Sunless Sea13.02.2015, Benjamin Schmädig

Im Test: Im Reich des Wahnsinns

Am 31. Dezember haben wir begonnen die Toten zu essen. Es waren die Ersten, die am Hunger gestorben sind. Und das Letzte, das uns am Leben hielt. Für wie lange? Wir hatten keinen Treibstoff mehr. London war weit entfernt. Die Männer waren nicht mehr sie selbst. Die "Unterzee" hatte sie verrückt gemacht.

Vor 30 Jahren wurde London gestohlen. Es liegt jetzt am Ufer der Unterzee, diesem alten dunklen Ozean im Inneren der Erde. Die Hölle ist nicht weit, Unsterblichkeit zum Greifen nah und Schreie sind kaum noch zu hören. Dampfschiffe pendeln über das schwarze Meer zwischen der Eisernen Republik und dem Älteren Kontinent, zwischen dem Turm der Jäger, der Kalkstein-Spindel und der Dämmerungsmaschine.

Mehr als das Fehlen von Licht

Sunless Sea ist ein Spiel im Stil von FTL, Don't Starve und Elite. Man benötigt Ressourcen, um im Kampf gegen Hunger, Wahnsinn und Gegner am Leben zu bleiben. Verliert man es, beginnt das Abenteuer von vorn.

Vor allem aber ist Sunless Sea eine Erzählung. Aufgeschrieben in zahllosen Beschreibungen, Notizen und Logbucheinträgen. Die Geschichte einer fantastischen Welt, eines viktorianischen Londons tief unter der Erdoberfläche. Umgeben von einem Ozean, riesigen Stalaktiten und fremdartigen Inseln.

"Falsch-Sterne" schimmern an der hohen Decke, Steine fallen in die Tiefe, Tropfen platschen  auf den Meeresboden wie in einer großen Höhle. "Die Finsternis ist mehr als das Fehlen von Licht", stellt ein Vermerk im

Die Unterzee ist ein Ort unheimlicher Magie.
Tagebuch bedeutungsvoll fest.

Im ständigen Dunkel verbirgt sich die Seele einer Lovecraft-Erzählung. Viele Texte könnten aus der Feder des Gruselmeisters stammen. Gutes Englisch ist Voraussetzung, um sie zu verstehen.

Die Macht der Götter

Warum ich in die Dunkelheit des unterirdischen Ozeans vorstoße, entscheide ich selbst. Will ich die Überreste meines Vaters finden? Geht es um Reichtum? Oder will ich alle Geschichten dieser Welt niederschreiben. Entweder lege ich mich gleich zu Beginn oder einige Zeit später fest, ebenso wie ich meine Herkunft, meinen Namen und mein Aussehen bestimme.

Das Ziel ist ohnehin nur eine Orientierung; der Weg ist das Ziel. Es sind Ereignisse und Begegnungen, die die Reise zu einem Erlebnis machen. Es sind die Männer aus Ton, die meine Mannschaft angreifen, während ich sie für einen guten Preis nach London transportiere. Es sind die Ratten und Meerschweinchen, die sich auf der Schweinstaub-Insel im Krieg befinden: Soll ich mit Aussicht auf eine Belohnung Partei ergreifen oder bleibe ich neutral?

Es ist auch eine halb verfallene Zitadelle in einem fernen Winkel der Unterzee. Ein Gebet hatte mich dorthin geführt, als Nahrung und Treibstoff zu Ende gingen – die Götter helfen denen, die ihnen einen Dienst erwiesen. Was hätte ich sonst tun sollen? London war weit entfernt, Geld für Nachschub nicht vorhanden. Doch hier, am anderen Ende dieser Welt, ließ mir die Zitadelle eine Wahl: Soll ich ein Opfer ausführen? Aus Verzweiflung dem Wahnsinn verfallen? Oder meine gesamte Mannschaft essen und mich so vielleicht retten?

