The Novelist11.12.2013, Jörg Luibl
The Novelist

Im Test:

Ein Schriftsteller mit Schreibblockade, der mit seiner Frau und seinem Sohn für drei Monate in ein Sommerhaus zieht? Klingt das nicht nach Shining? The Novelist inszeniert keinen Horror à la Stephen King, aber auch hier gibt es eine übersinnliche Komponente, es  kommt zu Konflikten und im schlimmsten Fall zu einem tragischen Ende für die Familie. Warum sich der Ausflug ans Meer für Spieler und Psychologen lohnt, klärt der Test.

Trügerische Familienidylle

Kann man sein Leben ändern? Können bestimmte Entscheidungen dafür sorgen, dass eine Beziehung eine andere Richtung einschlägt? The Novelist wirft diese Fragen auf. Dabei spielt es auf sehr geschickte Art mit Entscheidungen und Konsequenzen. Man kann in den Alltag einer ganz normalen amerikanischen Familie abtauchen. Der Mann ist Schriftsteller, die Frau Künstlerin und der Junge träumt von Pfeilspitzen. Drei Monate Urlaub stehen an. Was kann da schon schief gehen? Sehr viel. Denn alle haben ihre eigenen Vorstellungen von einem glücklichen Leben.

Zu Beginn sieht noch alles idyllisch aus; das Ferienhaus ist groß, das Meer vor Tür. Das Einzige was nicht normal scheint, ist die übersinnliche Rolle des Spielers. Man ist ein Geist, der in Egosicht per WASD durch das Haus huschen kann. Man ist auf der einen Seite ein Beobachter, der nicht nur das Gesagte, sondern auch das Gedachte und Geträumte erkennen kann. Auf der anderen Seite ist man aber auch Beeinflusser, der jeden Abend festlegen kann, was die Familie als Nächstes tut. Und so entscheidet man über ihre Beziehungen und den Verlauf des Urlaubs.

Geisterpsychologe in Egosicht

Als Geist kann man mit Space von Lampe zu Lampe huschen - dann ist man sicher. Sobald man sie verlässt, kann man entdeckt werden...
Als Geist kann man mit Space von Lampe zu Lampe huschen - dann ist man sicher. Sobald man sie verlässt, um z.B. Notizen zu lesen, kann man entdeckt werden...
Schon das Beobachten ist unterhaltsam. Nicht weil The Novelist so gut aussehen würde – die Kulisse versprüht den sterilen Charme einer IKEA-Software, ein Blick aus den Fenstern offenbart eine Küstentapete und die Animationen sind gerade noch okay. Außerdem verhalten sich die Figuren nicht besonders vielfältig in ihrem Alltag, sondern recht eingeschränkt: Sie spielen, lesen, schlafen; viel mehr gibt es nicht zu sehen. Aber irgendwann stört einen das spartanische Äußere nicht mehr, weil das Innenleben der Figuren sowie die Geschichte der Familie eine eigene Sogwirkung entfaltet – die Personen wachsen einem ans Herz, wenn sie hoffen, leiden oder verzweifeln. Auch wenn dabei nicht alle Reaktionen immer glaubwürdig wirken, ist das Spiel dennoch reizvoll, weil es die schützenden Hüllen des Alltags entfernt und den Psychologen im Spieler weckt. Und zwar eine sehr mächtige Art dieser Spezies, die ihre Patienten tatsächlich zu Handlungen bewegen kann. Dass sie ins Chaos führen können, ist hier das gespielte Berufsrisiko.

Die Widersprüche zwischen dem  Gesagten, Gedachten und Geträumten zeigen auf sehr einfache Art, wie man aneinander vorbeileben oder sich Dinge einreden kann. So kann eine harmlose Szene wie eine morgendliche Begrüßung, die nur ein Ehepaar zeigt, gleichzeitig einen Konflikt offenbaren, wenn die Gedanken auf einen Klick sichtbar werden. Nach zwei Kapiteln am Meer klafft sogar ein psychologischer Abgrund, der alle drei verschlucken könnte: Dan säuft vor lauter Frust über seine Schreibblockade, Linda leidet unter der brüchigen Beziehung und ihr einziges Kind Tommy spürt die Spannungen natürlich und überträgt sie nicht nur in seine Bilder. Wenn man nicht aufpasst, kann hier sehr viel kaputt gehen. Lässt sich das Familiendrama verhindern?

Drei Monate für ein Schicksal

Welche Auswirkungen die Entscheidungen haben, wird in Zusammenfassungen dargestellt.
Welche Auswirkungen die Entscheidungen haben, wird in Zusammenfassungen dargestellt. Die Beziehung zwischen Dan und Linda droht zu scheitern...
Noch habe ich Zeit, diese Familie zu retten. Noch kann ich durch meine Entscheidungen als Geist ihr Schicksal beeinflussen. Und ich grüble sehr lange darüber, wie ich das am besten anstellen könnte. Dabei habe ich mich in den ersten Kapiteln auf den Jungen konzentriert und versucht, seine Wünsche an diesen Urlaub zu erfüllen – deshalb ist Dan mit ihm spielen gegangen, anstatt sich weiter in seine Arbeit zu stürzen oder um seine Frau zu kümmern. War das vielleicht der Fehler? Hätte ich für eine bessere Balance sorgen müssen, indem ich auch auf die Bedürfnisse seiner Eltern achte? Das habe ich eigentlich versucht. Das Problem ist nur, dass man sich am Ende eines Kapitels immer für eine Aktion entscheiden muss. Entweder man macht Dan, Linda oder Tommy glücklich.

