Darwinia02.03.2005, Jörg Luibl
Darwinia

Im Test:

Kann man die alte Faszination von Space Invaders, Tron und Defender in einem 3D-Strategiespiel neu entfachen? Kann ein vierköpfiges Team heutzutage den Spielspaß von Mammutprojekten toppen? Kann man ein Genre überhaupt revolutionieren? Gibt es in dieser Branche noch Geniestreiche? Ja. Erneut Ja. Noch mal Ja. Und schließlich Ja. Wir wurden überrascht, überzeugt und erfrischt!

Britisches Märchen?

Es war einmal eine arme Familie namens Introversion Software. Sie lebte im nebligen England, inmitten der grünen Wanderhügel von Surrey. Ganz abgeschieden vom Rest der bösen Spielewelt arbeitete sie fleißig an ihrem Traum: einem fein geschliffenen Edelstein, der weltweit verzaubern solle.

Lust auf bewegte Bilder oder ein Probespiel? Bitte sehr:

Download: Trailer #1 (40,4 MB)

Download: Demo 1.1 (10,8 MB)Im Oktober 2001 blitzte ihr handwerkliches Können zum ersten Mal auf: Uplink erhielt auf der Insel zahlreiche Auszeichnungen und gilt noch heute als einer der wenigen Underground-Hits für PC und Mac.

Aber das war nur ein kleiner Schritt, der längst vergessen ist. Darwinia (ab 5,95€ bei kaufen) ist jedoch ein kleiner Meilenstein - wenn man ihn aus Innovation, Kreativität und Design meißeln möchte. Über drei Jahre hat das vierköpfige Team an diesem Arcade-Strategiejuwel gefeilt, das euch mit einem nostalgischen Wind in eine bizarre digitale Welt trägt. Noch hat sich kein deutscher Publisher gefunden. Aber das dürfte nicht mehr lange dauern: Märchen enden immer gut. Unser Test sogar sehr gut.

Da ist die Welt noch Ordnung: Glückliche Darwinier-Sprites genießen den Platz auf der Festplatte...
Sepulvedas Revenge

Worum geht`s? Ein britischer Wissenschaftler namens Dr. Sepulveda hat zunächst erfolgreich Heim-PCs gebaut. Aber mit den tollen Verkäufen kam der Übermut: Der Nachfolger floppte, barg Fehler und seine Firma ging Konkurs. Doch der Ehrgeiz ließ den Doktor nicht los: Er wollte digitales Leben schaffen. Also vernetzte er 10.0000 Prozessoren zu einem Quantum-Computer, ließ eine Welt zwischen Bits und Bytes entstehen und das Gesetz des Stärkeren walten: Schwache Programme starben, starke setzten sich durch - die Welt von Darwinia war geboren. Hier tummelten sich fröhliche grüne 2D-Sprites und vermehrten sich. Aber irgendwie hatte sich wieder ein Fehler eingeschlichen. Und der duplizierte sich rasend schnell…

Zugegeben: Diese Hintergründe liefert Darwinia leider nicht von Beginn an über ein Intro, sondern in Häppchen über Porträt-Einblendungen des Doktors. Direkte Kommunikation ist zwar lobenswert, aber erzählerisch wäre hier weitaus mehr drin gewesen, um dem Einstieg ein besseres Fundament zu geben. Hier schließt sich auch das Tutorial an, das über spröde Befehlszeilen zwar klare, aber nur bruchstückhafte Anweisungen gibt - Einsteiger werden vielleicht überfordert, Kenner suhlen sich in der Faszination des Fremden.           

Welt zwischen Sprites & Bytes

Auch der einzigartige Grafikstil wird spalten. Was sieht man? Die Welt erinnert mit ihren tiefen Schluchten und steilen Bergketten zunächst an die Topographie von Perimeter. Nach einem halben Dutzend hilfloser Kameraschwenks und prüfender Zooms ist klar: Darwinia pfeift allen Trends

Texturpracht? Nein, die gibt`s nicht. Aber dafür eine enorme Sichtweite und einmaligen Stil.
spottend auf eine protzige Highend-Kulisse. Anti-Aliasing? Environmental Mapping? Aufwändige Texturen? Fehlanzeige. Hier ist die Kante sexy, das Verwaschene Trumpf. Einzig mit der Sichtweite und dem grandiosen Herauszoomen kann Darwinia protzen: Man kann den Mikrokosmos fast aus Space Shuttle-Perspektive betrachten.

