All Walls Must Fall27.02.2018, Jörg Luibl
All Walls Must Fall

Im Test: Die Mauer muss weg!

All Walls Must Fall wurde zunächst erfolgreich über Kickstarter finanziert und dann im Early Access präsentiert. Das kleine Studio inbetweengames besteht aus ehemaligen Entwicklern von Yager, die auf den ersten Blick ein Spiel à la Syndicate oder XCOM inszenieren. Für unter zehn Euro könnt ihr euer Ticket ins Jahr 2089 buchen, um in pausierbarer Action den Atomkrieg zu verhindern. Wie schlägt sich der Trip ins futuristische Berlin? Wir haben zwischen Turbo-Trabbis und Holo-Drag-Queens nach Antworten gesucht.

Kalter Krieg wird heiß

Wenn ein Spiel mit einem Honecker-Zitat beginnt, wird man nicht gerade euphorisch. Die hohe Singsang-Stimme des Generalsekretärs der SED war ebenso berüchtigt wie seine emotionslos vorgetragenen kommunistischen Endlosschleifen, die selbst härteste BBC-Journalisten ins Koma versetzen konnten. Aber keine Bange: All Walls Must Fall ist nicht nur unterhaltsamer, sondern spielt sich trotz seiner Defizite angenehm frisch. Es wird euch über knapp fünf Stunden auf einen ebenso explosiven wie bizarren Trip schicken, der taktische Action mit cooler Zeitmanipulation bietet.

Und zumindest in dieser Zukunft scheint sich ein Honecker-Spruch bewahrheitet zu haben, denn die Mauer steht noch im Jahr

Die Berliner Nachtclubs sind rappelvoll.
2089. Schon im Intro eskaliert die Lage: In Ost-Berlin gibt es einen nuklearen Anschlag, der einen weltweiten Atomkrieg auslösen könnte. Deshalb wird ein Agent namens "Kai" von der Geheimorganisation STASIS zum Zeitreisenden, der mehr über die Verantwortlichen herausfinden soll - der Klassenfeind im Westen war es angeblich nicht. Aber wer dann? Nordkorea? Die Mafia? Aliens?

Als er zehn Stunden in der Zeit zurückgebeamt wird, muss er diverse Nachtclubs der zombiesk tanzenden Schwulenszene in Ost-Berlin infiltrieren, um Antworten zu finden -  allerdings nur auf Englisch, denn auf deutsche Texte haben die Berliner Entwickler kurioser Weise verzichtet. Meist soll er Gegenstände oder Personen suchen oder töten. Sein Vorteil: Er kann die Zeit auf diverse Art zurückspulen. Entweder in kleinen Schritten oder so, dass entweder er oder alle Gegner an Ort und Stelle verharren, während sich alles andere wieder dem Zustand der Vergangenheit anpasst. Und damit kann man sehr schön experimentieren.

Überzeugen oder töten?

Die von der Unreal Engine 4 inszenierte Kulisse sieht ansehnlich aus, wobei nicht die polygone Power, sondern das Artdesign bestimmend ist: Das erinnert aufgrund seiner isometrischen Darstellung an Klassiker der Bitmap Brothers, so dass

Die coolen taktischen Gefechte mit Zeitmanipulation sind das Highlight.
man sich ein wenig in die Ära des Amiga zurückversetzt fühlt. Allerdings zieht die Regie hier ganz andere Licht- und Musikregister: Mehrheitlich düstere Farben und blockartige Architektur wird nur sporadisch von Neon und Glimmer aufgelockert, während treibende Elektrobeats dominieren, die teilweise im Takt der Action wummern. Obwohl es nur wenige Animationensphasen und teilweise robotische Bewegungen gibt, entsteht ein stylisches Flair.

Weil Kai als glatzköpfige Cyborg-Kante recht auffällig mit seiner martialischen Arm-Prothese unterwegs ist, winken ihn die misstrauischen Türsteher nicht sofort rein. Ganz im Stile von Deus Ex kann man ihn übrigens nicht nur mit weiteren Waffen und Fähigkeiten, sondern auch mit Augmentationen verstärken, darunter z.B. ein spektakulärer Schlag durch Mauern, der mal eben eine Abkürzung schafft. Meist hat man die Wahl, ob man es kämpferisch oder rhetorisch versucht - und man kann überraschend viele Situationen friedlich lösen, sogar ohne Konflikt einen Club nach Hinweisen durchsuchen. Startet man einen Dialog, öffnet sich ein Minispiel mit drei emotionalen Zuständen: Balken zeigen an, wie wütend, abgestoßen oder kritisch der Gesprächspartner ist. Man muss ihn durch eine clevere Wahl von Sprüchen entweder maximal ängstigen, anmachen oder überzeugen.