Wie funktioniert dieses Glücklichmachen? Über die Sammlung von Indizien, die in Form eines einfachen Suchspiels im ganzen Haus stattfindet. Da es sich immer wiederholt, entsteht hier schnell eine Routine. Hat man jeweils alle drei Hinweise für einen Charakter gefunden, indem man seine Notizen findet oder in seinen Erinnerungen den lauter werden Geräuschen folgt, die zu schwarzweißen Schlüsselerlebnissen führen,  wird ein Schlüsselgegenstand blau markiert. Nachdem man auch diesen gefunden hat, kann man das persönliche Ende eines Charakters für ein Kapitel einleiten, indem man am Abend z.B. dem schlafenden Dan etwas einflüstert. Theoretisch kann man also immer drei Enden einleiten.

Parapsychologische Stealth-Action

Man kann auch in den Erinnerungen der Menschen nach Hinweisen suchen. Dazu muss man sich von hinten heran schleichen...
Man kann auch in den Erinnerungen der Menschen nach Hinweisen suchen. Dazu muss man sich von hinten heran schleichen...
Praktisch kann man sich diese Optionen aber verbauen. Und das ist eine interessante Komponente, die für einen Hauch von spielerischen Anspruch sorgt. Als Geist kann man von Lichtquelle zu Lichtquelle huschen, um z.B. den Gedanken des Jungen zu lauschen oder einfach eine Etage zu überwinden - einfach mit der Maus anvisieren und schon beamt man sich weiter. Außerdem ist man in so einer Lampe für die anderen unsichtbar. Aber außerhalb der Lampe, wenn man z.B. zu einer Notiz schwebt, ist man nicht mehr unsichtbar. Im zweiten Kapitel werden zudem einige Lampen deaktiviert, so dass es weniger sichere Rückzugsquellen gibt. Trotzdem ist das Ganze für erfahrene Spieler immer noch recht einfach.

Allerdings entsteht dieser minimale Anspruch nur, falls man „Stealth“ zu Beginn aktiviert, was ich dringend empfehle. Denn nur dann darf man sich nicht direkt bei der Hinweissuche blicken lassen, wobei man einen Joker hat. Wird man einmal gesehen, ist der Mensch nur misstrauisch - trotzdem verfolgt er einen recht authentisch und die Familie redet auch über ihre seltsame Wahrnehmung. Man muss also fliehen. Aber beim zweiten Mal wird er so ängstlich, dass seine Gedanken gar nicht mehr zugänglich sind. Sprich: Sein Ende wird für dieses Kapitel nicht wählbar sein. Um die Entdeckung zu vermeiden, kann man entweder den Blickfeldern ausweichen oder die Menschen weglocken, indem man Lampen flackern lässt – dann hört Tommy auf zu spielen und bewegt sich in die Richtung. Ein netter Zusatz, den man aber nicht all zu oft wirklich clever einsetzen muss.

Fazit

The Novelist ist ein Spiel zum Nachfühlen. Man schlüpft in die Rolle eines unsichtbaren Beobachters und Entscheiders, der das Schicksal einer Familie beeinflussen kann. Wie ein geisterhafter Psychologe tastet man sich mit jedem Kapitel tiefer in die Geschichte und die Konflikte von Dan, Linda und Tommy. Man wird Zeuge und Täter in einem Drama des Alltags, das uns als Menschen in Beziehungen den Spiegel vorhält. Wie gerät ein Leben in eine Schieflage? Wessen Glück ist wann wichtiger? Zwar hätte man aus den Stealth-Elementen mehr Spannung rausholen und die Suche nach Indizien abwechslungsreicher gestalten können. Außerdem ist die Kulisse etwa so attraktiv wie ein animierter IKEA-Katalog. Aber hier kann ich mehr entscheiden als in Beyond: Two Souls, weil die Rolle des Geistwesens aktiver in die Entwicklung der offenen Story integriert wurde. Wie andere kleine erzählerische Experimente zuvor beweist The Novelist vor allem eines: Viel entscheidender als die Technik ist das Drehbuch eines Spiels. Hier geht es um die Faszination des allzu Menschlichen und die Auswirkungen unserer Handlungen. Man identifiziert sich und fühlt mit. Ohne einen moralischen Zeigefinger wird man unweigerlich in moralische Zwickmühlen jenseits von Sieg und Niederlage geführt. Die Spielewelt hat wieder etwas gewonnen – das erste interaktive Familiendrama.

Pro

innovative Spielidee
psychologisches Familiendrama
freie Entwicklung der Geschichte
sehr gut geschriebene Texte
Spieler als Beobachter und Entscheider
optionale Stealth-Elemente
Entdeckung hat Folgen
kein moralischer Zeigefinger
hoher Wiederspielwert

Kontra

nur auf Englisch
spartanische Kulisse
Hinweissuche wiederholt sich
Stealth-Elemente zu einfach
Klaviermusik etwas zu eintönig

Wertung

PC

Die Spielewelt hat wieder etwas gewonnen - das erste interaktive Familiendrama.

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