Aber trotz der schroffen Gitternetzkulisse wuselt und leuchtet es an allen Ecken und Enden, gibt es idyllische Fleckchen: Vor allem die gleißenden Lichteinfälle sorgen für Stimmung in der Datenwelt. Kann man die die Präsentation der Story noch als bescheiden kritisieren, zeigt sich die der Kulisse als avantgardistischer Nostalgie-Trip. Dieses Gefühl wird auch vom emulierten 8-Bit-Sound getragen: Introversion hat bewusst auf diese Hommage an die 80er gesetzt, um euch zurück in die Arcade-Zeiten zu beamen. Trotzdem werdet ihr moderne Surround-Effekte in Dolby Digital wie Echos und Hallen hören.

Korruptes digitales Leben

In Darwinia dreht sich alles um die Bedrohung durch Viren. Eure Aufgabe ist es, Dr. Sepulveda bei der Vernichtung der roten Seuche zu helfen. Der Mann muss mit ansehen, wie sein Lebenswerk von einem wuchernden Krebsgeschwür bedroht wird. Nur, wenn ihr die lebenswichtigen Adern und Strukturen sichert, lässt sich die Selbstzerstörung des Systems aufhalten.

Die kleinen grünen Darwinier-Sprites sind der Schlüssel dazu: Nur sie können Minen, Stromgeneratoren oder Solartürme bedienen, damit die Energie fließt. Dazu müsst ihr sie geschickt durch gefährliche Regionen leiten, sie mit militärischen Einheiten beschützen oder per Radarstrahl über Datenmeere zu anderen Ufern tragen. Und genau hier fasziniert das Spiel auf eine geheimnisvolle Art, wie sie schon frühe Molyneux-Titel wie Populous auszeichnete.

Wie ensteht eine kampfkräftige Truppe? Man malt ein Dreieck...
Herrlich freie Steuerung

Ihr reist per Hand und Maus in dieses Krisengebiet und müsst eine Insel nach der anderen befreien - quasi als Anti-Viren-Programm in Ego-Perspektive: Die Kamera lässt sich frei schwenken und per Mausraddruck auf einzelne Punkte zoomen. Während ihr eure Squads mit einfachen Klicks durch die Landschaft manövriert, könnt ihr mit der rechten Maustaste nahende Viren mit Lasern beschießen und gleichzeitig mit der linken eine Granate bzw. Rakete zünden. Diese Steuerung erinnert an Amiga-Klassiker wie Cannon Fodder oder Syndicate.

Das Schöne ist: Weder Icons noch eine Menüleiste stören die Jagd, denn alle Befehle und Ziele werden per Druck auf die Alt-Taste mit der Maus ins Bild geschoben. Was zunächst wie eine spartanische Beschränkung anmutet, entpuppt sich schnell als sehr nützliche Methode: Statt überfrachteter Menüleisten und Informationswust steht hier der Kern im Mittelpunkt: das Spiel. Und schließlich entstehen neue Einheiten nur, wenn ihr mit der Maus ein entsprechendes Symbol zeichnet - ähnlich wie in Black&White oder Arx Fatalis. Etwas gewöhnungsbedürftig ist zwar das Fehlen von Gruppenbildungen, aber ihr könnt bequem zwischen den Einheiten hin und her springen.

        

Kampf dem Virus

Wenn die roten Würmer auftauchen, fühlt man sich auf charmante Weise an Centipede erinnert: Mit dem Laser könnt ihr die heranrollenden Gliedmaßen Stück für Stück dezimieren - wie in alten Arcade-Zeiten. Sollte es mal ganz brenzlig werden, dürft ihr auch einen Punkt für den Luftangriff markieren:

Aus diesem Tor kamen rote Darwinier: Aggressive Burschen, die eure Geschütze kapern!
ein paar Sekunden später erscheinen die hufeisenförmigen 3D-Brüder der Space Invaders und stricken einen vernichtenden Bombenteppich.

