Auferstanden aus Leichen
Als Dr. Jonathan Reid aufwacht, sieht er nur Fratzen des Todes. Zwischen stinkenden Leichen erhebt er sich und versteht die Welt nicht mehr: Was ist mit ihm geschehen? Wie kam er hierher? Der ehemalige Feldchirurg der britischen Armee wankt kraftlos an den Ufern der Themse umher, bevor er die Rufe seiner Schwester Mary hört. Er erkennt sie allerdings kaum, sieht nur einen schwarzen Schatten mit pochendem Herzen. Sie hat ihn verzweifelt gesucht, er fällt in ihre Arme und verspürt plötzlich einen übernatürlichen Hunger. Er drückt sie an sich, beißt zu und saugt sich satt. Kaum hat er begriffen, was er da getan hat, sackt Mary leblos zu Boden. Wachen schreien, er will alles erklären, aber schon fallen Schüsse und die Flucht durch die düsteren Docks beginnt...
Dr. Jonathan Reid weiß nicht, wer ihn zum Vampir gemacht hat.
...was wie ein surrealer Alptraum beginnt, dazu von wunderbaren Mollakkorden und Streichern musikalisch begleitet wird, fühlt sich nach ein paar Minuten brüchig und überhastet an. Dass die Unreal Engine die nächtliche Londoner Kulisse des Jahres 1918 hinsichtlich der Bildrate sowie einiger Pop-ups auf der PlayStation 4 Pro und Xbox One X nicht so sauber darstellt wie auf dem PC, ist nur eine Facette. Aber viel zu schnell schlitzt sich dieser am Boden zerstörte, noch vor Schwäche humpelnde Jonathan aggressiv durch erste Feinde - wohlgemerkt menschliche Wachen, keine Monster. Warum diese Eile? Selbst
God of War hat sich mehr Zeit gelassen! Hier spielt man immerhin einen reflektierenden Gentleman, der zwar zum Vampir wurde, aber dem die verzweifelte Flucht in diesem Einstieg besser gestanden hätte als das kontrollierte Fixieren, Ausweichen und Töten mit einer zufällig gefundenen "abgenutzten Machete" der Stufe 1. Man findet auch noch eine zweihändige Stachelkeule, auf die Bram Stoker für seinen Dracula verzichtet hat...
Doktor ex machina
Das London des Jahres 1918 beschränkt sich auf vier Stadtviertel. Neben Quests gibt es auch Ereignisse (Ausrufezeichen), denen man nachgehen kann.
Spätestens hier scheint klar, dass es sich um ein Action-Rollenspiel mit der Betonung auf dem ersten Wort handeln wird. Aber die Autoren waren sich dieses Widerspruchs bewusst. Und es ist lobenswert oder einfach nur Verzweiflung, dass die Regie über die flehentlichen Kommentare des Helden versucht, diesen frühen Bruch des hippokratischen Eides abzufedern - Jonathan will den Wachen nichts Böses, will nicht töten, entschuldigt sich sogar! Das nimmt man ihm auf erzählerischer Ebene auch deshalb ab, weil er wunderbar charismatisch vom englischen Schauspieler Anthony Howell gesprochen wird, der schon zahlreiche Shakespeare-Rollen wie Henry VIII. verkörperte. Mitunter erinnert seine volle Stimme an jene unheilvoll prophetische von Wayne June in
Darkest Dungeon; auf Deutsch gibt es übrigens lediglich Untertitel sowie Texte.
Zwar ist das Leveldesign offener als noch in Remember Me, aber während der Erkundung fühlt man sich viel zu oft künstlich eingeschränkt.
Trotzdem tötet Jonathan einen nach dem anderen, trotzdem wird aus dem dramatischen Trauma zu früh eine lineare Schiene für Kampftutorial & Co. Er wird direkt in einen ersten Unterschlupf geführt, will sich dort das Leben nehmen. Aber schließlich taucht wie aus dem Nichts ein seltsam sympathischer Dr. Swansea auf, der ihn als Untoten und Chirurg erkennt, um ihm genau deshalb seine Hilfe sowie einen Job in seinem Krankenhaus anzubieten. Dort darf er als lichtempfindlicher Vampir in Dauernachtschicht arbeiten. Dass Jonathan vor dem Krieg ein bekannter Spezialist für Bluttransfusionen war, rundet diese in Ansätzen überaus stimmungsvolle, musikalisch und stimmlich ausgezeichnete, hinsichtlich der Charakterzeichnung allerdings widersprüchliche und letztlich arg konstruiert wirkende Ausgangslage ab. Aber es folgen ja noch 30 bis 35 Stunden. Und Dontnod kann sich steigern.