Civilization 402.11.2005, Jörg Luibl
Civilization 4

Im Test:

In diesem Herbst fallen nicht nur die Blätter, sondern auch die Riesen: Black & White 2 und Age of Empires III können nicht halten, was ihr pompöser Auftritt verspricht. Beide begeistern an der glitzernden Oberfläche, beide ernüchtern schon wenige Mausklicks darunter. Wo ist der strategische Koloss, der nicht ins Wanken gerät? Wo bleibt der Retter der enterbten Spieltiefe? Hadert nicht - er ist schon da.

Fasziniert und eingekesselt

Wenn man den Shogun Tokugawa an seiner linken, und Zar Peter an seiner rechten Flanke spürt, gerät man als friedliebender Gandhi ins Schwitzen. Ich habe ihn und nicht Asoka als Staatsoberhaupt gewählt, weil er industriell

Am Anfang steht die Erkundung einer optimalen Lage für die Hauptstadt. Es gibt acht Geländetypen mit verschiedenen Eigenschaften und zig Rohstofe.
ausgerichtet ist und die Wunderproduktion beschleunigt. Meine Kultur ist stark, aber meine Armee ist schwach. Die Japaner bilden fleißig Samurais aus und fordern frech Tribute, die Russen meckern über meinen Hinduismus und lehnen den lukrativen Technologiehandel ab. Dass beide jetzt auch noch das Christentum verbindet, macht die Lage nicht einfacher: Ich werde als Heide beschimpft und verliere wertvolle Sympathiepunkte - numerisch ablesbar im Diplomatiefenster, durch das mich Zar Peter empört anblickt. Ihr könnt hier nachvollziehen, warum euer Gesprächspartner erfreut, verärgert oder vorsichtig ist: Handel, Geschenke, dieselbe Gesinnung und lange friedliche Beziehungen erhalten die Freundschaft.

Neben dieser ausgefeilten Diplomatie, dem Krieg und der Wirtschaft spielt erstmals auch die Religion eine große Rolle in Civilization IV . Wer als Erster eine bestimmte Technologie entwickelt, kann damit auch eine von sieben Religionen stiften: Für den Islam braucht es das Göttliche Recht, für das Judentum den Monotheismus, für den Buddhismus die Meditation. Das Team von Firaxis hat aus guten Gründen auf historische Rivalitäten oder theologische Eigenheiten verzichtet - alle Religionen gleichen sich, keine ist besser oder schlechter, nur die Bauwerke sehen anders aus.  Ihr könnt nicht nur Tempel und Klöster bauen, sondern auch Missionare ausbilden, die den Glauben in fremden Städten verbreiten. Außerdem locken sie Propheten an, die Schreine für Pilger errichten oder sich in der Stadt niederlassen, um ihre Entwicklung zu fördern. All das bringt Gold und Macht.

Gläubiger oder Freigeist?

Man kann zwar auch als atheistischer Freigeist mit anderen großen Persönlichkeiten wie Wissenschaftlern, Künstlern oder Ingenieuren militärisch, wirtschaftlich oder technologisch gewinnen, aber die Vorteile der Religion liegen im Kulturbereich: Sie steigert nicht nur die Zufriedenheit der Bewohner, sondern spült kräftig Kulturpunkte auf euer Konto - und zwar für jede bekehrte Stadt, egal ob im In- oder Ausland. Und da es in Civilization IV keine festen territorialen, sondern dynamische Einflussgrenzen gibt, die mit dem Kulturwert wachsen, kann man seine Nachbarn auch ohne Waffen geistig oder spirituell so beeindrucken, dass sie überlaufen.

Aber sowohl die Japaner als auch die Russen zeigen sich von meinem Hinduismus unbeeindruckt. Sie schließen sogar die Grenzen, so dass meine Missionare nicht in ihren Städten bekehren können und erklären mir beide den Krieg. Mein indisches Reich der Mitte wird an zwei Fronten aufgerieben. Nach wenigen Runden habe ich bereits vier kleine Städte verloren und bitte den Zaren und den Shogun um Frieden. Beide verlangen Technologien, aber ich schlage verzweifelt ein. Als nächstes werde ich ein Verteidigungsbündnis mit den Persern und Ägyptern schmieden - das sind auch Hindus. Vielleicht sieht die Lage ja dann genau so gut aus wie die neue 3D-Kulisse.