Obwohl der Laser glüht, muss man klug und überlegt vorgehen. Der Virus wird mit der Zeit immer hartnäckiger und setzt sogar Katapulte ein, um unselige Eier in bereits gesäuberte Gebiete zu werfen. Wer die Saat nicht rechtzeitig ausmerzt, wird bald von schlüpfenden Würmern und Insekten angegriffen. Also heißt es: Mit einer Squad rüber, den Urheber sichten und schnell eliminieren.

Jeder Gegner zeigt zudem klare Verhaltensmuster, die eine spezielle Taktik und Waffe verlangen. Da wären z.B. die Spinnen: Wenn sie euch wittern, machen sie einen großen Sprung und können auf einen Schlag eure gesamte Truppe fressen - Laser sind machtlos, Luftangriffe zu langsam. Was tun? Hier müsst ihr im richtigen Moment weit genug ausweichen und der Spinne kurz nach ihrer Landung eine Rakete oder Granaten servieren. Oder nehmen wir die Ameisen, die zwar klein und schwach sind, euch aber gnadenlos überrennen, wenn ihr sie in der Nähe ihrer turmähnlichen Bauten attackiert. Darwinia verlangt sowohl Reaktionsschnelligkeit als auch die Ruhe der Übersicht, es vereint intensive Action mit kluger Taktik und schafft damit fast ein neues Genre: Arcade-Strategie.

Auf diesem Radarstrahl können eure Darwinier zur benachbarten Insel reisen.
Nach der Zerstörung der Viren bleiben rötlich schimmernde Seelen übrig, die wiederum eure Techniker einsammeln und zu Transformatoren bringen - den Brutkästen eurer grünen Bevölkerung. Hier werden aus kranken Viren wieder gesunde Bewohner. Wer ein Auge für das Gelände und die Zentren des Virus hat, kann auch ohne zeitaufwändige Kämpfe vorwärts kommen: Was machen, wenn die Inselmitte angesichts hunderter Viren rot glüht? Ganz einfach: Wenn man z.B. mehrere Offiziere hintereinander aufbaut und ihre Richtungsbefehle am Rand der Insel verknüpft, kann man eine verkettete Route bauen, auf der die Darwinier ohne Feindkontakt zum Ziel gelangen. Das erinnert an Lemminge? Ja, genau so sieht es aus, wenn die kleinen grünen Männchen von A nach B wandern. Und genau so wie beim Klassiker hat man auch hier ständig Angst, dass ihnen etwas passieren könnte. Dieses Babysitting hat jedoch den Nachteil, dass man aufgrund der indirekten Kontrolle schon mal vereinzelt nachhelfen muss.

         

Zerfurchte Landschaft

Überall gibt es Schluchten, Berge, Täler und versprengte Inseln. Diese zerfurchte Topographie ist spielerisch enorm wichtig: Erstens brauchen eure Einheiten wesentlich länger, wenn sie steile Anhöhen überwinden müssen - das kann sogar so weit führen, dass die Darwinier abstürzen. Zweitens kann

Action zu Boden und in der Luft: Der Virus tobt überall. Unsere Laser brechen erste Nischen auf...
man abschüssige Hügel nutzen, um Granaten hinunter rollen zu lassen oder ein weiteres Schussfeld zu haben. Die Landschaft lässt sich gut in die taktische Planung einbinden, denn von oben kämpft es sich wesentlich leichter. Aber Vorsicht: Wer vor einer Steilwand zur Granate oder Rakete greift, sollte schleunigst das Weite suchen, denn eure Squads können sich auch selbst vernichten.

Aber selbst solche ungewollten Suizidsprengungen bergen kein Frustpotenzial. Das liegt daran, dass ihr ohne Rohstoffangst frei Einheiten produzieren könnt - sie gewinnen keine Erfahrung, können frei repliziert werden und sind nur in der Anzahl begrenzt. Aber auch ohne Levelaufstieg der Einheiten gibt es motivierende Entwicklungen: Dr. Sepulveda hilft euch nämlich ständig, seine Programme à la Tron 2.0 auf neue Versionsnummern zu bringen. Ihr entscheidet, um welche Technik er sich als nächstes kümmern soll und könnt so die taktische Richtung vorgeben: Lieber gleich alles auf Zerstörungskraft setzen? Oder die Offiziere weiterbilden? So ein Update kann z.B. bedeuten, dass eure Squads an Mannschaftsstärke zulegen, dass eure Granaten weiter fliegen oder dass eure Arbeiterdrohnen mehr Seelen schleppen.