Einschüchtern gescheitert? Dialog zurückspulen!

Das klingt zwar ein wenig nach Rhetorik à la BioWare, entfaltet schwarzhumorigen Charme (man kann sich z.B. als gnadenloser Stasi-Agent aufführen und mit langsamen Anschuldigungen beginnen, um dann mit Folter & Co zu drohen), aber ist in seiner Konsequenz selten nachvollziehbar oder gar logisch, zumal man in der Auswahl manchmal Namen oder Anspielungen findet, die man beim ersten Durchspielen noch gar nicht einordnen kann. Außerdem wiederholen sich viele Antworten und die Angesprochenen zeigen mit ihren statischen Portraits natürlich weder eine sichtbare Mimik wie etwa in L.A. Noire noch findet man im Vorfeld Hinweise auf ihren Charakter. Letztlich laufen diese Dialog-Minispiele also auf Trial & Error hinaus.

In den Dialog-Minispielen muss man sein Gegenüber überzeugen.
Das ist allerdings Teil des Prinzips und nicht so frustrierend wie es klingt, denn ihr könnt ja die Zeit manipulieren: Damit lassen sich nicht nur einzelne Antworten, sondern ganze Gespräche und Situationen zurückspulen - wobei euer Zustand sowie eure Erkenntnisse über Karte und Ziele vorhanden bleiben können. Aber je weiter und umfassender ihr diese coole Fähigkeit nutzt, desto mehr kostet sie. Ihr startet mit einem kleinen Budget an Zeiteinheiten (TR), das ihr z.B. über die Erkundung unentdeckter Räume während der Mission auffüllen könnt. Ihr könnt es auch zum leisen (aber ohne Minispiel leider immer automatisch erfolgreichen) Hacken von Türen, Waffenscannern oder Computern einsetzen, damit ihr mit der Wumme keinen Alarm aulöst oder euch Drohnen nicht attackieren. Aber Vorsicht: Wer gut haushaltet und TR spart, kann diese im Shop zwischen den Missionen für Ausrüstung und Fähigkeiten ausgeben.

Taktische Action und coole Wiederholungen

Apropos Anmache - und Unlogik: Im Ost-Berlin der Zukunft scheint es nur Männer zu geben, die nicht nur im kollektiven Pulk nackt auf der Tanzfläche schwofen, sondern selbst als bewaffnete Türsteher oder gar Aufseher so geil sind, dass man sie mit

Sowohl in Dialogen als auch Gefechten kann man die Zeit zurückspulen, wenn man genug Zeitwährung (TR) dafür hat.
ein paar anzüglichen Sprüchen aus Sicherheitsbereichen wegflirtet; selbst als halber Mech. Steigert man in den Fähigkeiten die Pheromonausschüttung, kann man das Flirten nochmal effizienter gestalten, was es viel zu einfach macht. Selbst wenn man seinen Weg durch einen Club mit Leichen pflastert, steht irgendwo ein Blödmann, der sich noch überzeugen lässt. Zwar reagieren die Wachen auf Geräusche und Sicht, holen auch Verstärkung, aber  innerhalb eines dieser kleinen Clubs wird kein universeller Alarmzustand ausgelöst. Da drückt man einige Augen zu, damit man sich langsam vorkämpfen kann.

Aber dafür gehört die Rundentaktik zu den großen  Stärken. Ihr habt kein Bock auf die blöde Anmache? Kein Problem: Wenn man seine Waffe zieht, wechselt das Spiel in pausierbare Echtzeit. Und sobald man Projektile fliegen lässt, entfaltet das Spiel seine Potenziale, denn man fühlt sich wie bei einem XCOM auf Speed. Das macht richtig Laune, denn man muss gut auf seine Gesundheit achten und möglichst wenig Treffer einstecken, während man auch Teile der Umgebung in Kleinholz schießen kann. Man kann hinter halber oder voller Deckung Stellung beziehen, um seine Feinde mit diversen Waffen ins Visier zu nehmen. Sehr schön ist, dass man seine Position über kleine Sprints wechseln und auch mal geduckt abwarten oder nachladen muss, bis die Kugeln an einem vorbei gerauscht sind; erst dann sollte man zurückschießen. Es ist nicht die taktische Tiefe, die so unterhält, aber es entsteht ein angenehmer freier Flow aus Kopf runter und Feuer frei, bei dem es je nach Marschroute anders ausgehen kann. Zwar sind die normalen Wachen mit zwei, drei Schüssen erledigt, aber schon bald kommen geisterhafte "Spectre" hinzu, die für kurze Zeit unsichtbar werden. Und falls es mal nicht klappt? Die Zeit zurückspulen! Das Beste ist die Zusammenfassung nach einem Kampf, die alle Aktionen in einem Minifilm zeigt - so kann man sich an seinen erfolgreichen Schussduelle nochmal aus anderer Perspektive ergötzen.

