Ghost of a Tale23.03.2018, Benjamin Schmädig

Im Test: Großes Abenteuer für kleinen Helden

Ghost of a Tale (ab 6,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) hatte binnen Sekunden meine Aufmerksamkeit geweckt: Wenn sich Tilo mit gespitzten Ohren hinter den dicken Brettern einer dicken Tafel versteckt oder auf allen Vieren an den schiefen Mauern einer alten Festung entlang wetzt, dann scheint es, als wäre die mutige Maus direkt aus einem Disney-Film in ihr eigenes Spiel gesprungen. Der Animation Director von Ich – Einfach unverbesserlich (Despicable Me) wollte ein Abenteuer erschaffen, dessen Kulissen wie die eines Films wirken. Wie gut ihm das gelungen ist, fanden wir im Test heraus.

Als Liedermacher Lieder machen

Was macht die kleine Maus da eigentlich auf einer Burg, deren uralte Mauern langsam vom sauren Meer abgetragen werden? Nun, zum einen ist Tilo dort eingekerkert – nicht für lange natürlich, denn schon bald entflieht er zumindest seiner Zelle und kann sich in der Festung frei bewegen. Zum anderen ist er auf der Suche nach seiner geliebten Merra, die ebenfalls gefangen genommen wurde, nachdem sie sich weigerte, für den Baron zu singen.

Tatsächlich ist nicht nur die Geschichte um Tilo, sondern auch der erzählerische Hintergrund um einen vergangenen Krieg und um Verrat sowie den Zwist unter verschiedenen Völkern, Verzeihung: Tierarten, wunderbar stimmig. Sie wird von cleveren Details getragen, die die Handlung mit dem Spiel verknüpfen und sie so zu einem gewichtigen Bestandteil des Abenteuers

Tilo erlebt spannende Abenteuer und entdeckt atemberaubende Aussichten.
machen. Tilo selbst ist z.B. Minnesänger und stimmt nicht nur seine (leider nicht vertonten) Lieder an, sondern schreibt sogar ein neues, indem man Zeile um Zeile bestimmt, wie der Vers fortgeführt wird.

Ratten, typisch!

Dass sich ein Liedermacher nicht Säbel schwingend durch Horden von Wachen, sprich: Ratten, schnetzelt, die ihn um zwei Köpfe überragen, versteht sich selbstredend. Und so geht der Mausmann lieber in Deckung, schleicht geduckt an schnarchenden Torwärtern vorbei – oder sprintet flink um zwei Ecken, wenn er doch mal gesehen wird. Zum Glück rennen die Wachen nur wenige Meter weiter, nachdem sie Tilo aus den Augen verlieren, sodass man brenzlige Situationen meist binnen Sekunden auflöst. Ghost of a Tale ist trotz offensichtlicher Anleihen keine Stealth-Action. Es ist ein Versteckspiel, das seinen

In Kisten und Fässern versteckt sich Tilo vor Wachen. Nur in einem der (zahlreichen) Verstecke kann man das Spiel speichern.
Reiz aus den lebendigen Kulissen zieht.

Man muss ja trotzdem vorsichtig seinen Weg suchen und manch knifflige Herausforderung durch gutes Timing sowie einen geschickten Sprung meistern. Ein gelungener Anreiz ist zudem der Diebstahl des Taschentuchs, das jede Wache bei sich trägt - eine sehr nette Idee!

Tausend schiefe Ecken

Und wie lebendig die Kulissen wirken! Alleine die eigenwilligen Größenverhältnisse, mit denen Grafikkünstler Lionel Gallat eine Maus so groß wie einen Tisch sein lässt, aber nicht groß genug, um bequem daran sitzen zu können, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Dazu kommen tausend schiefe Ecken, die er scheinbar von Hand geschliffen hat, sowie verwinkelte Gänge, in denen sich etliche Geheimnisse verbergen. Nachdem man Dutzende Male an ihnen vorbeigelaufen ist, entdeckt man noch versteckte Tunnel oder Seilzüge, über die man Gebiete erreicht, die zuvor nur Blickfang schienen. Es ist unglaublich motivierend, sich das Labyrinth aus Kellern, Gemächern und kleinen Waldstücken zu eigen zu machen!

Man läuft zudem nicht einmal ans Ziel, um ein zweites Mal dorthin zurückzukehren. Vielmehr wetzt Tilo wieder und wieder durch die gleichen Gänge, um über die Kreuzung hinter dem Wall erst in die Wachstube, dann in den Turm und irgendwann einen Vorhof zu gelangen, bevor er später noch weitere Wege erledigt. Ständig kommen neue Ziele hinzu, von kleinen Suchaufträgen bis zur Suche nach einem wichtigen Schlüssel. Weil derselbe Schauplatz ständig präsent ist, immer wieder mit neuen Aufgaben gefüllt wird und man stets Neues entdeckt, fühlt er sich nicht wie eine Grafik zum dran Vorbeilaufen an, sondern wie ein Ort, der Bestand hat.