Brettspielflair & Weltraumzoom

Die dritte Dimension sorgt für einen herrlich freien Blick: Man zoomt sich vom Weltraum inklusive Erdkrümmung durch eine bewegte Wolkendecke in sein Reich, wo Flüsse plätschern, Bäume schwanken und Schlote rauchen. Die neue Technik

Damit es dazu nicht kommt, kann man entweder UN-Resolutionen gegen Atomwaffen einbringen oder kluge Bündnisse schließen.
zaubert zwar kein pompöses Bilderbuchpanorama à la Age of Empires III , aber eine überaus ansehnliche Oberfläche, die nichts von ihrem edlen Reiz verloren hat. Trotz allem Schnickschnack verströmt das Spiel immer noch sein unnachahmliches Brettspielflair - und das ist unheimlich wichtig. Konservative Veteranen können übrigens auch in einer Draufsicht samt eingeblendetem Gitternetz spielen.

Akustisch gibt man sich nur in Sachen Sprachausgabe etwas spartanisch: Schon der animierte Sid Meier führt euch schweigsam durch das Tutorial und auch die fremden Herrscher belassen es im Diplomatiebereich bei Mimik und Gestik. Die ist sogar charaktergebunden: Tokugawa ist eher ein aggressiver Hitzkopf, Friedrich der Große ein reservierter Fuchs mit kühlem Blick. Aber es gibt auch Gesprochenes: Schauspieler Thomas Fritsch leiht seine aus Ice Age und Steamboy bekannte Stimme allen Zitaten, die erstmals bei neuen Entwicklungen verlautbart werden - vor allem in den ersten Partien ein motivierendes Stilmittel. Last but not least wäre da noch der wunderbare Soundtrack, der euch im Menü begrüßt und an die musikalische Wucht von König der Löwen erinnert.             

Wald der Möglichkeiten

Die neue Religion ist nur eine Facette innerhalb eines ungeheuer komplexen Spiels. Dass man diesmal auf Kleinigkeiten wie die Umweltverschmutzung verzichtet hat, fällt da zunächst gar nicht auf. Civilization IV hat keinen Technologiebaum, sondern einen Technologiewald: Was mit dem Rad und der Jagd 4000 v.u.Z. anfängt, wird über mehrere

Ihr habt die Übersicht verloren oder wollt Details? Schlagt im interaktiven lexikon oder im üppigen Handbuch nach.
Zeitalter hinweg vom Kompass, der Währung, der Philosophie über das Schießpulver, die Dampfmaschine bis hin zu den Massenmedien und der Robotertechnik fortgeführt. Und jede einzelne Entwicklung gewährt euch wiederum andere Bauwerke und Boni. Jeder Schritt birgt neue Möglichkeiten, aber ist er auch der richtige? Immerhin werden die Bewohner unzufrieden, wenn es in der Stadt zu voll oder schmutzig ist. Außerdem muss man abwägen, ob man sein Gold in die Forschung, die Kultur oder die Armee steckt. Sid Meier höchstpersönlich hilft Einsteigern im guten Tutorial über die ersten Runden.

Schön ist, dass man als Neuling oder Schnellspieler nicht nur das Anlegen der Infrastruktur, sondern auch den Ausbau der Städte gezielt deligieren kann. Wer als Experte auf die Automatismen keine Lust hat, legt selbst Hand an die Stadtplanung und überwacht jeden Gebäudebau. Zahlreiche Statistiken, das interaktive Lexikon sowie sieben Berater für die Bereiche Inland, Finanzen, Staatsform, Ausland, Militär, Technologie und Religion helfen euch bei der Entscheidung. Leider werden diese Berater nicht mehr von animierten Porträts dargestellt, sondern als reine Übersichten mit Diagrammen und Tabellen, die nicht immer ganz überzeugen - einer der wenigen optischen Rückschritte gegenüber Civilization III . Dafür gibt es wieder die grandiosen Wunderfilme, die euch die Entstehung der Hängenden Gärten oder der Pyramiden vom Reißbrett bis in die animierte Wirklichkeit zeigen.

Im Gegensatz zum Vorgänger gestaltet sich das Fortschreiten innerhalb des Technologiewaldes wesentlich offener - es gibt quasi zig Pfade mit vielen Abzweigungen: Man muss z.B. nicht unbedingt Mystik, Meditation und Priestertum erforschen, wenn man die Vorteile der Gesetzgebung nutzen möchte, da als Alternative auch ein Weg über Rad, Keramik, Schrift und Währung möglich ist. Aber wer das Spiel meistern will, das schon auf dem vierten der knapp ein Dutzend Schwierigkeitsstufen die strategischen Gehirnzellen fordert, muss eines der achtzehn verfügbaren Völker klug entwickeln.