Fordernd, aber fair!

Das Faszinierende an Darwinia ist, dass man trotz all der Hektik und Action strategisch vorgehen muss, dass man sich den Umständen anpassen muss. Die Entwickler verlangen nicht den totalen Krieg von euch, sondern setzen sehr abwechslungsreiche Ziele: Mal müsst ihr eine bestimmte Anzahl Darwinier retten, mal einen Stromkreis schließen, mal so schnell wie möglich Seelen sammeln oder eine Fabrik in Gang bringen. Und die Herausforderung wächst stetig: Spätestens, wenn die korrupten roten Darwinier aus den Toren strömen, wird`s brenzlig. Nicht nur, dass sie höchst aggressiv auf alles schießen, was sich bewegt: Sie erobern sogar gezielt eure Geschütztürme und kapern wichtige Stromgeneratoren.

Die Welt des vernetzten Supercomputers gewinnt immer mehr Konturen. Die Wahl der nächsten Insel bleibt euch überlassen.
Ab hier wird sich aber auch die Spreu vom Weizen trennen, denn der Schwierigkeitsgrad zieht an. Echte Feldherren werden mit der Zunge schnalzen, denn ab jetzt heißt es: Ausfallrouten sichern, Routen besser planen, effektiver kämpfen. Und hier zeigt sich, dass die Steuerung ab und zu zickt: Gerade das Bemannen und Entladen der Panzer, die zu stationären Geschütztürmen mutieren können, läuft erst mit viel Übung flüssig.

Dafür wird man in einen ungeheuer intensiven Spielfluss hineingezogen: Nachschub wird nämlich direkt während des Kampfes produziert - meist sogar an Ort und Stelle des Angriffs. Während Feindwellen heranströmen, malt man sich verzweifelt neue Truppen aufs Feld. Aber selbst wenn man mal verliert oder überrollt wird, besteht kein Grund zum Ärger: Es gibt ein intelligentes Speichersystem, das Fortschritte sichert und euch immer erlaubt, zurückzuschlagen. Darwinia ist sehr fordernd, aber nie unfair.

       

Fazit

Act of War? Empire Earth 2? Verstaubt alles auf meinem Schreibtisch! Wieso? Weil ich Darwinia spiele - exzessiv, versunken, für Stunden. Es verlangt sowohl Reaktionsschnelligkeit als auch die Ruhe der Übersicht, es vereint intensive Action mit kluger Taktik und begründet damit fast ein neues Genre: Arcade-Strategie. Und das Verblüffende ist: Es wirkt zunächst so spartanisch, so einfach, so durchschaubar. Aber Mausfinger, Timing und Köpfchen müssen im harmonischen Terzett spielen, damit der Virus am Ende an Raum verliert. Darwinia ist auf charmante Weise nostalgisch, aber auch avantgardistisch: Es setzt auf Retro-Charme und weist mit seiner intuitiven Steuerung gleichzeitig in die Zukunft. Dem kleinen Team von Introversion ist ein ganz großer Wurf gelungen, der so manches Mammutprojekt in den Schatten stellt. Warum gibt es eigentlich noch keinen deutschen Publisher? Weil Mainstream vor Qualität geht? Mit dieser Perle könnte man sein Portfolio nur schmücken. Wie dem auch sei: Wer Darwinia erwerben will, kann das ab 4. März für 39.99 Euro auch über die offizielle Webseite .

Pro

intuitive Steuerung
kein lästiges Interface
Action meets Strategie
komfortables Speichern
sehr dichte Soundkulisse
herrlich bizarre Datenwelt
sehr wichtige Topographie
komplett neues Spielgefühl
bezaubernder Retro-Charme
abwechslungsreiche Aufgaben
motivierendes Upgrade-System
jeder Gegner verlangt andere Taktik

Kontra

ab und zu Einheiten-Babysitting
Steuerung der Geschützpanzer zickt
schwache Story & Tutorial-Präsentation

Wertung

PC

Bizarre, extrem stylische Echtzeitstrategie - absolut einzigartig.

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