirus

Im Test:

Kennt noch jemand Microcosm? Im Action-Titel von Psygnosis aus dem Jahr 1993 reiste man in einer bewaffneten Kapsel durch den menschlichen Körper, vorbei an pumpenden Herzvenen und anderen Organen - „Die Reise ins Ich“ ließ grüßen. Retrovirus versucht ein ähnliches Kunststück, doch verlagert Entwickler Cadenza die Virenjagd in die elektronischen Eingeweide eines Computers sowie dessen Software - und weckt dabei Erinnerungen an den Klassiker Descent...

Volle Bewegungsfreiheit

Anti-Virenprogramme glänzen nicht unbedingt durch einen hohen Unterhaltungsfaktor. Man drückt einen Startknopf und schon werden Speicher und Dateien des Computers nach Schädlingen, Trojanern und Malware durchforstet, in Quarantäne verschoben oder vorsorglich eliminiert. Der Benutzer selbst bekommt davon nichts mit. Aber wäre es nicht aufregend, sich selbst auf die Jagd nach bösartigen Programm zu begeben und sie eigenhändig zu erledigen? Genau hier setzt Retrovirus an, bei dem man das Steuer eines Mini-Schiffs übernimmt, mit dem man sich durch verwinkelte Daten-Korridore bewegt, Firewalls überbrückt, Schlüsselkarten sucht und feindlichen Code mit diversen Waffensystemen zerstört. Für die schnelle Flucht oder ein Voranpreschen steht außerdem eine Boost-Funktion zur Verfügung.

Anders als in einem gewöhnlichen Ego-Shooter genießt man hier die völlige Bewegungsfreiheit im Raum - man kann das Vehikel also komplett um alle Achsen drehen, um das Innenleben des Computers bzw. der Software zu erforschen. Entsprechend schnell stellt sich das wunderbare „Fluggefühl“ ein, das manche Spieler noch aus Klassikern wie Descent oder Forsaken kennen und das hier ähnlich gut funktioniert. Das gilt nicht nur für die Steuerung mit Maus und Tastatur, denn auch Controller wie das 360-Pad werden unterstützt und sind für eine präzise Navigation geeignet. Voraussetzung ist hier jedoch, dass man nicht zu der Sorte Spieler gehört, welche die Y-Achse invertieren. Zwar findet man einen entsprechenden Menüpunkt in den Optionen, doch wirkt sich die invertierte Steuerung nur auf die Maus und nicht den Controller aus.

In Röhren und Schächten verbringt man einen Großteil der Zeit.
In Röhren und Schächten verbringt man einen Großteil der Zeit.
Dass man bei der Erkundung der vielen Schächte und im Eifer des Gefechts in den virtuellen Welten schon mal die Orientierung verlieren kann, ist keine große Überraschung. Deshalb haben die Entwickler eine Navigationshilfe im Stil von Dead Space spendiert, die auf Tastendruck eine Linie aus Pfeilen zum nächsten Ziel zeigt. Leider funktioniert das System nicht ganz zuverlässig: Ab und zu wurde ich z.B. zu einer Wand geführt, bei der es kein Durchkommen gab. Erst nachdem ich in eine andere Sektion zurückgekehrt war und einen neuen Versuch unternahm, hatte sich die Navigation wieder gefangen und leitete mich zuverlässig zum Ziel. Der verworrenen Story hätte ein solcher Wegweise ebenfalls nicht geschadet: Zwar erfährt man durch die gefundenen E-Mails und Sprachhinweise, dass sie sich wohl um eine Art große Verschwörung dreht, doch wird die Geschichte so abstrus präsentiert, dass man bei dem Geflecht aus meist künstlichen Personen schnell den Durchblick und die Lust verliert.    

Stilsicher

Besonders visuell sticht Retrovirus hervor: Die künstliche Welt mit ihren verzweigten Röhren, blinkenden Schaltern und Ventilatoren bekommen im Zusammenspiel mit der organisch wirkenden Wurminfektion einen ganz eigenen Stil. Es sieht klasse aus, wie sich die pilzartigen, lilafarbenen Geschwüre ausbreiten oder kleine Saugerwesen wie Kaulquappen an den Wänden entlang schrubben oder sich auf den Spieler stürzen. Im Laufe der „Wurmjagd“ erkundet man u.a. den Desktop, den Web-Browser oder das E-Mail-Programm, bei dem sogar kleine Briefsymbole durch die Gegend schwirren.