   

Spezialisierung zum Sieg

Man kann sein Volk wesentlich deutlicher auf eine Art und Weise formen und ist nicht zur Zwangserforschung verdammt. Diese Möglichkeit der freien Spezialisierung auf religiöse, wirtschaftliche, militärische oder kulturelle Errungenschaften ist die eigentliche Magie des Spiels. Viele Wege führen zum Ziel, und selbst das hat viele Gesichter: Man kann alle Völker besiegen, die Landmasse zu zwei Dritteln dominieren, die meisten Punkte haben, drei Städte von legendärem Ruf besitzen, diplomatisch als UN-Pazifist gewinnen oder als erstes Volk ins All düsen.

Gerade die letzten Jahrzehnte vor dem finalen Jahr 2050 entwickeln sich zu einem ungeheuer spannenden Wettlauf: Wer auf

Das UN-Gebäude ist einer der letzten Schritte Richtung diplomatischer Sieg. Schon vorher muss man sich viele Freunde machen...
den diplomatischen Sieg gespielt hat, muss um Wählerstimmen kämpfen und den anderen Völkern mit Geschenken, Verträgen oder Handel Honig um den Mund schmieren. Wer auf den technologischen Sieg gespielt hat, wird fieberhaft die letzten Teile für sein Raumschiff fertig stellen. Reicht die Zeit? Bricht etwa noch ein Krieg aus, der die Produktion gefährdet?

Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg, auf dem sowohl alte als auch neue Taktiken wirken: Man kann zwar immer noch über die schnell Expansion und den zügigen Städtebau eine ausgreifende territoriale Dominanz aufbauen, aber jetzt ist es auch möglich, mit einem kleinen, aber hoch entwickelten Zwergstaat erfolgreich zu sein.

Wo das Riesenreich auf wertvolle Luxusgüter und Rohstoffe setzt, kann das kleine Reich auf den konsequenten Kultur- oder Technologie-Ausbau setzen. Wer das geschickt anstellt, kann sich schwache Nachbarn auch ohne Waffengewalt einverleiben. Ihr wollt lieber mit den Säbeln rasseln? Auch kein Problem: Selbst der Krieg punktet in Civilization IV mit Vielfalt und Anspruch.         

Eldorado für Feldherren

Neben den Aufklärern gibt es neun militärische Waffengattungen: darunter Spezialisten für den Nah- und Fernkampf, für die Belagerung und Luftangriffe, für Seekriege und schnelle Überfälle. Jedes Volk führt noch Elitetruppen an, wie die chinesischen Armbrustschützen oder die persischen Krummsäbelexperten. Egal ob Axtkämpfer oder Panzer, Hubschrauber

Die Einflussgrenzen verschieben sich je nach Kulturwert dynamisch: So manches pompöse Bauwerk kann euch territoriale Gewinne bringen.

oder U-Boot, Bogenschütze oder Artillerie - wer lieber mit Feuer und Schwert statt Glaube, Fortschritt oder Kultur gewinnen will, darf sich zu Lande, zu Wasser und in der Luft austoben.

Und selbst hier zeigt Civilization IV Tiefe: Das blinde Anhäufen von Armeen bringt gar nichts. Wer erfolgreich erobern will, muss sowohl das Gelände als auch den Feind gut kennen. Verteidiger erhalten in Wäldern und Städten sowie hinter Flüssen große Boni, Bogenschützen sollte man nie auf einem Hügel attackieren und Truppen mit Speer oder Pike radieren die Kavallerie meist mit einem Schlag aus. Das Schere-Stein-Papier-Prinzip greift hier viel konsequenter als im Vorgänger, so dass die Kämpfe besser vorbereitet sein müssen. Sehr schön ist, dass eure Siegchance inklusive der Parameter vor einem Kampf angezeigt wird. Schade ist, dass das Truppenmanagement gerade ab dem Mittelalter etwas zu viele Klicks erfordert: Das Gruppieren und Modernisieren könnte komfortabler sein - in Civilization III gab es noch eine interaktive Militärübersicht, in der man Einheiten gezielt aufstufen konnte.

Gezielte Ausbildung

Neu und überaus motivierend ist dafür das Aufrüstsystem: Eure Truppen gewinnen an Erfahrung und ihr dürft sie bei jedem Aufstieg verstärken. Es gibt über drei Dutzend Upgrades, die eure Truppen gezielt für ein bestimmtes Gelände, einen Gegner oder eine Kampfweise fit machen. Wer seine Axtkrieger z.B. mit "Kampf I + II", "Waldkampf I" sowie "Formation" geschult hat, wird selbst gegen eine Übermacht von Reitern bestehen, wenn er sich zwischen Bäumen verschanzt.

