That Dragon, Cancer19.01.2016, Benjamin Schmädig

Im Test: Gegen die Tränen

Ein "Spiel", das gar keins ist: Ryan Green erzählt in That Dragon, Cancer vom Tod seines Sohnes Joel. Von Erinnerungen an die Zeit Zuhause, auf dem Spielplatz und im Krankenhaus. Von seiner Liebe, seinen Gedanken, seiner Verzweiflung. Der Test zu That Dragon, Cancer hat mich aufgewühlt wie kaum ein anderer – allerdings nicht so, wie ich es erwartet hatte.

Vom Herzen ins Spiel

Ryan Green hat vermutlich jetzt schon das persönlichste Spiel des Jahres geschaffen, denn der Einblick in seine Gefühlswelt sowie in Episoden aus dem Leben seines fünfjährig verstorbenen Sohnes ist wie ein Seelenspiegel: unverfälscht, weil Joel erst seit zwei Jahren tot ist, und ungefiltert, weil er tatsächlich erlebte Szenen selbst nachspricht.

Man hört ihn und seine Frau Amy sprechen, während sie die Prognose erhalten, dass ihr Sohn kein halbes Jahr mehr leben wird. Man hört den Ton eines Familienvideos, mit dem sie Joel während eines Besuchs auf dem Spielplatz aufgenommen haben. Man hört, wie sie eine Diskussion nachspielen, in der sich Amy an ihre Hoffnung klammert, während Ryan den Fakten ins Auge sehen will, obwohl er in einem Ozean zu ertrinken droht. That Dragon, Cancer ist kein Gleichnis auf die Erkrankung seines Sohnes. Es ist die autobiografische Nacherzählung aus der Sicht des trauernden Vaters. Metaphern wie die des Ozeans dienen lediglich der Visualisierung seiner Gefühlswelt.

Ein persönliches Spiel – für nur eine Person

Das Spiel ist ein emotionaler Kraftakt und eine bemerkenswerte Entwickler-Leistung! Immerhin öffnet Green sein Innerstes vor einem weltweiten Publikum.

Leider lässt er die Spieler aber nicht daran teilhaben.Es gelingt ihm einfach nicht, mich als jemanden anzusprechen, der seinen Schmerz und seine Freude aktiv nachempfinden soll. Warum? Weil sein Spiel meine Perspektive völlig

Joels Vater Ryan Green blickt auf schöne und schwere Momente mit seinem Sohn zurück.
ignoriert und mir stattdessen die vom Entwickler gewählte aufzwingt. Natürlich ist Greens Schmerz intellektuell und darüber auch emotional nachvollziehbar – als erfahrbar empfand ich ihn allerdings nicht.

Alle und keiner und irgendwer

Das liegt u.a. an den vielen Perspektivwechseln, wenn die Kamera mehrmals während einer Szene etwa von Amy zu Ryan, dann zu Joel oder einem Arzt fährt, bevor man alle Charaktere aus der Perspektive einer gar nicht in der erzählten Welt vorhandenen Person ansieht. Die ständigen Wechsel sind ausgesprochen irritierend: Sie reißen mich aus dem Geschehen, weil ich keinen Anhaltspunkt zur Identifikation erhalte. Ich empfand sie als richtiggehend zermürbend, weil mir Green die Kontrolle entzieht, anstatt mich seine Geschichte entdecken zu lassen.

Selbst im minimalistischen Dear Esther konnte ich die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen dem virtuellen Schauplatz und dem vorgetragenen Monolog eigenständig erforschen – hier darf ich mich nicht einmal frei bewegen, sondern klicke im Myst-Stil mühsam von einem Blickpunkt zum nächsten. Immersion und damit die Grundlage des Erlebens entsteht nie.

