Cloud Chamber22.08.2014, Jan Wöbbeking

Im Test: Erzählerisches Experiment

Der Kopenhagener Entwickler Investigate North will die Grenzen zwischen Mystery-Thriller und vernetzter Kommunikation verwischen: In Cloud Chamber soll die ganze Welt das Rätsel um einen Todesfall sowie geheimnisvoll leuchtende Experimente entschlüsseln. Steckt hinter dem Titel ein zukunftsweisendes Konzept?

Spannende Ermittlung oder passive Berieselung?

Statt mich alleine durch ein Adventure zu rätseln, inspiziere ich in Cloud Chamber eine ganze Reihe von Filmschnipseln und Dokumenten, um mir gemeinsam mit der Community den Kopf darüber zu zerbrechen. Nur sinnvolle Beiträge werden von anderen Spielern mit positiven Bewertungen honoriert. Habe ich genügend davon gesammelt, werden geheime Dokumente freigeschaltet, welche mir neue Einblicke in die Geschichte eröffnen.

Als Erzählform haben sich die Entwickler das „Found Footage“-Genre vorgenommen, das in Horror-Filmen seit geraumer Zeit einen Boom erlebt. Der Spieler wird mit einem wild durcheinandergewürfelten Sammelsurium an Filmschnipseln, Zeichnungen, Fotos, Briefen und E-Mails konfrontiert, aus denen er sich nach und nach die Hintergründe zusammenreimen soll.

Geräusche aus dem All

Der vordergründig kalten Kathleen setzen die Experimente offenbar stark zu: Immer wieder bricht sie in ihren Videologs in Tränen aus oder verbindet die Erkenntnisse mit ihrer Gefühlswelt.
Die Geschichte dreht sich um ein junges Trio, welches am Kopenhagener Petersen-Institut in ein geheimes Forschungsprojekt gerät. Nebenan brütet eine Reihe von Wissenschaftlern über mit Antennen aufgefangenen Geräuschen aus dem All. In einem futuristisch eingerichteten Sound-Studio sollen vielleicht eines Tages winzige Neutrino-Teilchen nachgewiesen werden. Kathleen, Max und Thomas arbeiten derweil an anderen Dingen: Worum genau es geht, will ich hier nicht verraten, aber es hängt offenbar mit den vielen kleinen Störungen zusammen, welche immer wieder auf Bildern und in Filmszenen auftauchen. Thomas dokumentiert das Ganze mit seinen Videos. Die von Max komponierte elektronische Musik scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen.

Auch Kathleens Eltern haben offenbar schon früher ihre Fühler in die Richtung ausgestreckt: Ihr Vater führt das Institut, ihre Mutter ist bei einem mysteriösen Unfall ums Leben gekommen. Nach und nach werden immer mehr Fragen aufgeworfen. Wurde sie in Wahrheit ermordet? Worum handelt es sich bei den mysteriösen Signalen? Verliert die emotional reagierende Kathleen langsam den Verstand?

Mehr Film als Spiel?

Auch der musikalische Max und der überhebliche auftretende Thomas sind nicht immer einer Meinung.
Auf den ersten Blick wirkt das „Spiel“ nicht besonders gehaltvoll: Anders als in üblichen Adventures kann ich keinerlei klassische Rätsel lösen. Lediglich in der Diskussion mit anderen Spielern versuche ich, die Hintergründe zu deuten und werde für meine Kommentare mit Bewertungen und neuen Dokumenten belohnt. Als ich mich an das Konzept gewöhnt hatte, wurde es allerdings unterhaltsam. Die meiste Zeit verbringe ich mit dem Schauen, Zurückspulen und Analysieren von Filmschnipseln. Kurz danach werfe ich meist einen Blick auf die nützlichsten und aktuellsten Beiträge in der Kommentarsektion, welche direkt ins Spiel eingebunden ist und visuell an Youtube erinnert.

