The Old City: Leviathan04.12.2014, Jörg Luibl
The Old City: Leviathan

Im Test: Ein philosophischer Spaziergang

Egal ob Dear Esther, Gone Home, 4PM, Journal oder The Vanishing of Ethan Carter: Vor allem auf dem PC findet man viele Storytelling-Experimente. Seit einigen Jahren trauen sich immer mehr Entwickler auf andere Art oder aus anderer Perspektive eine Geschichte innerhalb des Mediums Spiel zu erzählen. Wie schlägt sich The Old City: Leviathan von PostMod Softworks? Mehr dazu im Test.

Malerischer Surrealismus

Ist das alles nur ein Traum? Erkundet man eine postapokalyptische Welt? Eine alternative Realität? Oder betritt man gar eine Wahnvorstellung? Diese Fragen stellen sich, wenn man als Namenloser in Egosicht die unwirklichen Schauplätze erkundet. Über elf Kapitel geht man ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nach, während man beim langsamen Spazieren durch die labyrinthischen Gänge oder idyllischen Anlagen auf wundersame bis verstörende Zeichen, Zettel, Szenen und Namen trifft.

Man beginnt das Spiel in einem schnöden Keller. Kaum geht man hinaus, öffnet sich ein Labyrinth aus Gängen und Gedanken.
Die Kulisse erreicht zwar bei weitem nicht die grafische Klasse eines Dear Esther oder gar The Vanishing of Ethan Carter, aber lockt hier und da mit malerischem Surrealismus – da umarmt ein bunter Riesenvogel schon mal schlafend ein Haus. Die Stimmung schwankt zwischen märchenhaft, dekadent und verrückt. Dabei fängt alles in einem schnöden Keller an, in dem wirre Tagebucheinträge an der Wand von Moses, Leviathan und Minotauren künden. Dann meldet sich eine Stimme. Ist das ein hilfreicher Mentor? Ein anderes Ich? Mein Ich? Jedenfalls dürfte man ohne sehr gutes Englisch ohnehin nur die Hälfte verstehen - immerhin sind Untertitel einblendbar.

Philosophische Fragen, kryptische Antworten

Das Wesen klinkt sich immer wieder als Erzähler ein. Während ich ahnungslos durch Keller und Anlagen irre, redet er an bestimmten Stellen über Gott und die

Was hat es mit diesem riesigen schlafenden Vogel auf sich? Alles nur ein Traum mit Symbolcharakter?
Welt. Er stellt philosophische Fragen und gibt kryptische Antworten. Diese Monologe wecken durchaus das Interesse, weil es um Glauben und Gewalt, um Erlösung und Selbstzerstörung geht. Um all das, was die Menschheit so bewegt. Aber einen Reim darauf kann man sich lange Zeit nicht machen, man wird auch nicht gefragt oder zu Antworten animiert.

Es geht also einzig und allein um das Begreifen und Verstehen  Und dazu gehen die Stimme und die Kulisse als Elemente des Storytellings eine Symbiose ein, indem sie parallel erzählen. Während man zuhört erkennt man beim Spazieren, wie die Kulisse mit ihren Symbolen und Stimmungen mitplaudert – man sieht Waffen oder Blut, einen Toten oder Statuen, ein Schloss oder einen Strand.

Kein klassisches Spielerlebnis

Die Idee ist theoretisch gut, aber praktisch werde ich viel zu selten von der dieser doppelten Erzählführung so gepackt,

Spazieren, zuhören, zusehen - und lesen. Es gibt keine klassischen Interaktionen wie Rätsel, Kampf & Co.
dass ich wirklich abtauchen kann. Vielleicht liegt es daran, dass die Inszenierung letztlich zu bieder und statisch, zu wenig verstörend und damit wirklich surreal ist. Obwohl es Ansätze dafür gibt, vermisse ich wirklich verstörende Effekte oder dramatische Zuspitzungen. Und genau deshalb wirkt sich die eigene Passivität hier negativ aus.