Ganz generell beschränkt sich die Interaktion auf das sture Finden des nächsten möglichen Klicks. In einer Schlüsselszene kann Ryan seinen leidenden Sohn etwa gar nicht mehr beruhigen. Er gibt ihm etwas zu trinken, doch Joel übergibt sich nur. Green will in dieser Szene seine Hilflosigkeit verdeutlichen , indem er jede Aktion des Spielers

An mehreren Stellen konnten Unterstützer des Spiels eigene Bilder oder Widmungen einbringen.
fehlschlagen lässt. Er will herkömmliche Mechanismen unterwandern – eine hervorragende Idee! Tatsächlich verwendet er aber nicht einen echten Spielmechanismus, sondern lediglich aufeinander folgende, zwingend notwendige Klicks. Also führt man diese aus und wartet darauf, dass Green zeigt, was er zeigen will.

Unruhe statt Verständnis

Seinem Werk fehlt zudem ein dramaturgisches Konzept, denn alle Szenen sind zwar Versatzstücke einer tragischen Geschichte, wirken aber wie Bruchstücke. Weder die Krankengeschichte seines Sohns noch seine eigene emotionale Entwicklung oder die seiner Frau werden wirklich greifbar. That Dragon, Cancer zeichnet Umrisse eines schweren Schicksals, ohne seine Protagonisten zu beleuchten.

Green setzt keine Schwerpunkte – ein Eindruck, den die häufigen Perspektivwechsel nur unterstreichen. Seine Episoden bauen erzählerisch so lose aufeinander auf, als hätte der Autor hintereinander gestellt, was ihm der Reihe nach in den Sinn kam. Diese gefühlte Willkür verstärkte die Unruhe, die ich beim Spielen empfand, auch wenn das Spiel nach knapp zwei Stunden bereits vorüber war. In der Beschreibung ihrer Kickstarter-Kampagne schreiben Amy und Ryan Green: "Wir haben That Dragon, Cancer erschaffen, um die Geschichte unseres Sohns Joel und die seines vier Jahre dauernden Kampfes gegen den Krebs zu erzählen". Aber genau das tun sie nicht. Stattdessen zitieren sie Fragmente ihrer Erinnerungen, ohne eine Verbindung zwischen ihnen und den Spielern herzustellen.

Fazit

Wer ein ähnlich schreckliches Schicksal wie Ryan Green erlebt hat, kann seine Gefühlswelt vermutlich nachempfinden. Doch eine Reihe Fragen, Erinnerungen und tragischer Augenblicke machen eben kein gutes Spiel. Und sie machen auch keine gute Erzählung, wenn ihnen der Zusammenhalt in Form einer Charakterentwicklung oder konsequenten Fortführung angerissener Gedanken fehlt. Vermutlich ist eine Ansammlung vereinzelter Episoden das, was Ryan Green derzeit verarbeiten muss und ich bewundere seinen Mut, es auf diese Weise zu tun. Seine Spieler holt er für diesen Prozess allerdings nicht ins Boot. So sehr ist er mit dem Aufzählen unterschiedlicher Momente und Blickwinkel beschäftigt, dass er sie wie gedankenverloren nacheinander vorliest, anstatt seine Spieler aktiv einzubeziehen. Man darf sich nicht frei bewegen, erledigt an wenigen Stellen lediglich profanes Knopfdrücken. Im Grunde überlässt Green dem eigentlich Handelnden lediglich den Zeitpunkt des nächsten Klicks, bevor er einfach weiter liest. Bei aller Liebe für die Intention des Projekts empfand ich die Erzählweise als enervierend, mitunter sogar aufreibend. Dem Anspruch des interaktiven Geschichtenerzählens wird That Dragon, Cancer jedenfalls kaum gerecht.

(Passend dazu die Kolumne: Der Spieler am tragischen Abgrund; Anm. d. Red.)

Pro

authentische Erzählweise

Kontra

bruchstückhafte Erinnerungen statt fortschreitende Erzählung
ermüdendes Anklicken von Fixpunkten statt aktiver Steuerung
häufige Perspektivwechsel verhindern vereinnahmendes Erleben

Wertung

PC

Ambitioniertes und bewunderswertes Projekt - das aufgrund spielerischer und erzählerischer Mängel seine emotionale Wirkung verfehlt.

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