Wer TR spart, kann diese zu Geld umwandeln und im Shop für weitere Ausrüstung und Fähigkeiten ausgeben.
Allerdings hält der Reiz nicht all zu lange an, denn viele Kulissen, Motive und vor allem Figuren wiederholen sich - zumal man auch nie nach West-Berlin kommt. Das Missionsdesign ist recht einseitig, aber die Clubs werden jedesmal prozedural aufgebaut, so dass der Wiederspielwert steigt. Zwar kann man die Kamera frei bewegen und zoomen, aber gerade das Drehen ist nervig: Erstens funktioniert es nur über Q und E, nicht über die Maus; zweitens erfolgt es nur in ruckartigen Schwenks., die nicht immer zu einem optimalen Ergebnis führen. Das bringt unnötig Unruhe in das Spiel, das aufgrund der teilweise mit Figuren voll gestopften Clubs ohnehin nicht sehr übersichtlich ist. Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch dieses Chaos und der Weg zum Ziel samt Flucht zum Auto zu den Herausforderungen gehört - deshalb lohnt es sich ja auch, Mauern mit einem Schlag einzureißen.

Fazit

Was für ein bizarrer Trip! Falls ihr taktische Action, dystopische Szenarien und den isometrischen Stil der Bitmap Brothers mögt, wird euch All Walls Must Fall für knapp vier Stunden gut unterhalten. Ihr erlebt stylische pausierbare Gefechte, eine Art XCOM auf Speed mit cooler Zeitmanipulation. Zwar merkt man dem Spiel an, dass es von einem kleinen Studio kommt, denn vieles wiederholt sich sowohl in den Kulissen als auch Gesprächen, außerdem kann die Kamera nerven und es gibt so einige unlogische Situationen. Trotzdem sind die Dialog-Minispiele aber eine kurzweilige Alternative für friedliche Lösungen. Viel unterhaltsamer ist jedoch der blutige Weg, denn in der freien taktischen Action entfaltet dieses Spiel eine eigentümliche Sogkraft, zumal die filmischen Rückblicke nach einem Gefecht klasse aussehen. Auch wenn es einige monotone Abläufe gibt, entsteht unterm Strich ein angenehmer Flow. Das Berliner Team deutet kreative Potenziale an, die hoffentlich in weiteren Spielen sichtbar werden.

Pro

bizarres futuristisches Szenario
gut integrierte Zeitmanipulation
Kamera frei dreh- und zoombar
gelungenes Artdesign sorgt für Berlin-noir-Flair
taktische Gefechte mit Deckung & Co
gute Spielbalance dank Zeitwährung
sehr coole Zusammenfassungen der Gefechte
Waffen, Ausrüstung und Augmentationen kaufen
kurzweilige Dialog-Minispiele für friedliche Lösungen
KI reagiert auf Geräusche, ruft Verstärkung
teilweise zerstörbare Umgebung
prozedurale erstellte Level; optionaler Permadeath

Kontra

recht einseitige Missionsziele
abrupte Kameraschwenks, Übersicht suboptimal
einige unlogische Situationen
Nachtclubs gleichen sich zu sehr; kein West-Berlin
viele Klonfiguren und identische Portraits
teils robotische Animationen
Dialog-Minispiele mehr Trial&Error als Rhetorik
zu schnell gleiche Antworten in Dialogen
KI ohne generellen Alarm
Hacken automatisch erfolgreich, kein Minispiel
nur englische Texte

Wertung

PC

Was für ein bizarrer Trip! Ihr erlebt trotz einiger Defizite und Wiederholungen stylische pausierbare Gefechte, eine Art XCOM auf Speed mit cooler Zeitmanipulation.

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