Spielerische Elemente gibt es nicht, also weder Rätsel noch Akrobatik oder Kampf. Zwar kann man theoretisch auch springen, zoomen und Dinge benutzen. Aber das wird nur sehr rudimentär eingesetzt: Entweder um sich in Abgründe zu stürzen, damit es endlich weiter geht, oder tatsächlich mal eine der grün leuchtenden Kisten zu öffnen - darin finden sich dann Solomons Notizen. Und die sind ein überflüssiger Fremdkörper.

Gerade dieses einzige interaktive Element zwingt nämlich erneut in die Passivität, indem man seitenlange Lektüre vorgesetzt bekommt. So kann man sich zwar noch tiefer in die Gedankenwelt hineinlesen, aber so verliert mich die Spielwelt auch noch mehr als Teilhaber. Zumal dieser einzige Sammelaspekt eine unnötige dritte Erzählebene neben der Kulisse und der Stimme aufbaut. Die gesellschaftlichen Konturen einer utopischen Zukunft, in der Theisten, Agnostiker und Atheisten eine Rolle spielen, hätte ich auch so deuten können. Auch die Minotauren werden ohne den wirklich überflüssigen Lesewust verständlich. So sind zwar all die Zeichen von Augen und Labyrinthen sowie die Überbleibsel von Krieg und Tod irgendwann komplett deutbar, aber nach zwei Stunden fühle ich mich sehr ernüchtert. Dieses Storytelling hatte gute Ansätze, mich auch emotional in die Spielwelt zu ziehen, aber ich bleibe ein überinformierter Zuschauer, der durch einen surrealen Park spaziert. Schade, da war so viel mehr drin.

Fazit

Wenn man The Old City als philosophischen Spaziergang betrachtet, dann weckt dieser durchaus Interesse, weil es um existenzielle Fragen vom Glauben bis zur Gewalt, von der Erlösung bis hin zur Selbstzerstörung sowie eine utopische Gesellschaft geht. Und dafür gehen die Stimme und die Kulisse als Elemente des Storytellings eine Symbiose ein, indem sie parallel erzählen. Theoretisch eine gute Idee, aber in der Praxis sehr ermüdend. Dear Esther wirkte auf mich so magisch wie eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury. The Old City wirkt dagegen so verkopft wie ein Hörspiel, das von Peter Sloterdijk in einem Anflug surrealer Umnachtung eingesprochen wurde. Ich weiß zu schnell, dass es hier nur um irgendein Begreifen gehen soll, zumal man den einzigen interaktiven Aspekt dafür einsetzt, mit seitenlanger Lektüre eine überflüssige dritte Erzählebene aufzubauen. So bleibe ich bei der Erkundung der teils surrealen  Schauplätze an der Oberfläche, denn es entsteht beim ewigen Monologisieren kaum eine emotionale Anbindung. Es ist schade, dass man nicht tiefer in die weltanschaulichen und religiösen Betrachtungen hineingezogen wird, indem man auch mal selbst aktiv mitdenken oder mitentscheiden darf. Oder indem man die Kulisse und Effekte (!) markanter einsetzt. So irrt man passiv umher, stürzt sich in Abgründe und lauscht einer Stimme, bis es langweilig wird. Am Ende fühlt man sich wie nach einem verkopften Hörspiel. Selbst wenn mich dieses Storytelling nach knapp zwei Stunden ernüchtert hat: Es ist wichtig, dass weiter mit dem Medium experimentiert wird.

Pro

interessante philosophische Überlegungen
Stimme und Kulisse als parallele Erzähler
einige surreale Schauplätze & Situationen
guter englischer Sprecher; Untertitel aktivierbar

Kontra

man treibt nur an der Oberfläche
ständige Monologe nerven irgendwann
nur sehr langsames Spazieren
zu wenig surreale Effekte & Überraschungen
nur englische Sprachausgabe
im Texturdetail schwache Kulisse
nach zwei, drei Stunden ist abrupt Schluss
keine Rätsel, keine Aktionen, keine Entscheidungen
überflüssiges Kistensammeln

Wertung

PC

The Old City ist so verkopft wie ein Hörspiel, das von Peter Sloterdijk in einem Anflug surrealer Umnachtung eingesprochen wurde. Man spaziert bei ständigen Monologen an der philosophischen Oberfläche.

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