Zu den meisten Sequenzen gelange ich durch einfaches Anklicken, doch einige geheime Dokumente werden erst freigeschaltet, wenn ich mich einbringe. Das fordert natürlich ein wenig Überwindung, wenn man selbst nicht gerade ein mitteilungsbedürftiger Fan sozialer Netzwerke ist. Im Gegensatz zum Smalltalk auf Facebook & Co laufen die Diskussionen hier aber sehr themenbezogen und konstruktiv ab. Selbst wenn die wichtigsten Anregungen schon genannt wurden – irgendetwas Interessantes gibt es fast überall anzumerken: „Video x ist offenbar direkt vor Filmschnipsel y entstanden - das erkennt man an der gleichen Kleidung“ oder „die Störung im Video a ist ein klarer Hinweis auf Phänomen b“. Auch die geschickt eingebundenen wissenschaftlichen Hintergründe werden analysiert: „Warum weist der Werbefilm nur auf das vorgestellte ESA-Projekt hin und nicht auf jenes, welches viel besser zum Thema passen würde? Wird es absichtlich verschwiegen?“

Rätseln durch Diskussionen

Mir fiel z.B. bei der Aufnahme auf einem Dach sofort auf, dass etwas faul ist: Während Max und Thomas nach einem Experiment aus der Bewusstlosigkeit aufwachen, sind mir links zwei seltsame Schemen aufgefallen. „Wer sind die beiden dunklen Gestalten am linken Bildrand?“ fragte ich und erntete dafür eine ganze Reihe positiver Bewertungen. Zwei Tage später erhielt ich sogar die Auszeichnung als bester Diskussionsteilnehmer zum Dokument. „Einer der beiden gibt offenbar ein Handzeichen“, antwortete ein Nutzer, „ein Anzeichen dafür, dass er das Kommando zum Aufstehen gibt und das Video gefälscht wurde!“

Die Entwickler spielen immer wieder gekonnt mit solchen Meta-Ebenen ihrer Erzählform. Zu Beginn störten mich z.B. die zahlreichen Kamera-Perspektiven: Wo waren denn bitte bei der angeblich amateurhaften Doku die ganzen Kameramänner, die für solch ein professionelles Endergebnis nötig gewesen wären? Und warum hat die Postproduktion die Aufnahmen mit derart unterschiedlichen Filtern und Bildfehlern versehen? Mal erinnern die weißen Punkte an radioaktive Strahlung auf analogem Film (wie aus Tschernobyl), anderswo gibt es eckige Kompressionsfehler (wie bei digitalem Material) zu sehen. Zu Beginn wirkte das alles reichlich unglaubwürdig - doch je tiefer ich in die Geschichte eintauchte, desto mehr schlüssige Theorien entwickelten sich dazu in meinem Kopf. Auch die zu professionelle Aufmachung störte mich irgendwann kaum noch: Als Fragmente einer Dokumentation wirken die Schnipsel tatsächlich zu poliert. Wenn man Cloud Chamber als interaktives Gegenstück zu einer Mystery-Serie begreift, bleibt es aber meist glaubwürdig. Um mich bei Akte X auf die Handlung einlassen zu können, stelle ich schließlich auch nicht jede Einstellung und jedes handwerkliche Detail in Frage.

Game of Casino Royal

Die Reise durch die Datenbank gleicht einer Achterbahnfahrt durch eine technoid designte Traumwelt.
Unter den Darstellern befinden sich bekannte Gesichter: Gethin Anthony (Game of Thrones), Jesper Christensen (Casino Royal) und ihre weniger bekannten Kollegen liefern zwar keine Hollywood-Leistung ab, trotzdem überzeugt ihr Schauspiel. Auch die Inszenierung liegt meilenweit über dem Standard alter Full-Motion-Spiele aus dem LaserDisc-Zeitalter. Vor allem Kathleens Beziehung zu ihren beiden Mitstreitern macht die Geschichte interessant. Die emotionale Verfassung der drei ist offenbar stark mit ihrer Forschung verknüpft: Mal wirkt Kathleen in ihren Video-Logs gefasst oder euphorisch, später total aufgewühlt und traurig, als sie wieder eine Entdeckung gemacht hat, welche sich nur schwer in Worte fassen lässt. Auch bei der Beziehung zu ihrem stoischen Vater liegt offenbar einiges im Argen.