Wer hätte gedacht, dass die Arbeit eines Anti-Viren-Programms so aufregend sein kann?
Wer hätte gedacht, dass die Arbeit eines Anti-Viren-Programms so aufregend sein kann?
Ja, grafisch wird einiges geboten. Angesichts des Hardware-Hungers von Retrovirus ist es aber auch das Mindeste, was man erwarten kann. Unter einem Dual-Core mit mindestens 2 GHz und 2GB Speicher geht nichts, doch selbst unser Test-PC (i7-Prozessor & Geforce GTX 580) kam ganz schön ins Schwitzen. Ärgerlich: Nach einer gewissen Spielzeit kam es außerdem immer wieder zu Abstürzen, die sich zuvor schon durch ein drastisches Absinken der Bildrate angedeutet haben. Leider hat man es versäumt, den Arealen einen markanten Anstrich zu verpassen. So schön die Mischung aus künstlicher und organischer Kulisse am Anfang auch wirkt, nutzt sich der Stil mit der Zeit stark ab, weil es an Abwechslung mangelt. Zu selten wird man von einer neuen Aufmachung oder frischen Architektur innerhalb der Levels überrascht. Der monotone Elektro-Soundtrack im Hintergrund trägt neben den durchschnittlichen Effekten ebenfalls dazu bei, dass man Retrovirus lieber in kurzen Dosen genießen und nicht stundenlang in die Welt abtauchen möchte.

Schwankender Schwierigkeitsgrad

Wieder einen Teilabschnitt geschafft!
Wieder einen Teilabschnitt geschafft!
Hinzu kommt, dass man stellenweise aus Frust die Lust am Weiterspielen verliert, denn obwohl man der Bedrohung die meiste Zeit recht gelassen entgegentreten kann, steigt der Schwierigkeitsgrad manchmal sprunghaft an und treibt mich als Piloten an den Rand der Verzweiflung. Zwei Faktoren tragen dazu bei, dass es manchmal extrem brenzlig wird: Zum einen sind es die Observer-Dronen, die bei Beschuss zunächst friedlich werden, aber bei feindlichem Kreuzfeuer die Seite schnell wieder wechseln und mich erneut ins Visier nehmen. Zum anderen ist die Waffenleistung begrenzt, denn obwohl die Systeme wie Laser- oder Schleuderkanonen über unbegrenzte Munition verfügen, müssen sie sich nach einer bestimmten Anzahl an Schüssen erst wieder regenerieren. Und genau das kann bei einem erhöhten Gegneraufkommen zu einem Problem werden.

Release trotz Rückschlägen

Ursprünglich versuchten die Macher, die finale Entwicklung des Spiels über Kickstarter zu finanzieren , doch konnte man das angepeilte Mindestziel von 75.000 Dollar nicht erreichen. Dem kann man mit Hilfe von Updates bzw. Upgrades zumindest im Ansatz entgegen wirken, denn jeder vernichtete Gegner hinterlässt Speicherplatz, den man für Verbesserungen bereitstellen kann. Im Bereich „Optimize“ warten z.B. Tuningteile für eine schnellere Heilung oder die Verlangsamung von Gegnern, während bei „Debug“ mehr Lebensenergie bereitgestellt wird oder die Fähigkeit, Schaden zu absorbieren. Bei Updates im Bereich „Analyse“ lässt sich u.a.die Schadenswirkung der Waffen oder der Scan-Radius erhöhen, mit dem man die Umgebung zunächst vorsichtig nach den Schädlingen abtastet. Hält man den Scan-Knopf länger gedrückt, lässt sich die Funktion sogar mit einer Waffe zu einer Art Druckwelle ausbauen. Schön: Bei der Wahl des Upgrades legt man sich nicht endgültig fest, sondern kann den vorhandenen Speicherplatz jederzeit anderen Verbesserungen zur Verfügung stellen und je nach Bedarf zwischen ihnen wechseln. Ebenfalls als nützlich erweist sich die Schnellspeicherung, damit man nach dem Ableben nicht an den letzten automatischen Checkpunkt zurückgesetzt wird und viele bereits gemeisterte Abschnitte erneut absolvieren muss.