Cleveres Quatschen

Dafür sorgen auch die cleveren Nebenaufgaben, von denen jeder noch so kleine Sammelauftrag einen erzählerischen Zweck erfüllt, der sich über Tilos Gespräche mit freundlichen Mitgefangenen, mit dem örtlichen Schmied und mit anderen Figuren ergibt. Hinter jeder Zahl steht eine kleine Geschichte – das macht einen großen Unterschied.

Ganz abgesehen davon würzt Gallat die Unterhaltungen mit einem sehr sympathischen Wortwitz, während viele Charaktere etwas anderes antworten, falls Tilo mehrmals dasselbe fragt. Klasse auch, dass der Mäuserich für gefundene Münzen beim

Stimmungsvolle Schatten unterstreichen das spannende Versteckspiel.
Schmied Informationen erhält. Die sind hilfreich, wenn er einen Gegenstand mal nicht findet oder vergisst, wohin er gehen musste. Immerhin sind die Karten kein Wegpunkt-Menü, sondern grob gezeichnete Grundrisse ähnlich denen in Thief. Auch das ist ein Grund, dass das Beobachten der Umgebung wichtiger ist als das Ablesen einer darüberliegenden Schablone.

Wer soll sich das alles merken?

Nur mit der Dichte an Aufgaben hat es der vom Film gewechselte Spielemacher leider übertrieben, denn es gab nicht wenige Momente, in denen ich mich überfordert fühlte. Gerade in den ersten Stunden landen dermaßen viele Stichpunkte in der Auftragsliste, zu denen wichtige Hinweise aber nicht vermerkt werden. Natürlich kann man diese Herausforderungen stur nacheinander abarbeiten. Dank der fehlenden Notizen schweben einem aber stets sehr viele Ortsbeschreibungen und andere Hinweise recht wild im Kopf herum, wodurch man sich schnell gehetzt vorkommt.

Öffnet ein gerade gefundener Schlüssel eine lange verschlossene Tür oder findet man endlich das letzte Teil eines Outfits, mit dem man entweder von Wachen unerkannt durch die Burg stolziert oder besonders leise schleicht, sind diese Frustmomente schnell wieder vergessen – das Notieren alles Gesagten hätte dem Spiel dennoch gutgetan

Fazit

Ghost of a Tale ist nicht in jedem Moment ein sehr gutes Abenteuer: Der relativ kleine Schauplatz ist überladen mit notwendigen Erledigungen und man entdeckt in der Luft schwebende Objekte sowie andere kleine Fehler. Und trotzdem macht Lionel Gallat fast allen seiner Kollegen mächtig was vor, weil er ihnen zeigt, wie man eine glaubwürdige Kulisse und einen liebenswerten Helden sowohl grafisch als auch spielerisch zum Leben erweckt. Die verwinkelte Festung ist ein wunderschöner Schauplatz voller Geheimnisse und interessanter Herausforderungen. Das oberflächliche Versteckspiel mit den Wachen ist trotz allem spannend, die vielen kleinen Geschichten mal witzig, mal unterhaltsam und man trifft sogar moralische Entscheidungen. Es ist die sorgfältige Art und Weise, mit der Gallat jeden Teil seines Spiels zu einem Element macht, das sich aus dem Schauplatz, seinen Charakteren und ihren Geschichten ergibt – und dem kleinen Abenteuer eine große Seele verleiht.

Pro

zauberhafte Kulissen mit etlichen interessanten Geheimgängen und Kellern
prächtig animierter Held
liebevolle Geschichte mit lebendigen Charakteren und interessantem Hintergrund
keine Informationen und kein Sammelkram von außerhalb der Spielwelt: sämtliche Informationen und Aufgaben ergeben sich aus Umgebung oder kommen von anderen Figuren
Einkaufen optionaler Informationen, wenn Vorankommen schwerfällt
freies Erkunden und Klettern statt vorgefertigter Interaktionspunkte
cleveres Speichersystem: jederzeit, aber nur in Verstecken

Kontra

sehr viele Aufgaben auf relativ kleinem Raum: fühlt sich spielerisch überladen an
Wachen rennen Tilo schnurstracks hinterher oder zurück, mehr nicht
kleine grafische und inhaltliche Fehler

Wertung

PC

Der vom Film kommende Lionel Gallat erweckt einen liebenswerten Helden in ausgesprochen plastischen Kulissen zum Leben.

Echtgeldtransaktionen

Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?

Gar Nicht
Leicht
Mittel
Stark
Extrem
  • Es gibt keine Käufe.
0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.