Dieses System animiert vor allem in der Startphase dazu, seine Truppen nicht sinnlos zu verheizen, sondern zu schulen. Schon das erste Erforschen der Karte ist gefährlicher als im Vorgänger: Barbaren stromern nicht nur herum, sondern bauen diesmal eigene Städte, die zu bedrohlicher Größe anwachsen können. Damit gibt es auch außerhalb des Ränkespiels der großen Nationen einen größeren Unsicherheitsfaktor. Die Barbaren attackieren wie gehabt auch eure Siedlungen. Schön ist, dass im Fall der Verteidigung einer Stadt automatisch die Einheit gewählt wird, die von allen die besten Chancen hat.

Mehrspieler & Editor

Was damals noch mit einem Add-On nachgeliefert werden musste, ist jetzt von Anfang an dabei: ein umfangreiches Mehrspielerangebot. Ihr könnt per Hotseat an einem Bildschirm, per E-Mail oder über LAN, direkte IP-Verbindung sowie über das Internet spielen. Die Auswahl der Spielmodi und Siegbedingungen lässt keine Wünsche offen: Man kann um die komplette Eroberung, um Punkte, um Kultur, auf Zeit, um eine Stadt oder eine beliebige Kombination an Zielen kämpfen. Man kann ein schnelles oder epische Partien austragen, simultan oder rundenbasiert spielen.

Die alten Wunderfilme erstrahlen in neuer Pracht und sorgen für episches Flair.
Der Editor lässt euch kinderleicht eigene Karten erschaffen. Und wer sich mit Skripten und XML auskennt, darf noch tiefer eingreifen: Ihr könnt z.B. Texte von Herrschern gezielt euren Wünschen anpassen oder gar Ereignisse wie Kriegserklärungen oder Katastrophen mit Feldern verknüpfen. Das Team von Firaxis verspricht für Anfang 2006 sogar ein Tool, mit dem ihr die KI sowie das komplette Grundgerüst von Civilization IV manipulieren könnt - sogar ein Rollenspiel oder ein Shooter soll dann möglich sein.

Obwohl das Spiel komplett ins Deutsche übersetzt wurde, zeigen sich an einigen Stellen noch Platzhalter, Grammatikfehler und Lücken. Das sind zwar nur kleine Schönheitsfehler, aber hier sollte ein Patch möglichst bald für ein sauberes Schriftbild sorgen. Dafür entschädigt wiederum das umfangreiche Handbuch mit seinen knapp 200 Seiten: Es ist gut strukturiert, ergänzt das spielinterne Lexikon und erklärt z.B. vorbildlich, welche Auswirkungen die Schwierigkeitsgrade haben. Außerdem empfehle ich jedem Fan das engagierte Nachwort von Lead Designer Soren Johnson.

        

Fazit

Es gibt Spiele, die töten die Zeit. Ganz langsam, Minute für Minute, Stunde um Stunde. Sie fesseln nicht für ein paar Tage, sondern für Wochen und Monate. Allerdings brauchen sie dafür eine besonders mörderische Klinge, die nur noch selten im schnelllebigen Unterhaltungskrieg aufblitzt: Spieltiefe. Civilization IV benutzt sie meisterhaft, tanzt damit auch noch überaus ansehnlich und zieht mich mit jeder Runde unaufhaltsam in seinen strategischen Bann. Man spielt und spielt, probiert mal jene und mal jene Taktik, forciert die Religion oder die Technologie, feilscht verbissen mit Gandhi und Cäsar. Irgendwann schwindet der Schlaf, die Augenringe wachsen und man atmet nur noch Mausklicks. Kurzum: Dieses Spiel ist grandios. Danke, Sid Meier! Die Rechnung für die Familientherapie schick ich dann an Take 2...

Pro

edle Kulisse
klasse Musik
gutes Tutorial
komplett lokalisiert
unheimliche Spieltiefe
Civ-Nostalgie trotz 3D
herrlich offene Rundenstrategie
verbessertes Kampfsystem
umfangreiches Handbuch
alternative Staatsoberhäupter
mächtiger Weltenbau-Editor
hervorragende Ingame-Enzyklopädie
zahlreiche Multiplayer-Modi
neue Religion & Persönlichkeiten
nachvollziehbares Diplomatiesystem

Kontra

einige Übersetzungslücken
keine Sprachausgabe der Herrscher
zu viele Klicks im Truppen-Management

Wertung

PC

Dieses Spiel ist grandios. Danke, Sid Meier!

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