Die „Reise“ durch die Datenbank erinnert an eine Achterbahnfahrt durch eine futuristisch glühende Drahtgitterwelt. Zu Beginn war mir die Navigation etwas zu umständlich, weil man manche Dinge erst sieht, nachdem man die Kamera mit der rechten Maustaste gedreht hat. Später habe ich es aber genossen, durch die bunte Parallelwelt zu düsen, deren Design gut zum Thema passt. Verfügbare Dokumente lassen sich mit einfachen Mausbefehlen öffnen, zoomen und bewegen. Der Aufbau der Kommentar-Sektion hat mir weniger gefallen: Das Scrollen der Texte z.B. geht etwas hakelig vonstatten. Außerdem mangelt es an Metadaten: Ich kann z.B. nicht einmal das Datum oder die Uhrzeit sehen, an dem ein Kommentar oder eine Nachricht verfasst wurde. Gerade in einem derart kommunikativen Spiel ist das ein herber Dämpfer.

Technologie und Techno

Ein Blick auf eines der zoombaren Dokumente. Im kleinen Fenster rechts wird kommentiert und diskutiert.
Auch die dumpf wummernde Hintergrundmusik ist mir beim Inspizieren von Dokumenten schnell auf den Wecker gegangen. Im Rest des Spiels passen die elektronischen Klänge aber gut zur Geschichte: Das Repertoire reicht von entspanntem Electro mit Gesangspassagen über Max‘ futuristisch fiepsenden Dubstep bis hin zu chaotischem Lärm, welcher die anschwellende Dramatik in den letzten „Levels“ symbolisiert. Allzu lang dauert die Rätselreise übrigens nicht: Nach wenigen Stunden war ich in der letzten Sektion der Datenbank angelangt. Danach wurden aber immer wieder geheime Dokumente in den früheren Levels freigeschaltet, die ich mir nach und nach durch meine positiv bewerteten Kommentare verdient hatte.

Fazit

Spielerisch wirkt Cloud Chamber reichlich dünn: Bis auf das Schauen von Filmschnipseln, das Inspizieren von Mails und Bildern sowie das Kommentieren und Bewerten gibt es nichts zu tun. Geheimnisse werden hier – wenn überhaupt – nur in der Diskussion mit anderen Nutzern gelüftet. Als interaktiver Mystery-Thriller schlägt sich das Projekt des Kopenhagener Studios Investigate North aber gut – obwohl die Kommentarfunktion etwas umständlich gestaltet wurde. Je tiefer ich in den Wust aus Videoschnipseln und Dokumenten eintauchte, desto interessanter wurde das Forschungsprojekt um bedrohliche Signale, Licht- und Soundphänomene. Vor allem die Verbindung zur Gefühlswelt der Hauptfiguren und die Bezüge zu echten wissenschaftlichen Projekten machen die Geschichte interessant.

Pro

interessante Kombination aus Filmschnipseln, Inspektion von Dokumenten und Dikussionen...
futuristisch designte, der Stimmung angepasste 3D-Präsentation
spannend präsentierte Mystery-Geschichte entfaltet sich nach und nach
wissenschaftliche Hintergründe und elektronische Musik geschickt eingeflochten
sinnvolle Beiträge und Bewertungen eröffnen neue Bereiche
Verbindung von Phänomenen und Gefühlswelt macht neugierig

Kontra

...spielerisch aktiv werden kann man kaum: gerätselt wird nur mit Kommentaren und Bewertungen
dumpf gefilterte Musikbeschallung nervt mitunter
Kommentarsystem wirkt zu eingeschränkt und fummelig

Wertung

PC

Spielerisch dünner, aber erzählerisch gelungener Thriller um Experimente mit geheimnisvollen Geräuschen und Lichtphänomenen.

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