Angst vor Dunkelheit, Angst vor Licht

Überleben hat höchste Priorität. Eine Aufgabe, die oft aussichtslos scheint, während ich in meinem kleinen, später etwas größeren, viel teurerem Schiff über die See fahre. Nicht nur die gefährliche Reise, die Dunkelheit alleine macht der Mannschaft Angst. Und Angst macht unruhig. Ich habe erlebt, wie verängstigte Seemänner zu den Waffen griffen, um ihren Kapitän seines Amts und Kopfes zu entledigen. Ich selbst traue mich nicht einen unheilschwangeren Turm zu betreten, so lange der "Terror" einen bestimmten Wert überschreitet.

Ich schalte deshalb das Licht an Bord ein, mache damit aber angriffslustige Kreaturen und Seeräuber auf uns aufmerksam. Wenn sie angreifen, flüchten wir. Brauchen wir allerdings dringend Proviant oder das Fleisch einer riesigen Krabbe, drehen wir das Schiff, so dass sich der Gegner im Schussfeld befindet. Auf mein Signal feuern die Geschütze. Bin ich zu schnell, sinkt unsere Chance auf einen Treffer. Lasse ich den Kanonieren zu viel Zeit, trifft der Feind unser angeschlagenes Schiff vielleicht einmal zu viel.

Seit ich mir eine stärkere Maschine leisten konnte, fahren wir mit voller Beleuchtung etwas sorgloser an manchem Gegner vorbei. Weil eine Flucht dann ständig möglich ist. Es gibt auch Werkzeuge, mit denen ich Schäden unterwegs reparieren kann. Gegen ein Heidengeld natürlich. Und selbstverständlich sollten stets genug Treibstoff und Proviant an Bord sein.

Kleine Geschichten führen wie ein Buch durch die Erzählung.
Billig ist nicht einmal das.

Erzählerisches Material

Die Inseln, in ihrer fremdartigen Erscheinung oft geheimnisvoller als der Ozean selbst, sind wie Ruhepunkte. Landgang senkt die Furcht und auf manchen Eiländern bieten Märkte das zum Überleben Notwendige an.

Das Wichtigste sind aber Geschichten, die ich dort erlebe: Mancher Ausflug endet lediglich in einem erholsamen Gelage, andere führen mich jedoch zu wertvollen Artefakten. Und oft sind es die Geschichten selbst, die verschiedene Tore erst öffnen.

Geschichten dienen als Ressource: Kann ich die richtige vorweisen, darf ich eine weitere erleben, erhalte dafür Geld, treffe vielleicht die große Liebe, darf zu den Göttern beten oder gelange in die Welt über der Unterzee. Wo ich die richtigen Geschichten finde – darum geht es in Sunless Sea.

Sie kann schneller, er mit Ausdauer

Ungewissheit spielt dabei eine große Rolle: Viele Ereignisse werden durch Würfelglück entschieden. Immerhin besitze ich Charaktereigenschaften, die meine Überredungskünste oder meine Stärke definieren. Diese Fähigkeiten kann ich durch gesammelte Erlebnisse - eine Form Erfahrungspunkte - steigern. Den größeren Einfluss haben allerdings die hinzu gerechneten Werte der Besatzung. Soll ich eine Maschinistin anheuern, die das Schiff schneller fahren lässt, oder ihren Kollegen, der die Motorleistung und gleichzeitig mein Geschick beim unbeobachteten Umfahren feindlicher Schiffe erhöht?

Häufig muss ich außerdem Entscheidungen treffen, anstatt Würfel zu werfen. Soll ich einen wertvollen Diamanten ins Meer weren, um die Gemüter meiner abergläubischen Besatzung zu beruhigen? Soll ich für immer auf die Gunst der Götter verzichten, um eine verlockende Belohnung zu erhalten?

Das Abenteuer ist so umfangreich: Viele Konsequenzen sind kaum vorhersehbar. Manche Ereignisse mildern den Terror, andere erhöhen ihn. In einigen Begegnungen erhalte ich Proviant, in anderen verliere ich Ressourcen. Manchmal ist das Ergebnis einfach ungewiss, oft nehme ich den Preis aber ganz bewusst in Kauf.

Schade, dass im Logbuch nicht alle offenen Geschichten sowie Verdienstquellen verzeichnet sind. Schade, dass ich solche Eintragungen nicht auf der Karte vornehmen darf.

Oh, London!