Gemeinsam gegen den Feind

Die komplette Kampagne lässt sich auch gemeinsam mit einem Koop-Partner bestreiten, wobei hier vor allem die Arbeitsteilung aus Scannen und Schießen interessant sein dürfte. Zwar gibt es keine Wiederbelebung, falls der Partner „gelöscht“ wird, doch landet er beim Respawn wieder automatisch in unmittelbarer Nähe des Mitspielers.

Der Computerwurm hat das gesamte System verseucht.
Der Computerwurm hat das gesamte System verseucht.
Daneben werden auch kompetitive Mehrspieler-Modi angeboten - allen voran das klassische (Team-)Deathmatch, bei dem sich bis zu 32 Spieler über eine Internetverbindung oder im LAN durch die Arenen jagen. In Domination geht es darum, Stützpunkte einzunehmen, sie zu halten und gegen Angreifer so lange wie möglich zu verteidigen. Mit am interessantesten ist jedoch der MOBA (Multiplayer Online Battle Arena)  getaufte Modus: Hier treten sich in einer großen Arena zwei Teams gegenüber und haben die Aufgabe, den Nexus (und damit quasi die Zentrale) des Feindes zu zerstören. Dabei legen sich nicht nur menschliche Spieler untereinander an, denn u.a. müssen auch automatische Geschütztürme überwunden werden.

Um dem Ganzen noch mehr Würze zu geben, lässt sich optional ein Teambeschuss aktivieren, bei dem man noch wachsamer agieren muss. Stehen für das Deathmatch sieben Karten zur Auswahl, geht die Anzahl bei Domination auf vier, beim Team-Deathmatch sogar nur auf drei zurück, während für den MOBA-Modus lediglich eine Arena geboten wird. Mit einer größeren Auswahl darf man in Zukunft rechnen, denn die Entwickler planen die Veröffentlichung eines Editors für das Erstellen eigener Maps. Vielleicht herrscht dann auch mehr Betrieb auf den Online-Servern, denn bisher ist so wenig los, dass wir nicht einmal alle Modi ausprobieren konnten. Erfreulicherweise kann man aber auch in einem lokalen Netzwerk loslegen.

Fazit

Retrovirus ist ein solider Shooter, der die Tradition eines Descent oder Forsaken wieder aufleben lässt. Vor allem das herrliche Gefühl, sich um alle Achsen drehen und frei im Raum bewegen zu können, kommt hier ähnlich gut rüber wie bei den Vorbildern. Leider gibt es heute kaum noch Spiele in dieser Art. Insofern ist es schön, dass das Team von Cadenza diese Lücke füllt. Vor allem stilistisch überzeugt der Titel mit seiner Mischung aus künstlichen Kulissen und organischen Gegnern, die teilweise an den Klassiker Tron erinnert. Schade, dass die Areale nicht markanter gestaltet wurden und man sich schnell satt gesehen hat. Enttäuschend ist die monotone Klangkulisse mit durchschnittlichen Soundeffekten und öder Musikbegleitung. Der Schwierigkeitsgrad ist zwar über weite Strecken moderat, schwankt aber frustrierend. Koop-Kampagne und Mehrspieler-Modi sind löblich, doch wird man es aufgrund leerer Server schwer haben, Mitstreiter zu finden. Immerhin ist der geplante Editor ein kleiner Hoffnungsschimmer - genau wie die Patches, die die sporadischen Abstürzen hoffentlich bald verhindern.

Pro

ansprechender visueller Stil...
tolles "Sechs-Achsen-Spielgefühl"
Navigationshilfe...
gelungenes Upgrade-System
Koop- & Mehrspielermodi
LAN-Unterstützung

Kontra

...dem es auf Dauer an Abwechslung mangelt
mitunter stark schwankender Schwierigkeitsgrad
...die manchmal in die Irre führt
monotone Soundkulisse
schwach präsentierte und verwirrende Story
Controller-Steuerung lässt sich nicht invertieren
hohe Hardware-Anforderungen
vereinzelte Abstürze

Wertung

PC

Stilistisch beeindruckender Shooter mit Descent-Flair, dem auf Dauer aber die Puste ausgeht.

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