Und immer wieder kehre ich nach London zurück. Nur dort finde ich fast alle Waren zu erschwinglichen Preisen. Nur dort werde ich für Artefakte und Informationen ausreichend entlohnt. Nur dort lasse ich das Schiff günstig reparieren und senke spürbar den Terror.

Bleibe ich zu lange weg, habe ich vielleicht nicht genug Treibstofff für den Rückweg. Verharre ich in der Nähe des heimatlichen Hafens auf, erhalte ich hingegen nicht genug Geschichten und Belohnungen. Die Gratwanderung zwischen Wagemut und Übermut – auch das ist Sunless Sea.

Die Vorlage

Sunless Sea spielt in der Welt des Browserspiels Fallen London . Mit einer Kickstarter-Kampagne finanzierte Entwickler Failbetter Games die Entstehung des Ablegers.

Wenn aus Buchstaben Zahlen werden

Das Scheitern gehört dazu. Wie in FTL schwebt es als ständige Bedrohung in der Luft. Wenn ich sterbe, beginnt auch hier alles von vorn. Manches Geld, Mannschaftsmitglied und anderen Besitz übernehme ich zwar ins nächste Leben, doch das Erkunden der Zee ist immer beschwerlich. In ihrem Dunkel lauern mächtige Kreaturen, Terror kann meine Mannschaft in den Wahnsinn treiben und mehr als einmal habe ich London erst erreicht, als das Dampfschiff schon mit Resten des Proviants beheizt wurde.

Allerdings: So spannend der lauernde Tod auch ist, so sehr verwässert er ausgerechnet die Erzählung. Die Geschichten ändern sich ja nicht. Es sind stets dieselben auf denselben Inseln. Um zu überleben, werden alle bekannten Ereignisse nach zwei, drei Neustarts deshalb zu Rechenaufgaben. "Durch welche Aktion erhalte ich welche Rohstoffe?" wird dann wichtiger als die hervorragende Literatur.

Doch wenn das Logbuch wieder von den eigenartigen Gerüchen, dem lauen Wind oder unerwarteten Rauschen in einem neu entdeckten Territorium spricht – dann zieht mich Sunless Sea in seinen Bann, als wäre es der unveröffentlichte Roman eines H.P. Lovecraft.

Fazit

Wie in ein gutes Buch habe ich mich eingelesen: Sunless Sea weckt meine Neugier, ist von Beginn an spannend, prachtvoll gestaltet und eindringlich vertont. Mit jeder Stunde lerne ich neue Inseln, verschrobene Figuren, große Gefahren kennen. Während ich auf dem dunklen Ozean im Inneren der Erde viele packende, manchmal amüsante Geschichten erlebe, lerne ich eine fantastische Welt kennen. Und weil der Tod auf der Unterzee ein stetiger Begleiter ist, spüre ich die unheilvolle Beklommenheit auch spielerisch. Ich muss das finstere Meer erforschen, um zu überleben – ich brauche, was ich im Unbekannten finde. Spielerische Notwendigkeiten und zahllose Geschichten sind dabei so eng und auf so verschiedene Weise verknüpft, dass Spiel und Buch nahtlos verschmelzen. In den Wiederholungen nach jedem Neubeginn verliert Sunless Sea zwar erzählerische Kraft. So lange hinter den bekannten Wassern noch unentdeckte Geschichten warten, lässt mich dieses edle Abenteuer aber nicht mehr los!

Pro

hervorragend geschriebene Geschichten in einem "Lovecraft-Szenario"
Besitztümer je nach Fortschritt im nächsten Versuch übernehmen
forderndes Ressourcen-Management
zahlreiche Entscheidungen und miteinander verknüpfte Ereignisse
umfangreiche Charakterentwicklung und Ausrüsten des Schiffs
bedrückende und fantastische Kulisse unter Tage
optionaler leichter Schwierigkeitsgrad

Kontra

Neustarts verwässern die Erzählung
fehlende Notizen/keine eigenen Einträge auf Karte
komplett Englisch

Wertung

PC

Das Erforschen eines unheimlichen Ozeans im Inneren der Erde ist erzählerisch einzigartig und spielerisch packend.

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